Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und unter dem Eindruck des Holocaust wurde es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer immer größer werdenden Zahl von Nationalstaaten zum Anliegen, schwere Verbrechen wie Völkermord, Massaker, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Mit der Gründung der United Nations (UN) im Jahr 1945 schien endlich eine diesem Zweck entsprechende Institution geschaffen. Erstmals in ihrer Geschichte einigte sich eine breite internationale Staatengemeinschaft darauf, schwere Verbrechen wie Völkermord, Massaker an der Zivilbevölkerung, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen nicht einfach hinzunehmen und Regierungen daran zu hindern, diese Verbrechen entweder selbst zu begehen oder sie auf ihrem Territorien zuzulassen.
Soweit die gute Absicht. Dass die UN trotz Resolutionen, Sanktionen und Blauhelmtruppen schwere Verbrechen an der Menschlichkeit oft gar nicht verhindern, ist eine bittere Tatsache. Völkermord, Massaker, Folter, Vergewaltigung und Menschenraub gehören zum Alltagsgeschäft marodierender Banden und selbsternannter Rebellenführer, und das vor allem auf dem afrikanischen Kontinent. Dass die Modernisierung und Humanisierung Afrikas zu scheitern droht, hat bisher aber nicht dazu geführt, die Idee einer erfolgreichen internationalen Konfliktbearbeitung ins Reich der Utopie zu verbannen, sondern zeigt lediglich, wie weit der globale Weg zu einer für alle verbindlichen Rechtsstaatlichkeit nach humanitären Prinzipien immer noch ist.
Der für die vorliegende Arbeit ausgewählte schwelende Konflikt zwischen der Rebellentruppe Lord’s Resistance Army (LRA) und der Regierung bzw. Armee von Uganda ist ein Beispiel dafür, wie selbst nach über zwanzig Jahren Gewalt und Terror an der Zivilbevölkerung erstens noch immer keine Lösung gefunden oder eine Beendigung des Konflikts bewirkt wurde und zweitens nach wie vor mit großer Anstrengung genau daran gearbeitet wird.
Wie aber kann das sein?
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Internationale Konfliktbearbeitung
1.1 Begriffliche Annäherung
1.2 Das Konfliktschema des Normal-Konflikts
1.3 Das Konfliktschema des disparaten Konflikts
1.4 Kulturkonflikt statt Interessenkonflikt?
1.5 Formen sozialen Handelns
1.6 Formen der Herrschaft
1.7 Perspektiven des disparaten Konflikts
1.8 Instrumente der Konfliktbearbeitung
2. Der International Criminal Court (ICC)
2.1 Einführung
2.2 Abkommen zur Verfolgung schwerer Verbrechen seit 1948
2.3 Hoffnungen und Befürchtungen
3. Der Norduganda-Konflikt
3.1 Überblick
3.2 Bemerkung zu Quellenlage
3.3 Uganda seit Beginn der Kolonialzeit
3.4 Aktuelle politische Lage
3.5 Der ugandische Weg der Vergebung
3.6 Frieden um jeden Preis: Das Zurücktreten des disparaten Konflikts
3.7 Frieden und Gerechtigkeit
Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Einleitung
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und unter dem Eindruck des Holocaust wurde es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer immer größer werdenden Zahl von Nationalstaaten zum Anliegen, schwere Verbrechen wie Völkermord, Massaker, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Mit der Gründung der United Nations (UN) im Jahr 1945 schien endlich eine diesem Zweck entsprechende Institution geschaffen. Erstmals in ihrer Geschichte einigte sich eine breite internationale Staatengemeinschaft darauf, schwere Verbrechen wie Völkermord, Massaker an der Zivilbevölkerung, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen nicht einfach hinzunehmen und Regierungen daran zu hindern, diese Verbrechen entweder selbst zu begehen oder sie auf ihrem Territorien zuzulassen.
Soweit die gute Absicht. Dass die UN trotz Resolutionen, Sanktionen und Blauhelmtruppen schwere Verbrechen an der Menschlichkeit oft gar nicht verhindern, ist eine bittere Tatsache. Völkermord, Massaker, Folter, Vergewaltigung und Menschenraub gehören zum Alltagsgeschäft marodierender Banden und selbsternannter Rebellenführer, und das vor allem auf dem afrikanischen Kontinent. Dass die Modernisierung und Humanisierung Afrikas zu scheitern droht, hat bisher aber nicht dazu geführt, die Idee einer erfolgreichen internationalen Konfliktbearbeitung ins Reich der Utopie zu verbannen, sondern zeigt lediglich, wie weit der globale Weg zu einer für alle verbindlichen Rechtsstaatlichkeit nach humanitären Prinzipien immer noch ist.
Der für die vorliegende Arbeit ausgewählte schwelende Konflikt zwischen der Rebellentruppe Lord’s Resistance Army (LRA) und der Regierung bzw. Armee von Uganda ist ein Beispiel dafür, wie selbst nach über zwanzig Jahren Gewalt und Terror an der Zivilbevölkerung erstens noch immer keine Lösung gefunden oder eine Beendigung des Konflikts bewirkt wurde und zweitens nach wie vor mit großer Anstrengung genau daran gearbeitet wird.
Wie aber kann das sein? Was macht einen lokal begrenzten, zunächst eher unbedeutenden Konflikt zu einem der weltweit grässlichsten Beispiele für die jahrzehntelange Duldung von Völkermord, Massaker, Folter, Vergewaltigung und Menschenraub? Wie lässt sich eine solche Entwicklung begreifen und beschreiben? Führt das theoretische Fundament, das die Soziologie und die Friedens- und Konfliktforschung erarbeitet haben, zu einem besseren Verständnis der zutiefst bizarren und verstörenden Ereignisse? Gibt es konkrete Hilfen für die Zeit nach Beendigung eines Konflikts, die in den betroffenen Regionen für eine Resozialisierung und Wiederherstellung der Ordnung sorgen können?
Mit der folgenden Arbeit versuche ich eine Antwort auf diese Fragen. Im ersten Kapitel breite ich zunächst das wissenschaftliche Instrumentarium aus, mit dem ich mich dem Konflikt nähern und zu einem besseren Verständnis beitragen möchte. Dann gehe ich auf die Perspektiven im vorliegenden Konflikt ein und schildere seine Bearbeitungsmöglichkeiten.
Im zweiten Kapitel beschreibe ich die Möglichkeiten und Grenzen des International Criminal Court (ICC), der sich der weltweiten Strafverfolgung und Anklage all jener angenommen hat, die schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt werden.
Im dritten Kapitel fasse ich die historische und aktuelle Situation in Uganda zusammen und übertrage die im ersten Kapitel gewonnenen Erkenntnisse darauf. Ich beschreibe das Spannungsverhältnis zwischen ICC und traditionellen ugandischen Formen der Konfliktbearbeitung und versuche, das (nicht nur in Uganda bestehende) Dilemma zwischen den Normen eines internationalen Rechtssystems, des staatlichen Rechtssystems und den lokalen Strategien zur Bearbeitung von Konflikten herauszuarbeiten.
1. Internationale Konfliktbearbeitung
1.1 Begriffliche Annäherung
Wie lassen sich Konflikte beschreiben? Welche Ansätze liefern die Soziologie und die Friedens- und Konfliktforschung, um über Konflikte nachzudenken und sich ihre Eigenart bewusster zu machen? Wie lässt sich dieses Denken auf das in dieser Arbeit behandelte Szenario des Grauens übertragen?
Ich habe im Rahmen dieser Arbeit versucht, einige für meine Fragestellung brauchbare theoretische Ansätze zusammenzutragen. Dabei wurde sehr schnell deutlich, dass es wenig sinnvoll wäre, die vorliegende Problematik unter der Perspektive eines einzigen wissenschaftlichen Ansatzes zu betrachten. Wie sich noch zeigen wird, liegen so viele Besonderheiten vor, dass es angemessen erscheint, multiperspektivisch vorzugehen, also den Reichtum an soziologischen Theorien möglichst frei auszuschöpfen, ohne mich auf ein bestimmtes Erklärungsmuster festzulegen.
So ist etwa der systemtheoretische Ansatz, dass Konflikte der normale und erwartbare Aggregatszustand zwischen zwei Sinnsystemen sind, die sich wie von selbst immer wieder neu reproduzieren und damit verselbstständigen, insofern hilfreich, als er die prinzipielle Unabschließbarkeit der hier behandelten Problematik betont und letztlich hinnehmbar macht. Wenn es stimmt, dass ein mühsam erzielter Konsens lediglich die Komplexität der Verhältnisse reduziert und gerade dadurch der nächste Konflikt schon vorprogrammiert ist,[1] dann könnte es sein, dass im vorliegenden Fall eine Konfliktlösung im Sinne eines ausgewogenen Kompromisses gar nicht anzustreben wäre, sondern schon eine Beendigung des Konflikts auch und sogar ohne ausgleichende Gerechtigkeit einen großen Fortschritt darstellen würde.[2]
Wenn Konflikte wie der vorliegende nicht lösbar sind, sondern man sie nur um beinahe jeden Preis beenden will, was passiert dann nach ihrer Beendigung? Liegt ein friedliches Nebeneinander, nach allem, was geschehen ist, überhaupt im Bereich des Möglichen? Bedarf es, um nicht in „gewaltsamen Dauerkonflikten zu versinken oder in den Hobbesschen Naturzustand eines Krieges aller mit allen zurückzufallen“, tatsächlich nur „eines grundsätzlichen Einverständnisses über die Koexistenz prinzipiell nicht überwindbarer Meinungs- und Interessenvielfalt“?[3]
Ich möchte auf diese Fragen im dritten Teil meiner Arbeit zurückkommen und im nächsten Abschnitt zunächst auf eine Voraussetzung des Konfliktbegriffs aufmerksam machen, die auf die hier vorliegende Problematik ebenso wenig zu passen scheint wie die gerade angedachte Vorstellung, die Beteiligten des Konflikts könnten auf der Basis eines „grundsätzlichen Einverständnisses“ wie früher und friedlich nebeneinander herleben.
1.2 Das Konfliktschema des Normal-Konflikts
Gemäß der landläufigen Überzeugung, dass zum Streiten immer zwei gehören, gehen viele Theoretiker davon aus, dass sich zwischen den Konfliktparteien eine gut erkennbare Positionsdifferenz gebildet hat und nun jede Partei versucht, die von ihr angestrebten Ziele zu erreichen. In der marxistischen Theorie etwa bestimmt der sogenannte Klassengegensatz das Denken ihrer Akteure. Ihr Handeln ist von einem klar definierten Klasseninteresse geleitet und wird von den Beteiligten mit gleicher Verve ausgetragen. Das dazugehörige Bild wäre das des Tauziehens: An beiden Enden des Taus sind Kräfte am Werk. Man zieht an einem Strang, wenn auch in entgegengesetzter Richtung. Im Begriff des Konflikts schwingt mit, dass jede Partei ein bestimmtes Interesse hat und dies auf etwa gleicher Augenhöhe vertreten wird. Der eine will dies, der andere will das, nun geht es nur noch darum, worauf man sich einigen kann.
Ist den Konfliktparteien eine Einigung nicht möglich, vermittelt in der Regel eine von beiden Seiten respektierte Ordnungsmacht, also eine dritte Partei, schließt einen Kompromiss oder beendet den Konflikt ohne Einigung. Handelt es sich um einen gewalttätigen Konflikt, steht bei der Konfliktbearbeitung zunächst „der gegenseitige Verzicht auf individuelle Gewaltausübung“[4] im Vordergrund.
Was aber, wenn die Konfliktparteien so gut wie nie gegeneinander antreten? Was, wenn die eine Partei nur sporadisch auf die Attacken der anderen reagiert und wenig Interesse an der Austragung des Konflikts zeigt? Was, wenn die Grundannahme, dass zum Streiten immer zwei gehören, nicht zuzutreffen scheint?
Ich möchte an dieser Stelle den Begriff des disparaten Konflikts einführen und ein Konfliktschema skizzieren, das ich später auf den dritten Teil dieser Arbeit anwenden möchte. Meine Überlegung ist, dass bei einem disparaten Konflikt keine klar erkennbaren Positionen bestehen und die Konfliktparteien diskursiv gar nicht aneinander anschlussfähig sind. Dort, wo der Konflikt ausgetragen wird, agiert nur die eine Konfliktpartei. Die andere Konfliktpartei hält sich mehr oder weniger im Hintergrund. An sie wird allenfalls die Erwartung gestellt, Ordnung und öffentliche Sicherheit wieder herzustellen.
1.3 Das Konfliktschema des disparaten Konflikts
Konfliktpartei A hat sich als Rebellenarmee formiert. Ihr Vorgehen ist äußerst brutal, immer wieder kommt es zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Die Operationsbasis der Rebellenarmee ist eine weit von der Hauptstadt und vom politischen Zentrum des Landes entfernte Region. Ihre Ziele sind diffus: Mal geht es um den Sturz der Regierung, mal um die Schaffung eines christlich-fundamentalen Gottesstaates, dann wieder werden z.T. vernünftige politische Forderungen aufgestellt (vgl. auch S.11).
Konfliktpartei B besteht aus Regierung und Armee des Landes, die in einem relativ sicheren Landesteil lebt, ihre Ziele bereits erreicht hat und allenfalls ordnungspolitisch von Konfliktpartei A herausgefordert wird. Für Konfliktpartei B geht es um die Erhaltung des Status Quo, nicht um die aktive Verfolgung eigener Ziele, es sei denn, man rechnet die Erhaltung des Status Quo dazu. Konfliktpartei B versucht nur sporadisch und erfolglos, Konfliktpartei A unschädlich zu machen und die Ordnung wieder herzustellen.
Die eigentlich Leidtragenden lassen sich konflikttheoretisch nicht so recht beschreiben. Sie sind weder die Ursache des Konflikts noch Konfliktpartei, sondern lediglich ein zur falschen Zeit am falschen Ort lebendes Schädigungsobjekt, ein Begriff aus der Aggressionstheorie.[5] Allerdings setzt der Konfliktrahmen der Aggressionstheorie einen negativen äußeren Impuls wie etwa einen kranken Zahn, einen Stau auf der Autobahn oder eine erlittene Schmähung voraus. Es geht in der Aggressionstheorie um affektuelle Konflikte, was zwar zum hier skizzierten Konfliktschema passt, aber nicht richtig, denn Konfliktpartei A erleidet negative äußere Impulse allenfalls dann, wenn Konfliktpartei B auf den Plan tritt und in die Offensive geht. Für die Schädigungsobjekte ist ausschließlich Konfliktpartei A der Auslöser negativer Impulse. Laut Aggressionstheorie müssten es darum eigentlich die Schädigungsobjekte sein, die ihre Wut über erlittene Qualen und Demütigungen an Konfliktpartei A abreagieren, dies ist jedoch nicht der Fall.
Konflikttheoretisch erwartbar wäre an diesem Punkt die Gründung einer Anti-Rebellenarmee. Ansätze zu einer dritten Konfliktpartei, deren Aufgabe es wäre, Leib und Leben der Schädigungsobjekte zu schützen, hat es gegeben, jedoch wurden sie nach einer erneuten und noch brutaleren Serie von Massakern wieder aufgegeben. Das Schädigungsobjekt ist nun so verängstigt, dass es sich nicht weiter organisiert seine Interessen nicht vertritt. Es erwartet nur noch die Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit und ist sogar bereit, auf eine Bestrafung der Täter oder deren Verbannung aus der Gesellschaft zu verzichten.
Konfliktpartei B hat inzwischen verschiedene Abkommen getroffen, in deren Rahmen die von den Mitgliedern der Konfliktpartei A begangenen Verbrechen straffrei bleiben. Außerdem hat Konfliktpartei B eine übergeordnete Rechtsinstanz um Hilfe gebeten. Diese hat gefordert, wenigstens die Hauptverantwortlichen von Konfliktpartei A zur Rechenschaft zu ziehen. Aus Angst davor, dass der Konflikt nie zu einem Ende kommt, wird diese Forderung von kritisch beurteilt: Von den Schädigungsobjekten selbst, vor allem aber von den sich allmählich formierenden Sprechern der Schädigungsobjekte.
1.4 Kulturkonflikt statt Interessenkonflikt?
Die Zivilisierungstheorie des Sozialwissenschaftlers Dieter Senghaas zeigt einige Berührungspunkte zum hier vorliegenden Konfliktschema. Der Prozess der Moderne hat ebenso zum Verlust unhinterfragbarer Wahrheiten und Gewissheiten geführt wie zu einer nie dagewesenen Pluralisierung der Gesellschaft und zu einer wachsenden Selbstverantwortung der Individuen. Dies ruft zwangsläufig Konflikte hervor – was zu den Grundvoraussetzungen dafür gehört, dass das Projekt der Moderne überhaupt gelingen kann.
Vor diesem Hintergrund hat die Zivilisierungstheorie ein Konfliktverständnis erarbeitet, bei dem es nicht mehr primär um Interessenkonflikte geht, sondern um Identitätskonflikte. In Gesellschaften, die noch am Anfang der Moderne stehen, richten sich Modernisierungsprozesse „ein Stück weit immer auch gegen die eigene Tradition und bewirken den Umbau herkömmlicher Gesellschaften.“[6]
Modernisierung bedeutet Umbruch und Verunsicherung, und Kulturen, die einen tiefgreifenden Wandel durchmachen, geraten „oft in Konflikt mit sich selbst.“[7] Innerhalb einer Gesellschaft tun sich plötzlich Abgründe auf, weil sich ihre Mitglieder vor die Aufgabe gestellt sehen, sich darüber zu einigen, wie sie leben wollen, welche Wertvorstellungen sie teilen, welche Traditionen sie bewahren und welche sie über Bord werfen möchten. Nicht so sehr das Haben Wollen bestimmt die Tragweite des Konflikts (auch im hier beschriebenen Konflikt handelt es sich um alles andere als einen Verteilungskonflikt), sondern das Sein Wollen und vor allem das Sein Dürfen.
Im hier behandelten Fall entwickelt Konfliktpartei A in fanatischem Eifer einen Wertekodex, den sie ihren Mitgliedern und ihren Opfern mit brutaler Gewalt überstülpen will. Sie tritt insofern „in Konflikt mit sich selbst“, als sie vor allem die Angehörigen des eigenen Stammes mit Gewalt und Terror überzieht. Während im Rest des Landes, das zwar noch immer unter den Folgen jahrzehntelanger Kolonialisierung und Despotenherrschaft leidet, der Modernisierungsprozess längst begonnen hat, verharrt der von Konfliktpartei A dominierte Landesteil in Barbarei, Aberglauben und mittelalterlichem Exorzismus.
Doch auch die Diagnose „Kulturkonflikt“ ist nur ein Mosaikstein im Puzzle des vorliegenden Konfliktmusters. So gut wie alle Staaten, die unter dem enormen Modernisierungsdruck des 20. Jahrhunderts kulturelle Veränderungen und Traditionsbrüche erlebten, weisen die von Senghaas geschilderten Identitätskonflikte auf. Im Rahmen dieser Konflikte bleiben die Bewahrer der Tradition und die Anhänger des Fortschritts aber stets gut sichtbar und treten (wie das etwa im Iran der Fall ist) in täglichen kleinen Grenzüberschreitungen und den unweigerlich darauf folgenden Bestrafungsritualen gegeneinander an. Küssen im Park trotz Religionspolizei, Reizwäsche und Minirock unter dem Tschador sowie ein immer wieder aufkeimender ziviler Protest zeigen an, dass auch ein Kulturkonflikt nach dem Muster des Tauziehens verläuft, also zwei vitale Parteien unermüdlich versuchen, die Oberhand zu gewinnen oder sich doch wenigstens ihre kleinen Freiheiten nicht nehmen lassen wollen.
1.5 Formen sozialen Handelns
Hilfreich bei der Analyse auch disparater Konfliktmuster sind nach meiner Auffassung die „Bestimmungsgründe des sozialen Handelns“,[8] die Max Weber 1914 veröffentlicht hat. Danach ist soziales Handeln von Zweckrationalität, Wertrationalität, Emotion bzw. Affekten oder Tradition bestimmt. Nie in der Reinform, wie Weber ausdrücklich betont, aber doch erkennbar mit der einen oder anderen Gewichtung. Im vorliegenden Konfliktmuster sind alle vier Handlungslogiken vertreten, doch statt aufeinander zu prallen, laufen sie größtenteils aneinander vorbei – eine Beobachtung, die sich unter systemtheoretischer Perspektive als Nicht-Anschlussfähigkeit beschreiben ließe (vgl. auch S.5).
Das hier behandelte Konfliktmuster lässt sich auch deshalb gut mit der Systematik Webers beschreiben, weil er im Begriff des sozialen Handelns ausdrücklich auch Unterlassen und Dulden mit einschließt.[9] So ist also das bisher beobachtete Verhalten der Schädigungsobjekte genauso Teil sozialen Handelns wie das Handeln von Konfliktpartei A und B.
Konfliktpartei A präsentiert sich in ihrer Selbstdarstellung als wertrational, ihr Handeln ist aber durch Affekte geprägt, die diesen Werten diametral entgegenstehen. Man erhebt die Zehn Gebote zum obersten Wert, mordet aber ohne Unterlass, vergewaltigt die Frau seines Nächsten, verbrennt sein Hab und Gut. Fundamentalistische Wertrationalität ist aus zweckrationaler Sicht der Inbegriff des Irrationalen: „Wertrationalität (ist) immer, und zwar je mehr sie den Wert, an dem das Handeln orientiert wird, zum absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie ja um so weniger auf die Folgen des Handelns reflektiert, je unbedingter allein dessen Eigenwert (reine Gesinnung, Schönheit, absolute Güte, absolute Pflichtmäßigkeit) für sie in Betracht kommt.“[10]
Meist wird der Anführer von Konfliktpartei A als charismatischer Irrer dargestellt, es gibt jedoch auch zweckrationale Elemente im Repertoire der Konfliktpartei. So finden sich zum Beispiel politische Forderungen nach der Abhaltung freier Wahlen, dem Wiederaufbau der Wirtschaft und der Infrastruktur, Bildung für alle, Schaffung von Anreizen für ausländische Investoren, Schaffung einer ethnisch ausgewogenen Armee, Verbesserung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten, Unabhängigkeit der Rechtssprechung, nationale Einheit durch eine gemeinsame Sprache und Förderung stammesübergreifender Eheschließungen.[11]
Konfliktpartei B ist tendenziell eher der zweckrationalen Handlungslogik zuzuordnen. Absolute Zweckrationalität (genauso wie absolute Wertrationalität) ist laut Weber ohnehin nur ein „im wesentlichen konstruktiver Grenzfall“.[12] Auch Konfliktpartei B werden Hinrichtungen, Plünderungen und Vergewaltigungen vorgeworfen,[13] eine Überprüfung dieser Vorwürfe steht aber noch aus. Regierungschef und Armee handeln insofern zweckrational, als sie ihre eigenen Verluste möglichst gering halten und es ihnen gelingt, den Frieden im Rest des Landes zu erhalten. Dem Regierungschef könnte man unterstellen, seine Politik gegenüber den Rebellen entspreche einem machtpolitischen Kalkül: Weit entfernt vom sicheren politischen und ökonomischen Zentrum des Landes gibt es einen Konflikt und wüten die Barbaren, wovor nur diese Regierung und nur diese Armee die übrige Bevölkerung zu schützen in der Lage sind.[14]
[...]
[1] Bonacker, Thorsten 2004: Die Konflikttheorie der autopoetischen Systemtheorie, in:
Bonacker, Thorsten (Hrsg): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, Wiesbaden, S.267 ff.
[2] Spindler, Manuela 2004: Die Konflikttheorie des Neoinstitutionalismus, ebd. S.148.
[3] Imbusch, Peter 2004: Die Konflikttheorie der Zivilisierungstheorie, in: Bonacker, Thorsten (Hrsg): Sozialwissenschaftliche
Konflikttheorien, Wiesbaden, S.170.
[4] Bonacker, S. 38.
[5] Schmidt, Jeanette 2004: Die Konflikttheorie der Aggressionstheorie, in: Bonacker, Thorsten (Hrsg): Sozialwissenschaftliche
Konflikttheorien, Wiesbaden, S.509ff.
[6] Imbusch, S. 166.
[7] ebd., S. 166.
[8] Weber, Max 1972: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen, S. 11ff.
[9] ebd. S.11.
[10] ebd. S.13.
[11] Allen, Tim 2006: Trial Justice. The International Criminal Court and the Lord’s Resistance Army, London, S.43.
[12] Weber, S. 13.
[13] http://www.hrw.org/legacy/english/docs/2005/10/14/uganda11880_txt.htm
[14] Allen, S.48.
- Arbeit zitieren
- Jennifer Müller (Autor:in), 2009, Möglichkeiten und Grenzen Internationaler Konfliktbearbeitung in Norduganda am Beispiel des ICC, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138976
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