Die Entwicklung des ökonomischen Denkens und die wirtschaftspolitische Praxis in Großbritannien. Smith, Keynes, Thatcher und Blair


Magisterarbeit, 2008

94 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Grundzüge der vorklassischen bürgerlichen Ökonomie sowie ihre historischen und wirtschaftspolitischen Grundlagen
2.1 Schwerpunkte in der Herausbildung des ökonomischen Denkens bis zur Entstehung der klassischen Nationalökonomie
2.2 Gesellschaftspolitische Ereignisse im Entwicklungsprozess Großbritanniens
2.3 Der Strukturwandel in Großbritannien als Folge demographischer, volkswirtschaftlicher und technisch-technologischer Umwälzungen

3. Die Vollendung der bürgerlichen Ökonomie durch Adam Smith
3.1 Zu Person und Leben Smiths
3.2 Die schottische Aufklärung als bestimmender gesellschaftspolitischer Hintergrund
3.3 Zum Werk und Wirken des Moralphilosophen und Nationalökonomen Adam Smith
3.3.1 Über die Theorie der ethischen Gefühle
3.3.2 Über den Wohlstand der Nationen
3.4 Zur Bedeutung des Wohlstands der Nationen im Kontext vorangegangener und nachfolgender soziokultureller, ökonomischer und politischer Entwicklungen

4. Keynesianismus als Reaktion auf die ökonomischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
4.1 Zur Geschichte Großbritanniens im 19. Jahrhundert
4.2 Zu Person und Leben Keynes’
4.3 Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges und der Weltwirtschaftskrise als bestimmender gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Hintergrund
4.4 Zum Werk und Wirken John Maynard Keynes’
4.4.1 Über The Economic Consequences of the Peace
4.4.2 Über The General Theory of Employment, Interest and Money
4.5 Zur Bedeutung des Keynesianismus als volkswirtschaftlicher Paradigmenwechsel infolge des Ersten Weltkrieges und der Weltwirtschaftskrise

5. Die Ära Thatcher und die Aufkündigung des post-war consensus
5.1 Zu Person und Leben Thatchers
5.2 Gesellschaftspolitischer Hintergrund nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Amtsantritt Thatchers
5.3 Zu den wirtschafts- und sozialpolitischen Aspekten der Regierungstätigkeit Thatchers
5.4 Zur Bedeutung des Thatcherismus für Großbritannien

6. Tony Blair und der Third Way als Antwort auf das Erbe der Konservativen
6.1 Zu Person und Leben Blairs
6.2 Gesellschaftspolitischer Hintergrund und wirtschaftspolitisches Erbe der Konservativen
6.3 Zu den wirtschafts- und sozialpolitischen Aspekten der Regierungstätigkeit Blairs
6.4 Zur Bedeutung der Ära Blair für Großbritannien

7. Schlussbetrachtungen

8. Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Bevölkerungsentwicklung in England 1801-1851

Abbildung 2: Soziale Schichten um 1800

Abbildung 3: Anteil der Schichten am Volkseinkommen

Abbildung 4: Karikatur zur "invisible hand"

Abbildung 5: Wachstum Industrieproduktion 1870-1914

Abbildung 6: Jährliche Zunahme Exportrate 1870-1914

Abbildung 7: Kampagne der Konservativen "Labour Isn't Working"

Abbildung 8: Britischer Anteil am Weltexport von Industriegütern 1954-1975

Abbildung 9: Inflationsrate 1975-1987

Abbildung 10: Karikatur zur Beziehung Blair - Bush

Abbildung 11: Karikatur zur Verbindung Blair - Thatcher

1. Einleitung

Ziel dieser Magisterarbeit im Hauptfach Anglistik ist es, Zusammenhänge zwischen ausgewählten ökonomischen Epochen resp. Theorien und ihrer jeweiligen historischen gesellschaftspolitischen Widerspiegelung in der britischen Geschichte herzustellen.

Bei diesen Untersuchungen soll sich selektiv auf folgende vier wesentliche Abschnitte in der Entwicklung des spezifischen ökonomischen Denkens in Großbritannien mit ihren jeweiligen geistigen Repräsentanten konzentriert werden:

1. Die Vollendung der bürgerlichen Ökonomie durch Adam Smith (1723 - 1790),
2. Der Keynesianismus als Anpassung der ökonomischen Theoriensysteme an die Veränderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch John Maynard Keynes (1883 - 1946),
3. Der Thatcherismus als Aufkündigung des post-war consensus durch die britische Premierministerin Margaret Thatcher (von 1979 - 1990 im Amt),
4. New Labour und der Third Way unter dem britischen Premierminister Tony Blair (von 1997 - 2007 im Amt).

Die knappe Charakterisierung der bezeichneten ökonomischen Theorien bildet dabei lediglich den wirtschaftstheoretischen wie wirtschaftspraktischen Hintergrund ab, vor dem markante gesellschaftspolitische Erscheinungen und Veränderungen beleuchtet werden.

In diesem Zusammenhang werden z.B. solche Fragen bearbeitet, inwieweit die Entwicklung des ökonomischen Denkens nur als eine Abfolge neuer, voneinander unabhängiger Theorien oder eher als integrative Symbiose verschiedener Denkschulen und ihrer jeweiligen notwendigen staatlichgesellschaftlichen Voraussetzungen verstanden werden müssen.

Fragen dieser Art haben interdisziplinären Charakter, da sie historisch abhängige ökonomische, politische, soziale und kulturelle Aspekte berühren.

Beispielhaft werden folgende interessante Fragestellungen zitiert wie:

a) Welchen Einfluss hatte die schottische Aufklärung auf Adam Smith?
b) Weshalb gilt Keynes als Retter der Wirtschaft einer erlahmenden resp. erlahmten Großmacht?
c) Was machte die Politik der Eisernen Lady Margret Thatcher trotz ihrer bisweilen schmerzhaften Eingriffe in die Gesellschaftsstrukturen so populär?
d) Wie konnte es Tony Blair gelingen, die Labour Party wie auch die britische Gesellschaft „fit“ für ein neues Jahrhundert zu machen?

Methodisch werden zunächst wesentliche Bezüge zwischen den ausgewählten bestimmenden ökonomischen Theorien und den historisch relevanten gesellschaftspolitischen Ereignissen und Veränderungen hergestellt. Danach wird versucht, die Übergänge zum folgenden Entwicklungsabschnitt herzuleiten, zu begründen und zu gewichten.

Dabei ist es im vorgegebenen Rahmen nicht möglich, auf alle wirtschaftspolitischen Reformen einzugehen. Insbesondere in den Kapiteln zu Margaret Thatcher und Toby Blair wird sich auf ausgewählte Eckpunkte der Regierungsprogramme beschränkt.

Diese Magisterarbeit ist im Hauptfach Anglistik inhaltlich im Bereich „Kulturstudien Großbritanniens“ angelegt.

Das Ergebnis der Darlegungen versteht sich nicht primär als historischer Abriss des ökonomischen Denkens in ausgewählten Epochen. Vielmehr ist es Absicht, ökonomisch begründete Entwicklungen resp. Veränderungen in der politischen und soziokulturellen Geschichte Großbritanniens während definierter historischer Zeiträume herzustellen und zu bewerten.

2. Grundzüge der vorklassischen bürgerlichen Ökonomie sowie ihre historischen und wirtschaftspolitischen Grundlagen

Als zeitlicher Einstieg in den avisierten Periodenvergleich wird die Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Ökonomen und Moralphilosophen Adam Smith gewählt, da seine ökonomischen Theorien die entscheidende Zäsur für Wirtschaftstheorie und -praxis sowie gesellschaftliche Veränderungen in Großbritannien darstellten. Zum besseren Verständnis der damaligen historischen Situation erfolgt zunächst eine kurze Darstellung der Historie des ökonomischen Denkens einerseits sowie der Geschichte Großbritanniens andererseits.

Für die Darstellung der historischen Voraussetzungen und politisch- gesellschaftlichen Bedingungen wurden besonders die Arbeiten von Michael Maurer[1] sowie Heiner Haan[2] und Gottfried Niedhart[3] herangezogen. Maurer liefert in seinem Werk nicht nur einen fundierten Überblick über die britische Geschichte, sondern reichert diesen mit vielen Details an. Die besondere Leistung der Autoren Haan und Niedhart liegt vornehmlich in der Analyse der sozialen Gegebenheiten, erklä rt anhand von Statistiken und Vergleichen.

2.1 Schwerpunkte in der Herausbildung des ökonomischen Denkens bis zur Entstehung der klassischen Nationalökonomie

Obwohl die Ökonomie erst seit dem 19. Jahrhundert als Wissenschaft betrieben wird, existiert der ökonomische Gedanke bereits seit der Antike. Die Autoren Landreth[4] und Colander differenzieren bis zur Herausbildung der klassischen Nationalökonomie zwischen zwei Perioden des ökonomischen Denkens:

1. Die Frühe Vorklassische Periode (‚early preclassical period’) von 800 v. Chr. bis 1500, sowie die
2. Vorklassische Periode (‚precassical period’) von 1500 bis zur Veröffentlichung des Wohlstandes der Nationen 1776 (vgl. 26).

Die Wirtschaft des Altertums beruhte größtenteils auf landwirtschaftlicher Tätigkeit, doch existierten auch Handwerk und Handel. So sahen sich bereits die Menschen der Antike mit solch scheinbar modernen Themen wie Arbeitslosigkeit, Inflation und Wirtschaftsimperialismus konfrontiert.

Obgleich ein gesamtwirtschaftlicher Zusammenhang noch lange nicht erkannt wurde, gab es vereinzelt Abhandlungen philosophischer Natur zu ökonomischen Gegenständen, insbesondere durch griechische, chinesische und arabisch- islamische Gelehrte sowie Scholastiker unterschiedlicher Ausprägung. So untersuchte beispielsweise schon Aristoteles die Mechanismen des Warenaustausches und die damit verbundene Verwendung des Geldes. Landreth und Colander fassen die Bedeutung der frühen vorklassischen Periode wie folgt zusammen:

Chinese, Greek, Arab-Islamic, and scholastic thinkers did not pursue economics as a separate discipline; they were interested in much broader, more philosophical issues. And since the economic activity they observed during those early times was not organized into a market system as we know it, they concentrated not on the nature and meaning of a price system but on ethical questions concerning fairness, justice, and equity. However, their insights into certain economic phenomena provided a foundation for later writers (39).

Im Mittelalter beschränkte sich die Wirtschaft weiterhin auf die Landwirtschaft in den ländlichen Gebieten sowie Handel und Handwerk in den Städten. In den urbanen Gebieten kam es so zur Entstehung des Zunftwesens bzw. der Gilden. Weiterhin etablierten sich die großen Handelsgesellschaften, die nicht nur innerhalb des europäischen Kontinents, sondern auch global agierten. In Deutschland ist hier die Hanse als Vereinigung deutscher Kaufleute zu nennen, die vom 12. bis 17. Jahrhundert bestand. Die Deutsche Hanse machte es sich zum Ziel, die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der angeschlossenen Kaufleute zu vertreten und den Handel - vor allem im Ausland - zu sichern.

Auch England verfügte für den Zweck des Fernhandels über derartige Handelsgesellschaften. Hier ist besonders die Britische Ostindien-Kompanie (East India Company[5]) zu erwähnen, die am 31.12.1600 durch einen Freibrief der Königin Elizabeth ins Leben gerufen wurde. Sie erhielt so bis zu ihrer Auflösung am 01.01.1874 das Privileg für den gesamten Asienhandel.

Während sich der Handel also weltweit einer Expansion, Professionalisierung und Konsolidierung unterzog, entwickelten sich folgerichtig auch die Wirtschaftswissenschaften als geschlossenes System im Zuge der bürgerlichen Revolution im 17. Jahrhundert.

Die zwischen 1500 und 1750 dominierende Wirtschaftspolitik in den absolutistischen Staaten - besonders in England, Frankreich und Deutschland - war der Merkantilismus[6]. Ziel der merkantilistischen Staatsführung war es, die nationale Wirtschafts-, Handels- und Finanzkraft zu steigern und die Staatseinkünfte zu erhöhen. Die Eingriffe des Staates waren dabei durch Interventionismus und Dirigismus geprägt.

Der Fokus des englischen Merkantilismus lag auf der Expansion des Seehandels und der Kolonisation. Es kam zu einer Vielzahl von Regulativen um den Export zu fördern und den Import einzudämmen. Zu nennen sind solche Mittel wie Importzölle, Fördergelder für den Export, das Verbot des Rohstoffexportes und die sog. Navigation Acts von 1651. Dieses Jahrhundertgesetz, das unter Leitung Oliver Cromwells[7] verfasst wurde, diente der Begünstigung des englischen (See)Handels gegenüber der ausländischen Konkurrenz, vor allem den Niederlanden. Die Navigationsakte legten fest, dass bestimmte Waren wie Tabak oder Reis von den englischen Kolonisten nur in andere englische Kolonien oder in das Heimatland selbst exportiert werden durften. Außerdem wurde ausschließlich englischen Werften der Bau dieser Transportschiffe erlaubt. Diese Navigation Acts als Instrument des Merkantilismus legten das Fundament für den Aufstieg Englands zur führenden Seemacht. Die wirtschaftlichen Vorteile dieser Reglements zeigten sich im florierenden Schiffbau, einem stabilen Binnenmarkt in England, erweitert um die Märkte der Kolonien sowie moderaten Preisen für englische Güter. Die Navigationsakte sollten erst 200 Jahre später zugunsten des Freihandels abgeschafft werden.

Als Gegenbewegung zur merkantilistischen Wirtschaftspolitik gelten die sog.

Physiokraten um den Franzosen François Quesnay[8]. Dieser entwarf 1758 erstmals eine in sich schlüssige Wirtschaftstheorie. In seinem Werk Tableau Économique stellte er die Wirtschaft als Kreislauf dar. Im Gegensatz zu den Merkantilisten glaubten die Physiokraten an ein Naturrecht[9] und verfochten den Freihandel als Voraussetzung für gesellschaftlichen Wohlstand. Überdies sahen sie allein in der Landwirtschaft den einzig wahren Erzeuger von Vermögen, während dieses in Industrie und Handel nur zirkuliere. Nach Ansicht der Physiokraten produziert der Landarbeiter mehr als er zum Leben benötigt und in der Folge entsteht ein Überschuss. Die Grundrente sei demgemäß die einzige Form des Mehrwerts.

So unterschiedlich ihre wirtschaftspolitischen Ansichten auch sein mochten, trugen Physiokraten wie auch Merkantilisten erheblich zur Entwicklung des ökonomischen Denkens bei. Das wohl bedeutendste Ergebnis ihrer Theorien war die Erkenntnis, dass die Wirtschaft wissenschaftlich erforscht und erklärt werden kann und muss.

Landreth und Colander konstatieren hierzu:

The mercantilists and the physiocrats made useful contributions to economic theory, the most important of which was their recognition that the economy could be formally studied. At the same time, these writers developed an abstract technique by which to discover the laws that regulated the economy. They were the first model builders in economics; because economic theory is based on the abstract, model-building process, it is reasonable to regard the mercantilists and the physiocrats as the first economic theorists (65).

Während der Merkantilismus staatliche Intervention forcierte, plädierten die Physiokraten für einen laissez-faire-Stil.

Dieser Auffassung folgte auch der schottische Philosoph und Nationalökonom Adam Smith. Mit seinem 1776 erschienenen Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations konnte nun eine eigenständige Wirtschaftswissenschaft entstehen.

Adam Smith setzte sich intensiv mit den Lehren der vorangegangenen Schulen auseinander und lieferte erstmals einen Gesamtüberblick über die Komplexität der Ökonomie. Er wird einstimmig als Begründer der klassischen

Nationalökonomie angesehen und markiert die Wende von der Frühmoderne zur Moderne. So wie er von den Arbeiten der Merkantilisten und Physiokraten profitieren konnte, so sind und waren seine Analysen richtungweisend für alle nachfolgenden Ökonomen, wie ab Kapitel 3 ausgeführt werden soll.

2.2 Gesellschaftspolitische Ereignisse im Entwicklungsprozess Großbritanniens

Jegliche Wirtschaftstheorie im Allgemeinen und die Adam Smiths im Besonderen darf nicht isoliert von gesellschaftspolitischen Fragestellungen betrachtet werden, sondern muss in ein komplexes Verständnis von Gesellschaft und Politik eingebunden werden.

Für die Beschreibung der Entwicklung des Königreiches Großbritannien ist es sinnvoll mit dem Act of Union von 1707 als historischem Fixpunkt zu beginnen, der die staatliche Union von England und Schottland herbeiführte und das Königreich Großbritannien begründete.

Im Jahre 1702 starb König William III.[10] und seine Schwägerin Anne übernahm die Thronfolge. Ihre Regierungszeit (1702-1707) sollte fortan durch Kriege und kirchenpolitische Fragen bestimmt sein. Zwischen den Staaten Europas - allen voran England, Frankreich und Spanien - kam es immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen, die nicht nur die Beziehung der Staaten untereinander, sondern überdies in beträchtlichem Maße die Entwicklung des eigenen Landes beeinträchtigten. Diese Kämpfe nahmen starken Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Großbritanniens. Unmittelbare wirtschaftliche Folgen waren beispielsweise verschlechterte Handelsbeziehungen mit den Kontinentalländern und höhere Steuern im eigenen Land (vgl. Maurer:239).

England und Schottland waren zu dieser Zeit zwei durch Personalunion verbundene Länder unterschiedlicher Konfession. Ab 1706 drängte England das schottische Parlament mehr und mehr zu einer vollständigen Union beider Länder. Aus Befürchtungen vor (v.a. wirtschaftlichen) Nachteilen willigte Schottland ein und wurde durch den Act of Union 1707 mit England zum Königreich Großbritannien vereint. So war es England möglich, die protestantische Erbfolge gemäß dem Act of Settlement 1701 in beiden Ländern durchzusetzen und ein mögliches Bündnis Schottlands mit Frankreich zu verhindern. Schottland, zu der Zeit von Missernten und Hungersnöten geplagt, sah in der Union die Chance, insbesondere wirtschaftlich vom stärkeren England zu profitieren. Dabei wurde das englische Recht jedoch nicht auf Schottland übertragen. So blieben die Church of Scotland (Kirk) sowie die Bank of Scotland frei von direkter englischer Einflussnahme.

Der Act of Union ließ eine in Europa damals unikale Freihandelszone entstehen. Der Überseehandel, der bereits Mitte des 17. Jahrhunderts durch die Navigation Acts einen kräftigen Zuwachs notieren konnte, nahm nun weiter stetig zu (vgl. ebd.:244). Die Austauschbeziehungen des Ende des 17. Jahrhunderts begonnenen atlantischen Dreieckshandels zwischen Europa, Amerika und Afrika intensivierten sich und sollten bald durch die möglich gewordene Baumwollverarbeitung eine entscheidende Rolle im Take-off der Industrialisierung spielen (vgl. ebd.:261).

Die bereits 1694 gegründete Bank of England wurde zum wichtigsten Bankenzentrum. Eine ebenso bedeutende Rolle spielten die privaten Handelsgesellschaften. Das Zusammenwirken staatlicher Privilegien und privater Eigentümer ließ eine Interessengemeinschaft von Staat, Handel und Finanz entstehen. Als Folge prosperierte in den nachfolgenden Jahrzehnten die Wirtschaft und die außenpolitische Macht Englands nahm stetig zu (vgl. Haan & Niedhart:204).

Auf politischer Ebene war der Großteil der Bevölkerung des 17. und 18. Jahrhunderts in Whighs und Tories gespalten. Während die Whighs für eine Suprematie des Parlaments unter Beibehaltung der Monarchie eintraten, befürworteten die Tories die Erbmonarchie und königliche Prärogative[11] (vgl. Haan & Niedhart:205).

Mit dem Tod Annes im Jahre 1714 und der Thronbesteigung des Protestanten George I. aus dem Haus Hannover begann eine jahrzehntelange Regierungsperiode, die die Whigs dominierten.

Die im damaligen Gesellschaftssystem existenten sozialen Abstufungen spiegelten sich auch im Wahlrecht wider. So war dieses ein Privileg besitzender Schichten. Anfang des 18. Jahrhunderts waren nur 6% der Gesamtbevölkerung von England und Wales im Besitz des aktiven Wahlrechts (vgl. ebd.:209). Dabei ist zu erwähnen, dass es sich hier nur um männliche Erwachsene handelte, da Frauen erst ab 1928 ein Wahlrecht ab 21 Jahren gewährt wurde. Überdies wurde die Regierungsperiode des Parlaments von drei auf sieben Jahre verlängert und so die jahrzehntelange Whig-Herrschaft ermöglicht.

Im Jahre 1721 wurde der Whigh Robert Walpole (1676-1745) zum Ersten Lord des Schatzamtes (First Lord of the Treasury) und Vorsitzenden des Unterhauses ernannt. Während der langen Amtszeit (1715-1717 und 1721-1742) kam für diesen leitenden Minister die Bezeichnung Premierminister auf. Obwohl ihm die Formulierung der Politik insgesamt oblag, waren auch die beiden Secretaries of State von Bedeutung. Sie befassten sich mit allen außen- und innenpolitischen Fragen ausgenommen der Steuergesetzgebung (vgl. ebd.:207). Walpole strebte eine allgemeine Konsolidierung an, die sich insbesondere in der Ordnung der Staatsfinanzen, der Machtsicherung sowie der Friedenswahrung niederschlug. Weiterhin schuf er wirtschaftliche Anreize, indem er das Zollwesen vereinfachte und den Außenhandel erleichterte (vgl. ebd.:212).

Ebenso hatte Walpoles Politik die Eindämmung des Konfliktes mit Spanien zum Ziel. Jedoch stieß diese Friedenspolitik bei der Opposition wie auch bei Teilen der Whigs auf Ablehnung, sodass Walpole schließlich widerwillig einem Krieg mit Spanien zustimmte. Es ist zu erwähnen, dass die Auseinandersetzungen dabei nicht auf das Parlament beschränkt blieben, sondern sich auf die Öffentlichkeit ausweiteten. Durch den Druck dieser gelangten erstmals seit der Glorius Revolution wieder plebiszitäre Elemente in die Politik. Das Parlament sah dadurch seine Exklusivität gefährdet und es kam zu Unruhen in der politischen Elite des Landes. Diesen fiel letztlich auch Walpole zum Opfer und trat im Februar 1742 zurück (vgl. Haan & Niedhart:214).

Die Brüder Henry Pelham und Thomas Pelham-Holles folgten ihm nach, bis auch sie 1756 von William Pitt d.Ä. abgelöst wurden. Pitt fungierte unter den Premiers Devonshire (1756/57) und Newcastle (1757-61) als Secretary of State. Michael Maurer weist Pitt jedoch eine noch einflussreichere Rolle zu:

[…]; der Sache nach war Pitt jedoch der eigentliche Premierminister. Er vertrat politisch das Interesse der Kaufleute der City, eine aggressive Außenpolitik und koloniale Ansprüche Englands (282).

Das wirtschaftliche Wachstum Englands stets im Blick, scheute William Pitt nie vor militärischer Gewalt zurück und erzielte schließlich zusammen mit Newcastle im Siebenjährigen Krieg[12] (1756-63) nach anfänglichen Rückschlägen zahlreiche Erfolge. Seither gilt das Jahr 1759 als annus mirabilis der englischen Geschichte. Der Umschwung kam 1760 mit dem Tod Georges II. und der Machtübernahme durch George III. Der neue König vergab nun führende Ämter an Tories und wählte seinen Vertrauten John Stuart Bute als Premier. Da die Tory-Partei in dieser Zeit kaum mehr existent war, stützte sich George III. jedoch nicht auf diese, sondern etablierte einen Kreis ausgewählter loyaler Männer um sich, die als The King’s Friends bezeichnet wurden (vgl. ebd.:298).

Vor allem innenpolitisch kam es im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu Veränderungen. Die politische Nation war in drei Lager gespalten. Einerseits war da das Königshaus, das versuchte seinen Handlungsspielraum weiter auszuschöpfen, andererseits geriet die Adels- und Besitzbürgerschaft zunehmend unter Druck. Dieser wurde besonders durch die dritte Gruppe - den sog. radicals - generiert. Als radicals bezeichnete man den Teil der breiten Masse, der nun zunehmend politische Partizipation und Reformen verlangte. Einer der berühmtesten radicals war John Wilkes, der 1762 zum Ausdruck seiner Ablehnung Butes die kritische Zeitschrift The North Briton gründete (vgl. Haan & Niedhart:231).

Das Verlangen des Mobs nach Parlamentsreformen führte zu sozialen Spannungen, die sich beispielsweise 1768 in anhaltenden gewaltsamen Tumulten in London äußerten. Dennoch handelte es sich um eine vornehmlich friedliche Bewegung, deren Ziel von Haan und Niedhart wie folgt beschrieben wird:

[…] Worum es eigentlich ging, war die Modernisierung auch der politisch-sozialen Strukturen, nachdem Großbritannien wirtschaftlich an die Spitze des Fortschritts gelangt war und im internationalen Vergleich den Status einer führenden Weltmacht errungen hatte. Modernisierung hieß Reform des antiquierten Parlaments und Beseitigung gesellschaftlicher Diskriminierung, wie sie etwa durch die Test-Akte gegeben war. Es kann kaum überraschen, wenn man feststellt, dass insbesondere der protestantische Dissent mit dem Aufbruch in die politisch-soziale Moderne an der Schwelle zum Industriezeitalter verbunden war. Die Radikalen Reformer […] forderten eine Anpassung der politisch-sozialen Verfassung an die Erfordernisse der neuen Zeit. […] Man wollte nicht die Gleichheit von Reichtum und Besitz, sondern gleiche Rechte (233).

Großbritannien im Allgemeinen und sein politisches System im Besonderen erwiesen sich somit als reformfähig. Spätestens 1783, mit der Ernennung William Pitts zum neuen Premier, sollten die erhofften Reformen auf den Weg gebracht werden.

Während sich Staat und Gesellschaft allmählich einer Modernisierung öffneten, kam es gleichzeitig zu weiteren kritischen politischen Ereignissen. Hierzu zählt beispielsweise die berühmte Boston Tea Party im Dezember 1773. Auslöser für diesen Boykott englischer Handelsschiffe durch amerikanische Kolonisten war ein Gesetz, das der East India Company das Monopol des Tee-Exports nach Amerika einräumen sollte. Als Konsequenz organisierten sich die 13 amerikanischen Kolonien gegen das Mutterland Großbritannien, woraufhin ihnen die weitere Teilnahme am britischen Außenhandel untersagt wurde. Die weitere Eskalation des Konflikts gipfelte letztlich 1775 im Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges. Nach einigen Niederlagen war Großbritannien schließlich im Jahre 1783 gezwungen, die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika anzuerkennen.

Von 1783 bis 1801 bekleidete nun der junge William Pitt das Amt des Premierministers. Dessen primäres Ziel war die Konsolidierung des Staatshaushaltes, der durch den Krieg gegen Amerika außerordentlich belastet war. Ferner organisierte er die Marine neu und senkte die Zölle für Tee und andere Importgüter[13].

Von der Französischen Revolution (1789-1799) und den propagierten Werten der Aufklärung inspiriert, forderte nun auch die Bevölkerung Großbritanniens mehr und mehr ein allgemeines Wahlrecht für alle Männer. Als Sprachrohr entwickelte sich zunehmend ein politisches Schrifttum, insbesondere durch Edmund Burke[14] und Thomas Paine[15]. Obwohl Pitt zunächst eine auf Friedenswahrung ausgerichtete Wirtschaftspolitik verfolgte, erklärte Frankreich im Jahre 1793 Großbritannien den Krieg. Die Briten verfügten auf dem Kontinent über kein handlungsfähiges Heer und befanden sich zudem in einer Wirtschaftskrise. Als Konsequenz wurde erstmalig eine Einkommenssteuer eingeführt. Im Jahre 1801 trat William Pitt zurück. Seinem Nachfolger Henry Addington gelang es mit dem Frieden von Amiens 1802 Europa eine Atempause zu verschaffen (vgl. Maurer:314f).

Im Jahre 1800 wurde mit dem zweiten Act of Union Irland dem Königreich Großbritannien angeschlossen. Es entstand das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland.

1803 erklärte Großbritannien Napoléon Bonaparte den Krieg und es begann zugleich ein jahrelanger Wirtschaftskrieg ungeahnten Ausmaßes. Mit der Kontinentalsperre 1806 schloss Frankreich alle kontinentalen Häfen für Großbritannien. Diese Maßnahme führte zu Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Lohnverfall und Preisanstiegen. Erst 1815, mit der Schlacht bei Waterloo und dem Wiener Kongress, sollte der Krieg ein Ende finden und Europa neu geordnet werden.

Fortan dominierten zwei Prinzipien die Wirtschaftspolitik Großbritanniens. Zum einen die Maxime Balance of Power, d.h. die Kontinentalmächte sollten ein politisches, wirtschaftliches und militärisches Gleichgewicht erzeugen. Zum zweiten der Freihandel, der den Kontinent als Markt erschließen sollte (vgl. ebd.:317f).

Die hier zusammengefasste Geschichte Großbritanniens während des 18. Jahrhunderts lässt sich laut Maurer (vgl. 257) in drei Phasen einteilen:

1. Die Epoche der Stabilität (1714-1760), die von der mächtigen politischen Gestalt Walpoles und seiner Konsolidierungs- und Friedensmaßnahmen dominiert wurde.
2. Die Epoche der Krisen (1760-1815) mit inneren Unruhen, dem
Unabhängigkeitskrieg Amerikas und den Auswirkungen der Französischen Revolution.
3. Die Epoche der Reformen (1815-1837), in welcher insbesondere die Nachwirkungen der Industriellen Revolution reguliert wurden.

2.3 Der Strukturwandel in Großbritannien als Folge demographischer, volkswirtschaftlicher und technischtechnologischer Umwälzungen

Großbritannien unterzog sich wie dargestellt im Laufe des 17. bis 19. Jahrhunderts einer Abfolge von bedeutenden Veränderungen, die Olaf Hottinger[16] (19) als einen „Strukturwandel in einem bis dahin unbekannten Ausmaß“ charakterisiert.

Für Hottinger (vgl. ebd.) sind hierfür drei Entwicklungen von besonderer Bedeutung, die er sogar als Revolutionen wertet:

1. die demographische Revolution, bedingt durch eine
Bevölkerungsexplosion,
2. die Agrarrevolution als Konsequenz innovativer Methoden in der Landwirtschaft, die zu einer Steigerung der Produktion führten sowie
3. die Industrielle Revolution als Folge eines Umwälzungsprozess im produzierenden Gewerbe.

Während allein England um 1600 nur ca. 4 Mio. und um 1700 ca. 5 Mio. Einwohner hatte, erfuhr es im Laufe des 18. und besonders 19. Jahrhunderts einen enormen Bevölkerungszuwachs, wie die folgende Tabelle veranschaulichen soll. Die Daten entstammen dem Werk Gottfried Niedharts[17] (vgl. 215):

Bevölkerungsentwicklung in England im 19. Jahrhundert

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Bevölkerungsentwicklung in England 1801-1851

Im Jahre 1851 zählte Großbritannien insgesamt ca. 27,4 Millionen Einwohner, ca. 63% der Gesamtbevölkerung lebten in England. Anfang des 19. Jahrhunderts war London die größte Stadt Europas. Bis 1911 wuchs die britische Einwohnerzahl auf ca. 45 Millionen an.

Der Hauptgrund dieser Bevölkerungsexplosion liegt in der vermehrten und verbesserten Nahrungsmittelproduktion und -versorgung. Als weitere Ursachen werden in der einschlägigen Literatur gestiegene Einkommen, rückläufige Sterblichkeitsraten, höhere Lebenserwartungen sowie verbesserte medizinische und hygienische Bedingungen angegeben (vgl. Hottinger:20). Auch Politik und geistige Eliten befassten sich nun mit der gewaltigen Bevölkerungsentwicklung. Es wurden Volkszählungen durchgeführt und Standesämter eingerichtet. Schon 1798 sah der britische Ökonom Thomas Malthus in seiner Aufsehen erregenden Schrift Essay on the Principle of Population die Bevölkerungszahl explodieren.

In der Landwirtschaft begann bereits im 16. Jahrhundert eine Vielzahl von Maßnahmen zu wirken, die zu Fortschritten in der Agrarproduktion führten. Ab dem 17. Jahrhundert waren die Auswirkungen so deutlich, dass nun von einer Agrarrevolution gesprochen werden kann. Wesentliche Schritte waren die Vergrößerung der landwirtschaftlichen Anbaufläche und die Fruchtwechselwirtschaft. Weiterhin kam es zu einer Systematisierung der Auswahl von Saatgut und Zuchttieren und einer Verbesserung des Pfluges. Mitte des 19. Jahrhunderts führte der Einsatz landwirtschaftlicher Maschinen und Düngemittel zu einem erneuten Produktivitätssprung im Agrarsektor (vgl. ebd.:21).

Zwei gesetzliche Regelungen leiteten einen weiteren Konzentrationsprozess im Agrarsektor ein. Einerseits entstanden die sog. enclosures - gesetzlich geregelte, von einem Pächter verwaltete Einhegungen des common land. Andererseits wurden durch das sog. engrossing vielfach Produktionseinheiten übernommen bzw. zusammengelegt.

Die negativen Folgen dieser Entwicklungen waren Lohnverfall zugunsten der Einnahmen der Großgrundbesitzer und die daraus resultierende Abwanderung vieler Kleinbauern in die Städte.

Des Weiteren erfolgte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis Mitte des 19. Jahrhunderts der entscheidende Umwälzungsprozess im produzierenden Gewerbe, der die Wende vom vorindustriellen in das industrielle Zeitalter markiert.

Die in der Literatur anerkannten Ursachen für die Industrielle Revolution sind mannigfaltig und multikausal: wachsender Rohstoffreichtum, ein effizientes Transportsystem, optimale Marktbedingungen im In- und Ausland, steigende Investitionen durch ausreichendes Anlegerkapital und günstige Zinsen, neue Formen der Energiegewinnung sowie zahlreiche technische Innovationen. Die Erfindung der Spinn-, Web- u. Dampfmaschine markierte eine neue Ära insbesondere im Textilgewerbe.

Auch soziokulturelle Faktoren wie zunehmende soziale Mobilität, Urbanisierung und eine liberale(re) Wirtschaftspolitik sind für Niedhart (vgl. 1982:142) von großer Bedeutung. Trotz dieses außerordentlichen Take-offs der Industrialisierung ist zu erwähnen, dass der Großteil der Bevölkerung weiterhin in der Landwirtschaft beschäftigt blieb.

Die Industrielle Revolution veränderte auch die Gesellschaftsstruktur Großbritanniens. Die Diskrepanz in den materiellen Verhältnissen wie auch in der sozialen Stellung und den damit verbundenen politischen Rechten der sozialen Schichten war beträchtlich, wie die folgenden Diagramme[18] verdeutlichen sollen.

Zugehörigkeit der Bevölkerung zu den sozialen Schichten um 1800

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Soziale Schichten um 1800

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Anteil der Schichten am Volkseinkommen

Die Zahlen offenbaren, dass die einzelnen Gesellschaftsschichten unterschiedlich von der Industriellen Revolution profitierten und an deren Produktivitätsfortschritten partizipierten. Der Adel blieb bis in das 19. Jahrhundert hinein die bestimmende soziale Schicht. Doch der Strukturwandel und die Industrialisierung brachten neue gesellschaftliche Schichten hervor. Gottfried Niedhart charakterisiert die Bevölkerungsstruktur wie folgt:

Die soziale Differenzierung wurde ausgeprägter, indem neue Elemente wie das Industriebürgertum und die Fabrikarbeiterschaft hinzukamen, aber die vorindustriellen Muster und Hierarchien verschwanden nicht. Es war eine Gesellschaft sozialer Gegensätze und Konflikte, doch war das Verhalten der gesellschaftlichen Gruppen nicht über einen bündig zu benennenden Klassenstandpunkt definiert (40).

Es kam zu einer voranschreitenden Polarisierung der Gesellschaft in Arme und Reiche. Die unteren Schichten, die etwa zwei Drittel der Bevölkerung umfassten, bekamen vor allem die negativen Folgen der Industrial Revolution zu spüren. Dazu zählten Umweltverschmutzung, Kinderarbeit und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen sowie die Entstehung von so genannten slums als Verkörperung der bisweilen armseligen Wohnsituation. Die Hälfte der Unterschichten lebte am Rande oder unterhalb des Existenzminimums.

Diese drei Prozesse - demographische, agrarische und industrielle Revolution - ermöglichten die Transformation Großbritanniens „von einer in der Hauptsache agrarisch geprägten zu einer primär industriell ausgerichteten Gesellschaft und Wirtschaft“ (Niedhart:140).

So wurde das Königreich zum Workshop of the World und zur Wiege der Industriellen Revolution, die in der Folge ganz Kontinentaleuropa, die USA, Japan und schließlich weite Teile der übrigen Welt erfasste.

3. Die Vollendung der bürgerlichen Ökonomie durch Adam Smith

Dieses Kapitel widmet sich dem schottischen Moralphilosophen und Nationalökonomen Adam Smith. Im Folgenden sollen hier Werk und Wirken Smiths diskutiert werden.

Es wird zum einen auf den Zusammenhang zwischen dem gesellschaftspolitischen Hintergrund und seiner Theorienfindung eingegangen. Zum anderen soll beschrieben werden, welchen Einfluss Physiokraten und Merkantilisten auf seine Theorien ausübten. Es schließt sich die Frage an, ob Adam Smith tatsächlich als Doktrinär einer Laissez-faire-Politik angesehen werden darf.

Die Literatur zu Adam Smith und seinen Werken ist so zahlreich wie vielfältig. Bei der weiteren Beschreibung wird auf die anerkannte Standardbiographie von David. D. Raphael[19] zurückgegriffen. Michael S. Aßländer[20] liefert eine konsistente Einführung zu Leben und Werk. Die Arbeit von Karl Graf Ballestrem[21] beleuchtet nicht nur Smiths Vita und Werk, sondern beinhaltet auch eine hervorragende Analyse des gesellschaftspolitischen Hintergrundes, speziell der schottischen Aufklärung. Zur Wirkungsgeschichte ist insbesondere das Sammelwerk von Heinz D. Kurz[22] zu nennen. Zitiert wird aus der Standardübersetzung des Wealth of Nations von Horst. C. Recktenwald[23].

3.1 Zu Person und Leben Smiths

Das genaue Geburtsdatum Adam Smiths ist unbekannt. Deshalb wird hier das Taufdatum angegeben, der 5. Juni 1723. Smith wurde im schottischen Kirkcaldy als Sohn des noch vor seiner Geburt verstorbenen Juristen Adam Smith und seiner Ehefrau Margaret Douglas geboren. Douglas war die Tochter eines reichen Landbesitzers. Die Beziehung Smiths zu seiner Mutter blieb fortan außergewöhnlich eng. Eine Anekdote, die in nahezu jeder Biographie über Smith Beachtung findet, ist die Entführung des damals dreijährigen Adam durch Zigeuner. Smith wurde aber nach kurzer Zeit gefunden und wohlbehalten seiner Mutter übergeben.

Im Alter von 14 Jahren besuchte Smith ab 1737 die Universität in Glasgow und begann ein Studium der Altphilologie, Mathematik und Moralphilosophie. Letztere unterrichtete Francis Hutcheson, der einen nachhaltigen Einfluss auf Smith haben sollte. Im Jahre 1740 wechselte Adam Smith nach Oxford. Das konservative Oxford jedoch enttäuschte den stets kritischen und fortschrittlich denkenden Smith und er hielt die dortigen Professoren, im Gegensatz zu Glasgow, für nahezu inkompetent. Hierzu schrieb er spöttisch:

An der Universität Oxford haben es die meisten Professoren schon seit vielen Jahren aufgegeben, auch nur den Schein zu wahren, daß sie ihren Lehrverpflichtungen nachkommen (Recktenwald:647).

Sein eigenes Ideal von Lehrtätigkeit beschreibt er wie folgt:

Das Ansehen in seinem Beruf ist für den Dozenten ebenfalls sehr wichtig; zudem ist er in gewisser Weise abhängig von einem guten Ruf und von der Sympathie und Dankbarkeit seiner Hörer. Und zu dieser Wertschätzung gelangt er offensichtlich am ehesten, wenn er sie durch den ganzen Einsatz seiner Fähigkeiten, seiner Sorgfalt und seines Fleißes auch wirklich verdient (ebd.: 646).

Dies unterstreicht, dass sich Smith in seinen Theorien zu den vielfältigsten Gegenständen, so auch der Bildung, äußerte.

Aus den beschriebenen Gründen nutze Smith deshalb seine Zeit vor allem zum Selbststudium und beschäftigte sich mit den griechischen, lateinischen und französischen Klassikern der Literatur und Wissenschaft.

Smith war seit seiner Kindheit von gesundheitlichen Problemen geplagt. In seinem Umfeld galt er als geistesabwesend und zerstreut. Auch in Oxford litt er - womöglich aufgrund des weniger intellektuellen Klimas dort - an Depressionen und Lethargie. Insgesamt blieb Adam Smith sechs Jahre am Balliol College in Oxford und kehrte 1746 nach Kirkcaldy zurück. In den folgenden beiden Jahren widmete er sich vor allem wissenschaftlichen Studien zur Astronomie, Physik und Logik. Zwei Jahre später erhält er die Gelegenheit, in Edinburgh öffentlich Vorträge über Rhetorik und Literatur zu halten. Die Vorlesungen waren so populär, dass sie Smiths finanzielle Unabhängigkeit sicherten. Fortan erweiterte er sein Lehrprogramm um juristische Themen und wurde 1751 auf den Lehrstuhl für Logik an der Universität Glasgow berufen. 1752 wechselte er auf den vakant gewordenen Lehrstuhl für Moralphilosophie. In dieser Zeit begann auch die innige Freundschaft Smiths zu David Hume[24], mit dem er Zeit seines Lebens in regem intellektuellem Austausch stand. Außerdem fungierte Smith als Schatzmeister der Universität und späterer Fakultätsdekan und Prorektor. Im Jahre 1759 veröffentlichte Smith die Theory of Moral Sentiments als Zusammenfassung seiner Vorlesungen über Ethik. Dieses Werk machte ihn - auch außerhalb Großbritanniens - geradezu über Nacht berühmt. Im Januar 1764 verließ Adam Smith Glasgow, um die ihm gebotene Gelegenheit zu nutzen, als Reisebegleiter des Duke of Buccleuch nach Frankreich zu reisen. Smith erlernte die französische Sprache und machte zahlreiche Bekanntschaften, darunter mit Voltaire.

Adam Smith nahm überdies regelmäßig an Versammlungen der Physiokraten teil. Insbesondere Francois Quesnay beeindruckte Smith sehr, obwohl er nicht dessen Ansichten folgte.

Der Bruder des Duke of Buccleuch erkrankte 1766 tödlich und so nahm der Aufenthalt in Paris ein jähes Ende.

Bis 1773 verweilte er im Haus seiner Mutter in Kirkcaldy und arbeitete an seinem Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Schließlich erschien Der Wohlstand der Nationen am 9. März 1776 mit sofortigem unerwartet großem Erfolg. Zu dieser Zeit hatte Smiths langjähriger Vertrauter David Hume nur noch wenige Monate zu leben und zeigte sich glücklich, doch noch das Werk seines Freundes Smith begutachten zu dürfen.

Im Oktober 1777 verließ Adam Smith London, reiste nach Kirkcaldy und bewarb sich um das Amt eines Zollmeisters, das er sodann wenige Monate später antreten durfte. Die berufliche Beanspruchung ließ ihm kaum mehr Zeit, der Wissenschaft und dem Schreiben nachzugehen. Im Jahre 1784 starb Adam Smiths Mutter.

Drei Jahre später wurde Smith als Nachfolger Edmund Burkes zum Lord Rector der Universität Glasgow gewählt.

Ab 1789 verschlechterte sich Smiths Gesundheit zunehmend bis er schließlich am 17. Juli 1790 im Alter von 67 Jahren verstarb. Bei der Testamentsvollstreckung zeigte sich, dass Adam Smith im Laufe seines Lebens nahezu sein gesamtes Vermögen an Bedürftige verschenkt hatte.

[...]


[1] Maurer, Michael (2002). Kleine Geschichte Englands. durchges., aktualisierte u. bibliograph. erg. Ausg. München: Reclam.

[2] Haan, Heiner & Gottfried Niedhart (1993). Geschichte Englands vom 16. bis 18. Jahrhundert. München: Beck.

[3] Niedhart, Gottfried (1982). Einführung in die englische Geschichte. München: Beck.

[4] Landreth, Harry & David C. Colander (2002). History of Economic Thought. 4. Aufl. Boston: Houghton Mifflin.

[5] Die Gesellschaft trug von 1600 bis 1708 den Namen Governor and Company of Merchants of London Trading into the East Indies. Von 1708 bis 1873 wurde sie in United Company of Merchants of London Trading into the East Indies umbenannt.

[6] von lat. mercari „Handel treiben“.

[7] Oliver Cromwell (1699-1658) war Gründer der englischen Republik und späterer Lord Protector von England, Schottland und Irland.

[8] François Quesnay (1694-1774), Leibarzt Ludwigs XV. und Mitglied der Royal Society. Später widmete er sich der Landwirtschaft und Philosophie.

[9] Naturrecht: In der Moralphilosophie, -theologie und in der Rechtslehre versteht man darunter Prinzipien, die sich aus gleich bleibenden und dauerhaften Eigenschaften ableiten lassen, die dem Menschen von Natur aus zukommen. Diese sind der Maßstab für individuelles Verhalten und staatliches Recht. Das Naturrecht wird als unveränderlich und universell gültig angesehen.

[10] William III. (1650-1702) wurde nach der Glorious Revolution vom Parlament 1689 zusammen mit seiner Gemahlin Maria II. zum neuen König ernannt. Der Thronbesteigung ging die Unterzeichnung der Bill of Rights voraus, die die Rechte des englischen Parlaments gegenüber dem Königtum regelte. Durch die Glorious Revolution erhielt das Parlament, nicht mehr der König, die Staatssouveränität. Die Durchsetzung der Bill of Rights schuf die Grundlage für das heutige parlamentarische Regierungssystem Großbritanniens.

[11] Ein Prärogativ ist ein dem Monarchen zustehendes Vorrecht, das er unabhängig von der Mitwirkung einer Volkvertretung ausüben konnte.

[12] Der siebenjährige Krieg beinhaltet den 3. Schlesischen Krieg sowie den britisch- französischen Kolonialkonflikt 1756-63. Er veränderte letztlich das europäische Gleichgewicht, obwohl er unentschieden endete.

[13] Durch die Zollsenkungen sowie intensivere Kontrollen wurde der Schmuggel weniger interessant und führte in der Summe wiederum zu erhöhten Zolleinnahmen.

[14] Edmund Burke (1729-1797), Staatsphilosoph, Politiker und Schriftsteller. Sein wichtigstes Werk trug den Titel Reflections on the Revolution in France.

[15] Thomas Paine (1737-1809), einer der Gründvater der USA. Er formulierte mit dem Werk Rights of Men die entscheidende Antwort auf Edmund Burke.

[16] Hottinger, Olaf (1998). Eigeninteresse und individuelles Nutzenkalkül in der Theorie der Gesellschaft und Ökonomie von Adam Smith, Jeremy Bentham und John Stuart Mill. Marburg: Metropolis.

[17] Niedhart, Gottfried (1987). Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert. München: Beck.

[18] Daten entnommen aus Hottinger:30.

[19] Raphael, David D. (1991). Adam Smith. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag.

[20] Aßländer, Michael (2007). Adam Smith zur Einführung. München: Junius.

[21] Ballestrem, Karl Graf (2001). Adam Smith. München: Beck.

[22] Kurz, Heinz D., et al. (Hg.) (1991). Adam Smith: Ein Werk und seine Wirkungsgeschichte. Marburg: Metropolis.

[23] Recktenwald, Horst C. (1983). Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. 3. Aufl. München: dtv.

[24] David Hume (1711-1776): schottischer Philosoph, Ökonom, Historiker und einer der bedeutendsten Vertreter der britischen Aufklärung.

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Die Entwicklung des ökonomischen Denkens und die wirtschaftspolitische Praxis in Großbritannien. Smith, Keynes, Thatcher und Blair
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Anglistik)
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
94
Katalognummer
V139118
ISBN (eBook)
9783640470822
ISBN (Buch)
9783640471027
Dateigröße
1231 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Magisterarbeit enthält auch englische Zitate und Quellen.
Schlagworte
Merkantilismus, Physiokratie, Margaret Thatcher, Tony Blair, John Maynard Keynes, Adam Smith, Keynesianismus, invisible hand, Großbritannien, UK, Wirtschaftsgeschichte, Marktwirtschaft
Arbeit zitieren
Ulrike Römer (Autor:in), 2008, Die Entwicklung des ökonomischen Denkens und die wirtschaftspolitische Praxis in Großbritannien. Smith, Keynes, Thatcher und Blair, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139118

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