Die ökonomische Entwicklung Italiens 1870 – 1913 und der Einfluss des Staates


Hausarbeit, 2009

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Problemaufriss

2. Vorbedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung Italiens
2.1. „Fare gli Italiani“ oder der Nord-Süd-Dualismus
2.2 Geographie

3. Wirtschaft und Wirtschaftspolitik

4. Analyse

5. Fazit

6. Literatur

1. Problemaufriss

In der vorliegenden Arbeit soll die verspätete Industrialisierung sowie die wirtschaftliche Entwicklung des ersten italienischen Nationalstaates in der Zeit zwischen 1870 und 1913 – also nach erfolgter Vervollständigung des Nationalstaates bis kurz vor den Beginn des ersten Weltkrieges – untersucht werden. Neben den rein ökonomischen Determinanten sollen jedoch insbesondere andere – politische - Faktoren Teil der Analyse sein.

Bei der Beurteilung der ökonomischen Entwicklung Italiens im 19. Jahrhundert gibt es die unterschiedlichsten Ansätze. Ältere Analysen etwa seitens Gerschenkron (1965) oder Romeo (1963) legen jedwedem modernen wirtschaftlichen Wachstum einen so genannten „big spurt“ als Ausgangspunkt zu Grunde. Während Gerschenkron diesen in der Gründung und Etablierung eines funktionierenden Bankwesens sowie den Zufluss von Investitionen und Krediten aus dem Deutschen Reich in den 1890er Jahren eintreten sieht1, argumentiert Romeo, dass er bereits in den 1880er Jahren stattgefunden hat und in Verbindung steht mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes sowie den langsam einsetzenden positiven Effekten der erfolgten Nationalstaatsgründung2. Dem gegenüber stehen die Hypothesen von Fenoaltea (2003), Cafagna (1989) sowie Bonelli (1979), die alle diesem Blickwinkel auf die wirtschaftliche Entwicklung Italiens widersprochen haben. Ihrer Meinung nach sind nicht kurzfristige Perioden entscheidend, sondern ihres Erachtens ist die dauerhafte Entwicklung eine Folge des Wechsels von mehreren Wachstumsphasen und darauf folgenden Phasen der Stagnation. Im Einzelnen haben Sie folgende Boom- bzw. Wachstumsphasen hervorgehoben: Zunächst, noch vor der Gründung des Nationalstaats 1861, die 1830er und 1840er Jahre, später dann die 1880er und im Anschluss die Boomphase der Ära Giolitti.3 Bei der Beurteilung dieser „wellenförmigen“ Entwicklung4 haben sich ebenfalls zwei unterschiedliche Denkmodelle herausgebildet. Einerseits vertreten sowohl Bonelli als auch Cafagna die These, dass die wirtschaftliche Entwicklung Italiens in enger Abhängigkeit von der Exportwirtschaft und damit vom Weltmarkt erfolgt ist.5 6 Demgegenüber erklärt Fenoaltea den Verlauf der ökonomischen Entwicklung an Hand der weltweiten Verfügbarkeit von Kapital und damit zusammenhängend die Möglichkeiten für ausländische Direktinvestitionen bzw. zur Kreditaufnahme für den jungen italienischen Nationalstaat.7 Eine Verknüpfung dieser unterschiedlichen Ansätze versuchen Richard Sylla und sein Kollege Gianni Toniolo.8 In ihrem Modell stimmen sie grundsätzlich mit Gerschenkron überein, dass es eines „big spurt“ bzw. „take-off“ bedarf und verorten diesen ebenfalls in den Zeitraum zwischen 1896 und 1908, verweisen jedoch auf die Bedeutung der 1880er Jahre und der dort erfolgten Änderungen im Bankensektor sowie der zunehmend protektionistischen Politik. Ihrem Modell nach, dem ich mich im Übrigen nachfolgend anschließen werde, entsteht Wirtschaftswachstum aus einem Dreiklang heraus: ausländische Direktinvestitionen in Verbindung mit privaten Investitionen (aus dem Inland heraus) und staatlichen Programmen erzeugen ein stabiles Wirtschaftswachstum.9

Diese Analysen und Denkmodelle fließen zwar auch in meine Überlegungen mit ein, entgegen den anderen Forschungsarbeiten in diesem Gebiet richtet sich mein Fokus jedoch auf die Rolle des Staates sowie ein besonderes Phänomen der italienischen Politik im 19. Jahrhundert, den „trasformismo“, der eng mit der Entwicklung Italiens aber auch der italienischen Ökonomie im Speziellen verflochten ist. Daran richten sich auch meine Hypothesen aus:

1. Die Industrialisierung Italiens erfolgte von „oben“, also durch den Staat.
2. Das Phänomen des „trasformismo“ erwies sich als politisches Problem, gleichzeitig jedoch auch als Glücksfall für die wirtschaftliche Entwicklung.
3. Je intensiver sich der „trasformismo“ durchsetze, desto stärker manifestierten sich die ökonomischen Disparitäten zwischen Nord- und Süditalien.

Zur Vorgehensweise: Zunächst ist es notwendig die wirtschaftlichen Determinanten und andere Bedingungen in den Vorgängerstaaten näher zu beleuchten und zu evaluieren. Dabei spielen insbesondere die Besonderheiten der Geographie sowie der bereits zuvor bestehende Nord-Süd-Dualismus eine entscheidende Rolle. In der Folge werde ich die Wirtschaftspolitik und die wirtschaftliche Entwicklung Italiens im benannten Zeitraum näher betrachten sowie den „trasformismo“ definieren und erläutern. Anschließend werde ich im eigentlichen Hauptteil meiner Arbeit die von mir aufgestellten Hypothesen prüfen und im Fazit entsprechende Schlussbetrachtungen anfügen. Zu beachten ist allerdings noch der begrenzte Rahmen der vorliegenden Arbeit, weshalb es unerlässlich ist die Vorbedingungen relativ kurz abzuhandeln, auch wenn mir bewusst ist, dass hier einige wichtige Punkte für die zukünftigen Entwicklungen zu finden sind. Diese versuche ich dementsprechend darzustellen.10

2. Vorbedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung Italiens

Um die wirtschaftliche Lage der jungen italienischen Nation beurteilen zu können, ist es notwendig sich zunächst die Vorbedingungen zu verdeutlichen. Dementsprechend stelle ich zunächst die divergierenden Entwicklungslinien zwischen Nord- und Süditalien in den Fokus der Betrachtung:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten 11

Die Industrialisierung Italiens erfolgte relativ spät und hatte große Schwierigkeiten sich gegen die traditionellen Produktionsmuster, die sog. „lavorazione casalinga“, durchzusetzen. Das Hauptproblem des jungen Staates war folglich seine Rückständigkeit.12 13 Dementsprechend lang und ermüdend war der Prozess der Industrialisierung, der zudem bei der Staatsgründung auch längst nicht abgeschlossen war.14 Eines der Hauptprobleme lag in der Finanzierung ökonomischer Vorhaben bzw. allgemein der Akkumulation von Kapital. Kapitalgesellschaften waren eine Ausnahme, die meisten Unternehmen beschäftigten lediglich eine Hand voll Mitarbeiter oder waren reine Familienbetriebe. Fabriken oder Manufakturen waren die Ausnahme, dementsprechend konnten Risikoinvestitionen nur durch Familienvermögen oder den Einsatz des eigenen Vermögens getätigt werden, während beispielsweise in Großbritannien, dem Mutterland der Industrialisierung sich längst eine gänzlich andere Investitionskultur durchgesetzt hatte.15 Italien hingegen war noch immer in erster Linie eine Agrarwirtschaft, insbesondere im Süden, in der die reiche Adels- und Bürgerschicht wenig Interesse an industrieller Entwicklung zeigte. Sie bevorzugte das Investment ihrer Renditen in Immobilien oder andere bleibende Werte wie etwa Grundbesitz.16

Zusätzlich zu der als „verspätet“ angesehen Nationenbildung und Reichsgründung 1861 verdeutlicht diese Gegenüberstellung die Problematik der sich die noch junge Nation gegenübersah und deren Folgen auch heute noch die italienische Wirtschaft nachhaltig beeinflussen. Es ergibt sich ein Strukturproblem, dass sich nicht allein auf den Bereich der Ökonomie beschränkt, sondern die gesamte Gesellschaft und ihre Einstellung gegenüber dem Staat und der Gemeinschaft beeinflusst.

2.1. „Fare gli italiani“ oder der Nord- Süd-Dualismus

Statt eines gemeinschaftlichen und friedlichen Einigungsprozesses erfolgte die italienische Nationenbildung mittels Gewalt. Auch wenn in vielen Landesteilen des neu zu schaffenden italienischen Staates Plebiszite abgehalten wurden, so ist die im März 1861 verabschiedete Verfassung17 18 formaljuristisch ein durch „Anschluß“ erweitertes Sardinien-Piemont.19 In der Folge wurden die piemontesischen Gesellschafts-, Verwaltungs- und Wirtschaftsstrukturen auf die anderen Landesteile angewandt20 und dadurch teils seit Jahrhunderten bestehende Strukturen zerstört. Der Grundstimmung innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Eliten, aber auch der Bevölkerung allgemein wurde dabei keinerlei Rechnung getragen.

[...]


1 Vgl. Gerschenkron, Economic backwardness in historical perspective.

2 Vgl. Romeo, Risorgimento e capitalismo.

3 Vgl. Federico, Agriculture and modern economic growth in Italy, S. 9 f.

4 Vgl. Zamagni, Introduzione alla storia economica d'Italia, S. 79.

5 Vgl. Cafagna, Dualismo e sviluppo nella storia d'Italia.

6 Vgl. Bonelli, Il capitalismo italiano.

7 Vgl. Fenoaltea, Notes on the rate of economic growth in Italy.

8 Vgl. Sylla, Patterns of European Industrialization.

9 Vgl. idem, S. 212.

10 Bezüglich der Fachliteratur: Da der Großteil der verwendeten Fachliteratur in italienischer oder englischer Sprache vorliegt, habe ich diese zur Verwendung selbst übersetzt.

11 Tabelle modifiziert nach Pohl, Italien dreigeteilt?, S. 152.

12 Vgl. Sylla, Patterns of European Industrialization, S. 211/ Vgl. Zamagni, Economic History, S. 31.

13 Der Begriff der „Rückständigkeit“ bzw. der „relativen Rückständigkeit“ wurde durch Alexander Gerschenkron geprägt und findet sich u.a. in: Gerschenkron, Economic backwardness in historical perspective, S. 44.

14 Vgl. Roverato, L'impresa come paradigma storico, S. 287.

15 Vgl. Roverato, L'impresa come paradigma storico, S. 287.

16 Vgl. idem, S. 288.

17 Zitiert nach Massimo D'Azeglio; in: Bär, Wirtschaftsstil, S. 70.

18 Das sog. Statuto.

19 Vgl. Reinhardt, Geschichte Italiens, S. 107.

20 Vgl. Ammon, Italien, S. 121.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Die ökonomische Entwicklung Italiens 1870 – 1913 und der Einfluss des Staates
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Interkulturelle Wirtschaftskommunikation)
Veranstaltung
HS Zielkultur Italien
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
22
Katalognummer
V138606
ISBN (eBook)
9783640476183
ISBN (Buch)
9783640475988
Dateigröße
486 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Italien, Wirtschaft, Wirtschaftspolitik, 19. Jahrhundert, wirtschaftliche Entwicklung, Staatsgründung, Trasformismo, Clientelismo, Transformismus, Giolitti, Ökonomie, Italia
Arbeit zitieren
Patrick Krippendorf (Autor:in), 2009, Die ökonomische Entwicklung Italiens 1870 – 1913 und der Einfluss des Staates, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138606

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