Technik und menschliches Selbstverständnis

Die Problematik der „In-vitro-Befruchtung“


Hausarbeit, 2005

27 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Medizinische Gegenstandsbestimmung der In-vitro-Befruchtung

2 Nähere Hinführung zum Thema

3 Drei Argumentationswege für das Schicksal

2.1. Natürlichkeit ist moralisch
2.2. Gottgegebener natürlicher Ablauf
2.3. Zukunftsabschätzung Reproduktionsmedizin

4 Technik als Erweiterung der Wahrnehmung
4.1. Exkurs zur Erweiterung der Wahrnehmung durch Waffen
4.2. Technik und Wahrnehmung

5 Abschlussbetrachtung

6 Literaturverzeichnis

1 Medizinische Gegenstandsbestimmung der In-vitro-Befruchtung

Bevor man sich mit ethischen Fragen bezüglich der Bewertung einer Technik auseinandersetzen kann, muss vorher geklärt werden, auf welche Weise die zur Disposition stehende Technik überhaupt eingesetzt wird bzw. werden kann und welches die Felder sind, auf denen sie prinzipiell ihre Anwendung findet bzw. finden kann. In der vorliegenden Arbeit dreht es sich um die Technik der In-vitro-Befruchtung. In der Öffentlichkeit ist diese Technik unter dem irreführenden Label „Retortenbaby“ zur ruhmlosen Berühmtheit gelangt. Dieses Label ist irreführend, da es den technisch eigentlich vorgenommenen Schritt falsch wiedergibt. Was also geschieht eigentlich bei der In-vitro-Befruchtung? Das technische Verfahren besteht im wesentlichen darin, dass die ersten 48 bis max. 72 Stunden der menschlichen Embryonalentwicklung, von der Befruchtung der Eizelle bis zu den frühen Zellteilungen, aus dem Eileiter der Frau ins Labor verlegt werden. „In-vitro“ heißt nichts anderes als „im Glas“. Die benötigten Eizellen werden der Frau durch einen operativen Eingriff (Bauchspiegelung) entnommen. Bevor dieser Eingriff vorgenommen wird, werden die Eierstöcke durch Hormongaben dazu stimuliert, in einem Zyklus mehrere Eier reifen zu lassen (Superovulation). Die entnommenen Eizellen werden in einer Lösung mit männlichen Samen befruchtet und bis zum 4- bis 8 Zellstadium kultiviert. Verläuft die Entwicklung in dieser Zeit normal, werden sie in die Gebärmutter übertragen. Die eigentliche Technik impliziert also keine Eingriffe in die embryonalen Zellen selbst. Die Embryonen werden in einem Stadium zurückverpflanzt, das auch bei normaler Befruchtung in vivo (im Körper) vor der Einnistung in der Gebärmutter liegt. Der Hauptanwendungsbereich der In-vitro-Befruchtung ist die Behandlung von Unfruchtbarkeit bei Frauen mit defekten Eileitern.[1]

Die Möglichkeiten, die sich mit dieser Technik eröffnen gehen allerdings über die Behandlung eileiterbedingter Unfruchtbarkeit hinaus. Der Embryo muss beispielsweise nicht notwendigerweise in die Gebärmutter der Eizellenspenderin eingepflanzt werden. Prinzipiell kann jede andere Frau, mit einer funktionsfähigen Gebärmutter, das potentielle Kind austragen. „Frauen, die keine funktionsfähige Gebärmutter haben oder aus irgendwelchen anderen Gründen (z.B. beruflichen oder psychischen) eine Schwangerschaft nicht auf sich nehmen wollen, könnten also ein genetisch eigenes Kind durch eine `Ersatzmutter´ oder `Mietmutter´ austragen lassen.“[2] In Deutschland ist dieses Verfahren derzeit zwar gesetzlich verboten, dennoch ändert diese Schranke nichts an der grundsätzlichen Möglichkeit, die an dieser Stelle zum grundsätzlichen Gedankenaustausch anregt. Es ist festzuhalten, dass durch diese Technik der menschliche Embryo außerhalb des weiblichen Körpers zugänglich gemacht wird. Durch diese neue Verfügbarkeit eröffnen sich wiederum neue Techniken, die mannigfaltige Eingriffe in den, jetzt verfügbaren Embryo, bedeuten. So hört man immer wieder von dem Szenario der elterlichen Wahl etwa der Augen- oder Haarfarbe ihres künftigen Kindes, oder der Möglichkeit den Embryo zur verzögerten Einnistung einzufrieren, man denke beispielsweise auch an den Zweck der vorausschauenden Familienplanung. Eine gute tabellarische Übersicht über mögliche Anwendungsbereiche der In-vitro-Befruchtung hat van der Daele sehr anschaulich in folgender Tabelle[3] zusammengefasst:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Liest man die Tabelle von oben nach unten, dann wird, salopp gesagt, das moralische Bewusstsein immer intensiver angesprochen. In der Spalte „Mögliche Anwendung im Rahmen der Fortpflanzung“ beginnt es mit dem einfachen Kinderwunsch; Wer will einer Frau verbieten grundsätzlich diesen Wunsch zu hegen?; und endet letztlich bei der Menschzüchtung, die wir aus guten Gründen ablehnen würden. Letztere ruft sogleich ein moralisches Unbehagen hervor. Spielt der Mensch an dieser Stelle nicht Gott? Ist dieses menschliche Eingreifen nicht wider jedweder Natürlichkeit? Das ethische Problem scheint nicht in der Technik selber zu liegen, sondern darin, was der Mensch mit dieser Technik anstellt. „Wenn der Mensch keine Menschen züchten will, dann soll er es einfach lassen“, könnte ein umgangssprachlicher Einwand gegen eine Skepsis gegenüber dem Verfahren sein. Und dieses Sollen, so könnte weiter argumentiert werden, können wir mit guten Gründen der Moral, also mit unseren Wertvorstellungen einfordern. Dies ist aber nur die halbe Wahrheit. Die In-vitro-Befruchtung als Technik schafft ja selber erst neue menschliche Handlungsmöglichkeiten, mit denen sich der Mensch im Nachhinein wiederum auseinandersetzen muss. Es ist zu bezweifeln, dass die Engländer Edwards und Steptoe 1978, als sie das erste Kind in vitro zeugten, wussten, welche Handlungsmöglichkeiten sie, einfach durch die neue Verfügbarkeit, also die Erschaffung eines neuen, weil dem Menschen jetzt zugänglichen Gegenstandes, schaffen würden. Die Technik selber steht nicht außerhalb jeglichen wertenden Rahmens, sondern ist als menschliche Errungenschaft, als menschlich konstruierter Maßstab, der zu Erkenntnisse über die Welt führt, wie es so schön heißt, immer Teil dieses Rahmens und somit per se nicht wertfrei. Eine erste These lautet demnach: Der technisch zugänglich gemachte und erst geschaffene Gegenstand „verfügbarer Embryo“ konfrontiert den Menschen mit zwei Fragen. Erstens, was ist es, das wir unter dem Begriff „Embryo“ klassifizieren. Dies wäre eine erkenntnistheoretische Fragestellung. Zweitens stellt sich die Frage, wie wir diesen Gegenstand in unser bestehendes Begriffssystem integrieren – eine moralphilosophische und gesellschaftstheoretische Fragestellung. Zur Erkenntnistheorie ist zum Beispiel die Frage zu stellen, ob wir das, was wir mit dem Begriff „Embryo“ klassifizieren unter den Oberbegriff „Mensch“ fallen lassen. Es ist sofort augenscheinlich, dass diese klassifikatorische Entscheidung über den Umgang mit dem Gegenstand maßgeblich entscheidet. An dieser Stelle werden m. E. die Weichen der moralischen Bewertung zuerst gestellt.

Wir müssen uns allerdings eine weitere Frage stellen: Auf welche Weise – aufgrund welcher Kriterien wollen wir die Entscheidung der Klassifikation treffen? Eine Diskussion, die beispielsweise nur auf biologische Aspekte abhebt, um diese Entscheidung zu treffen, läuft zu kurz. In diesem Fall könnte man polemisch sagen, dass die Biologie vor der Moral kommt. Ganz so einfach ist es aber nicht! Die Unentschiedenheit der Biologie liegt nicht zuletzt darin, dass die Seite der Moral verschiedene Wege beleuchtet, die bei einer bestimmten Klassifikation beschritten werden. Sie stellt in diesem Fall oft die Frage: Können wir diese oder jene Konsequenz wollen, die bei dieser oder jener Klassifikation möglich wäre?

Die obige Tabelle macht uns des Weiteren darauf aufmerksam, dass sich die Fragen an die In-vitro-Befruchtung und die Wertungen dieser Technik auf verschiedenen Ebenen verorten. Es geht einerseits um die grundsätzliche Bewertung einer Technik, wobei auf der anderen Seite das einzelne Individuum steht, dem vielleicht durch einen bestimmten Eingriff geholfen werden könnte, wobei durch diese Hilfe (um einen Ausdruck aus dem Rechtswesen zu bemühen) ein Präzedenzfall geschaffen würde. Auf dieser Ebene stehen demnach partikulare Interessen des Einzelnen den gesellschaftlichen Interessen gegenüber.

Ich will nicht die schwierigen Fälle der moralischen Bewertung betrachten, sondern einen scheinbar moralisch unproblematischten Fall zu Rate ziehen: Die Erfüllung des Kinderwunsches bei gleichzeitiger Funktionsunfähigkeit der Eileiter.

2 Nähere Hinführung zum Thema

„Als Rahel sah, dass sie Jakob kein Kind gebar, beneidete sie ihre Schwester (Lea) und sprach zu Jakob: >Schaffe mir Kinder, wenn nicht, so sterbe ich.< [...] Sie aber sprach (zu Jakob): >Siehe, da ist meine Magd Bilah; geh zu ihr, dass sie auf meinem Schoß gebäre und ich doch durch sie zu Kindern komme.“ (Gen. 30, 1-3)

„Ruben ging aus zur Zeit der Weizenernte und fand Liebesäpfel[4] auf dem Felde und brachte sie heim zu seiner Mutter Lea. Da sprach Rahel zu Lea: >Gib mir von den Liebesäpfeln deines Sohnes.“ (Gen. 30, 14)

Warum in Zeiten der Säkularisierung noch die Bibel zitieren? Die angeführten Auszüge sollen verdeutlichen, dass die Realisierung des Wunsches nach eigenen Kindern, unter der Voraussetzung der biologischen Unmöglichkeit desselbigen, ein Anliegen der Menschen darstellt, dass keines der Moderne ist, sondern dessen belegbaren Anklänge sich schon zu Beginn des jüdisch – christlichen Kulturkreis finden lassen. Rahel projiziert ihren Kinderwunsch einerseits auf die Magd und andererseits auf ein Fruchtbarkeitsmittel. Schon hier lässt sich sehen, dass der Mensch bei ungewollter Kinderlosigkeit handeln will, seinem als unverschuldet empfundenen Leiden, ein Ende setzten will. Er will eigenhändig eingreifen und die Situation verändern, mit dem Versprechen, dass eine Linderung des empfundenen Leidens eintreten wird.

Menschliche Handlungen finden ihren Ursprung im menschlichen Wollen, wobei zu bedenken ist, dass das Wollen einem gegebenen Handlungsspielraum unterlegen ist, von diesem sogar evoziert werden kann. Letzteres heißt, dass der Mensch a) nach seinen individuellen Möglichkeiten handeln, und b) seinen Handlungsspielraum selbstständig erweitern kann. Die geschaffene Vergrößerung der Handlungsmöglichkeiten ist dem Menschen auf dem Wege der Welterschließung eigen und grenzt ihn von allen anderen Lebewesen ab. Würde Rahel heute vor dem Problem der ungewollten Kinderlosigkeit stehen, so würde ihr Handlungsspielraum zur Lösung dieses Problems ein weitaus größerer sein, als zu ihrer Lebzeit.

Doch ist die Erweiterung der Möglichkeiten der Problemlösungsstrategien, durch die technischen Fortschritte in der Reproduktionsmedizin, in der heutigen Zeit, ein scharfes und zudem zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite steht die Erweiterung der menschlichen Freiheit und Autonomie, während auf der anderen Seite die Frage: „darf der Mensch soweit eingreifen?“, steht. Geht das menschliche Handeln an dieser Stelle zu weit? Gibt es Grenzen an denen dem menschlichen Handeln Einhalt geboten werden soll? In unserem Fall besteht der grenzwertige Schritt in der Erschaffung eines neuen Gegenstandes, dem Embryo, in dem potentiell ein künftig individueller Mensch angelegt ist.

Hans Jonas konstatiert, dass selbst für einige Wissenschaftler der Biotechnologie, die am Horizont zu erkennende Möglichkeit, dass man die menschliche Entwicklung selber in die Hand nehmen könnte, eine nicht zu leugnende Rauschwirkung ausübt. „Stehen wir vielleicht auf der Schwelle einer Technologie, die auf biologischen Wissen basiert und uns mit einer Manipulierkunst beschenkt, die den Menschen selbst zum Gegenstand hat?“[5] Auf eine erste kurze Formel gebracht lässt sich letztere Gedanke der Technik - Skepsis, der in diese Fragen angestoßen wird, in folgender These ausdrücken:

Der Mensch erhebt sich als Herrscher über die Natur. Die Kultur ersetzt die Natur, so dass der Mensch am Ende sein eigener Schöpfer wird, wobei (so der angenommene Schluss) dies sein Untergang sein wird.

Können wir nun sagen, dass die Möglichkeit der Verfügbarkeit menschlicher Embryonen ein erster Schritt auf dem Wege der Bestätigung dieser Skepsis ist?

Theodor W. Adorno würde, so meine ich diese Frage mit einem „ja“ beantworten. So drückt er das Verhältnis zwischen medizinischen Erfindungen und dem menschlichen Handeln unter anderem wie folgt aus: „Nur in Schundromanen werden große medizinische Erfindungen aus Liebe zu den Menschen gemacht, oder große kriegstechnische aus Patriotismus.“[6]

Durch dieses zweischneidige Schwert wird darauf aufmerksam gemacht, dass jede technische Neuerung (jede durch den Menschen hervorgebrachte Erweiterung des Handlungsspielraums) zwei Seiten besitzt. Eine Seite, die in ihren Auswirkungen für den Menschen und eine andere, die gegen den Menschen steht. Das Problem einer solchen starken Gegenüberstellung bildet sich meist in einer allzu starken Kategorisierung, der für jeweils einen Seite angegebenen Argumente, ab. Dies läuft im schlechtesten Fall auf einen Scheinstreit zwischen Freiheit (hier verstanden einfach als die Freiheit sich die möglichen Handlungsspielräume auch zu nehmen) und Moral (als diejenige Instanz, die versucht Grenzen dieser Handlungsspielräume zu benennen) hinaus. Ethik und Technik, Fortschritt und moralische Reflexion bilden aber keinen Gegensatz sondern bedingen sich vielmehr (Vgl. Abschnitt 0). Leider unterliegt diese Bedingtheit der beschriebenen Ambivalenz, die bei Nichtbeachtung zum Streit sich scheinbar ausschließender Standpunkte, führt. Bemerkt werden sollte an dieser Stelle, dass diese Ambivalenz in der philosophischen und religiösen Tradition immer wieder aufgenommen wurde. „[...] Nicht zuletzt in den Erzählungen am Anfang der Bibel, wo vom Auftrag der Kulturgestaltung ebenso die Rede ist, wie von der Gefahr, die dort entsteht, wo der Mensch nicht mehr um seine Grenzen weiß, wo ihm nicht mehr bewusst ist, dass Freiheit und Verantwortung einander wechselseitig bedingen.“[7]

[...]


[1] Vgl. Daele: Mensch nach Maß. S. 17

[2] Ebd. S. 19

[3] Ebd. S. 20

[4] Liebesäpfel ist eine Umschreibung für die Frucht der Alraune. Sie ist klein und scharf riechend, und erscheint ihrer Form nach einem Apfel ähnlich. Sie galt als Mittel zur Steigerung der weiblichen Fruchtbarkeit.

[5] Vgl. Jonas: Technik, Medizin und Ethik. S. 39

[6] Vgl. Adorno: Über Technik und Humanismus. S.28

[7] Vgl. Anselm Kinderlosigkeit als Krankheit. S. 17 (Die kursive Hervorhebung ist vom Autor hinzugefügt.)

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Technik und menschliches Selbstverständnis
Untertitel
Die Problematik der „In-vitro-Befruchtung“
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg  (Philosophie)
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
27
Katalognummer
V139261
ISBN (eBook)
9783640489305
ISBN (Buch)
9783640489251
Dateigröße
501 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Menschliche Handlungen finden ihren Ursprung im menschlichen Wollen, wobei zu bedenken ist, dass das Wollen einem gegebenen Handlungsspielraum unterlegen ist, von diesem sogar evoziert werden kann. Letzteres heißt, dass der Mensch a) nach seinen individuellen Möglichkeiten handeln, und b) seinen Handlungsspielraum selbstständig erweitern kann. Würde Rahel heute vor dem Problem der ungewollten Kinderlosigkeit stehen, so würde ihr Handlungsspielraum zur Lösung dieses Problems ein weitaus größerer sein, als zu ihrer Lebzeit.
Schlagworte
Technik, Selbstverständnis, Problematik
Arbeit zitieren
Alexander Krüger (Autor:in), 2005, Technik und menschliches Selbstverständnis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139261

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