In dieser Hausarbeit geht es im Rahmen der ausgewählten Dramen Die Heilige Johanna der Schlachthöfe, Mutter Courage und ihre Kinder sowie Der gute Mensch von Sezuan darum, eine Reihe von Frauen zu untersuchen, die man im Brechtschen Sinne als ‚heroisch‘ bezeichnen kann, da sie gezwungen sind, unter äußerst schwierigen Lebensbedingungen folgenreiche existenzielle Entscheidungen zu treffen, und trotzdem dabei ihren Lebenswillen nicht verlieren. Es sind Figuren, deren Existenz sich innerhalb des gesellschaftlichen Spannungsverhältnisses entzweit, und die in eine moralisch gute, idealistische und altruistisch gesinnte Hälfte auf der einen sowie eine in bürgerlichen Ansichten verhaftete, ökonomisch handelnde, egoistische Hälfte auf der anderen Seite zerfällt. Alle drei jedoch fungieren als Repräsentanten der veränderbaren und zu verändernden Welt, in welcher das Scheitern des Individuums gleichsam als eine Kritik am ‚kapitalistischen System‘ aufgefasst werden kann, die im gleichen Atemzug die Ablösung des status quo durch den Sozialismus fordert. Die Heroinen sind diejenigen, die innerhalb dieser Verhältnisse zu überleben versuchen (Courage), als moralischer Werteträger Güte spenden (Shen Te) oder eben jene Einsichten in das System gewinnen, die zum Handeln gegen die eigenen idealistischen Grundsätze auffordern und die Person in einen Widerstreit mit sich selbst stürzen (Johanna).
Diese Arbeit enthüllt das ‚faustische Element‘ in den einzelnen Charakteren, die Motive ihres Handelns sowie die Ursachen und Folgen ihres Zwiespalts vor dem Hintergrund des jeweiligen gesellschaftlichen Kontexts.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Heilige Johanna der Schlachthöfe
2.1 Die missionarische Sozialreformerin und ihre Einsichten in das System
2.2 Das Verhältnis zu Mauler
2.3 Das Scheitern der bürgerlichen Johanna
2.4 Die späte Wandlung: Es hilft nur Gewalt wo Gewalt herrscht
3. Mutter Courage und ihre Kinder
3.1 Mutterinstinkt versus Handelsgeist
3.2 Die Courage, der Krieg und das Geschäft
3.3 Der aktive Widerstand der Schwachen: Kattrin als Gegenfigur
4. Der gute Mensch von Sezuan
4.1 Natürliche Güte und gesellschaftliche Wirklichkeit
4.2 Das Vernunftsprinzip - Shui Ta
4.3 Der idealisierte Frauentypus
5. Schlussbemerkungen
Bibliographie
1. Einleitung
In dieser Hausarbeit soll im Rahmen der ausgewählten Dramen Die Heilige Johanna der Schlachthöfe, Mutter Courage und ihre Kinder sowie Der gute Mensch von Sezuan eine Reihe von Frauen beleuchtet werden, die man im Brechtschen Sinne als ‚heroisch‘ bezeichnen kann, da sie – und das trifft sowohl auf Johanna wie auch auf die Courage und Shen Te zu – gezwungen sind, unter äußerst schwierigen Lebensbedingungen folgenreiche existentielle Entscheidungen zu treffen, und trotzdem dabei ihren Lebenswillen nicht verlieren. Es sind Figuren, deren Existenz sich innerhalb des gesellschaftlichen Spannungsverhältnisses entzweit, und die in eine moralisch gute, idealistische und altruistisch gesinnte Hälfte auf der einen sowie eine in bürgerlichen Ansichten verhaftete, ökonomisch handelnde, egoistische Hälfte auf der anderen Seite zerfällt. Am offensichtlichsten liegt die Spaltung im Guten Menschen von Sezuan vor (zumal sie durch das alter ego des Vetters auch nach außen hin dokumentiert wird), am schwächsten ausgeprägt ist sie in der Mutter Courage, die trotz ihres mitunter zwiegespaltenen Verhältnisses zum Krieg in der Fokussierung auf das eigene Überleben und ihrem Opportunismus prinzipiell mit den ihre Familie zerstörenden Umständen konform geht und daher eine vergleichsweise homogene Figur ist.
Alle drei jedoch fungieren als Repräsentanten der veränderbaren und zu verändernden Welt, in welcher das Scheitern des Individuums gleichsam als eine Kritik am ‚kapitalistischen System‘ aufgefasst werden kann, die im gleichen Atemzug die Ablösung des status quo durch den Sozialismus fordert. Ob die Figuren, wie Johanna, einen Entwicklungsprozess durchleben, an dessen Ende die Einsicht zur Notwendigkeit einer gewaltsamen Umwälzung steht, oder, wie die Courage, in der Rolle des blinden Realisten verharren und aus den Erfahrungen keine persönlichen Konsequenzen ziehen: in jedem dieser Stücke wird am Schicksal der Protagonisten die Rolle der im Grunde Gutes wollenden kleinen Leute im bürgerlichen Ordnungsgefüge illustriert und exemplarisch demonstriert, welche ihrer Eigenschaften dem unsozialen System nützen (man denke an die überall herausgestellte Gefährlichkeit der Tugenden), kontrastierend mit dem, was hingegen nötig wäre, um es zu verändern. Die Heroinen sind diejenigen, die innerhalb dieser Verhältnisse zu überleben versuchen (Courage), als moralischer Werteträger Güte spenden (Shen Te) oder eben jene Einsichten in das System gewinnen, die zum Handeln gegen die eigenen idealistischen Grundsätze auffordern und die Person in einen Widerstreit mit sich selbst stürzen (Johanna).
Es soll nun darum gehen, das ‚faustische Element‘ in den einzelnen Charakteren zu enthüllen, die Motive ihres Handelns sowie die Ursachen und Folgen ihres Zwiespalts zu sondieren und ihr teils recht widersprüchliches Tun vor dem Hintergrund des jeweiligen gesellschaftlichen Kontexts zu interpretieren.
2. Die Heilige Johanna der Schlachthöfe
2.1 Die missionarische Sozialreformerin und ihre Einsichten in das System
Wir lernen Johanna zunächst in ihrer Eigenschaft als Missionarin an der Spitze der Schwarzen Strohhüte kennen, die gegen die elenden Zustände der Arbeiter sowie die gewaltbereite Atmosphäre auf den Schlachthöfen den Glauben an Gott wieder aufrichten will. Dies soll durch eben jene geschehen, welche auf der untersten Sprosse der sozialen Hierarchie stehen, mit dem Ziel, diese davor zu bewahren, gegen die schlechten Lebenszustände gewaltsam zu rebellieren und dadurch die eigene existentielle Situation nachhaltig zu verschlimmern. Als unkorrumpierbare Soldatin Gottes verteilt sie warme Suppen an die Armen und predigt eine Werteordnung, welche sich auf die Sorge um das menschliche Seelenheil und die himmlische Belohnung im Jenseits statt des Strebens nach besseren Lebensbedingungen im Diesseits stützt. Die materielle Situation eines Menschen ist in ihrem Weltbild vom launischen Rad der Fortuna abhängig, das schließlich nicht jeden mit Reichtümern segnen kann, folglich „das Unglück (...) wie der Regen (kommt), den niemand machet und der doch kommt“(S.15)[1]. Die wirkliche Armut der Arbeiter sieht sie in deren niederem Genussstreben und Desinteresse für Gottes Wort begründet, dessen Befolgung jedoch als Brücke zu einem höheren, süßeren Dasein dient – freilich erst nach dem Tod. Symptomatisch für ihre Grundhaltung zu Anfang des Stückes ist die Auffassung, dass ausschließlich die selbst verschuldete Unvernunft für den Mangel an religiösem Glauben verantwortlich ist, wie auch die vehemente Abkehr von Gewalt, welche sie nicht als Instrument zur Verbesserung der Lebensbedingungen, sondern vielmehr als Weg ins sichere Chaos begreift.
Ihr ausgeprägter missionarischer Eifer agiert auf einer Grundlage ausgesprochener Naivität, wenn sie die Situation auf den Schlachthöfen nicht im Lichte eines größeren wirtschaftlichen Zusammenhangs betrachtet, stattdessen die Ursachen auf die moralische Verkommenheit und Schlechtigkeit der Armen zurückführt. Selbst als ihr ein Arbeiter Lennox & Co. als Verursacher des Elends nennt, ist dies für Johanna eher Anlas zum Bedauern dessen Verlusts seines Vermögens – die Arbeiter können sich demnach glücklich schätzen, nichts zu besitzen – als zur Revision ihrer bisherigen Überzeugung. „Lennox moves in a different world, the lofty world of high finance of which she has only the vaguest ideas. It is out of this innocence and ignorance that the conflict of Johanna in the play is born.“[2]
Sie geht mit dem einfach gestrickten Idealismus des Wohlwollenden, der eine praktische Aufgabe zu erfüllen hat, an diese heran, blendet bei ihrem Preisen der Vorzüge des göttlichen Segens über das irdische Glück allerdings jene Umstände (hier: die Verantwortlichkeit der Börse) aus, die über ihr Vorstellungsvermögen hinausgehen und welche sie nicht durchschaut. Das einfache, unschuldige Heilsarmeemädchen bleibt jedoch nicht auf der Stufe der den Gesamtzusammenhängen gegenüber blinden Missionarin stehen, sondern durchläuft einen Lernprozess, der zu dem Zeitpunkt beginnt, als sie sich beim Anblick der hungernden Arbeiter dazu entschließt, den Grund des Elends herauszufinden. Das Wissenwollen, wer für die schlimmen Zustände, denen auch die Schwarzen Strohhüte machtlos gegenüberstehen, verantwortlich ist, wird durch den zurückflutenden Strom Arbeitsloser initiiert, die sie nur der warmen Suppe wegen angehört und beim ersten Anzeichen auf eine Anstellung beim Fleischkönig Mauler fluchtartig verlassen hatten (S.20).
Johannas Vorsatz, den Grund der Arbeitslosigkeit und damit auch das Hindernis ihrer Verkündigung des Wort Gottes ausfindig zu machen, hebt sie von ihren Mitstreitern ab. Dem Rest der Strohhüte reicht es offenbar völlig aus, Gutes zu tun, ohne sich um das ursächliche Warum dieser Notwendigkeit zu kümmern, ohne also erkennen zu wollen, weshalb die Welt so ist, dass ihre Hilfe überhaupt benötigt wird. „Johanna hingegen kümmert sich. Um nicht nur gut zu sein, sondern um die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass unter den Menschen Güte herrscht, ist es nötig zu wissen, warum die schlechte Welt schlecht ist. Moral vermittelt sich bei Brecht erst über Erkenntnis.“[3] Wo Johanna schon erste Zweifel an der alleinigen Schuld der Arbeiter hegt, halten die Strohhüte noch unisono an dem Stereotyp des mittellosen Arbeiters, der aufgrund niederer Gesinnung das eigene Elend selbst verschuldet hat, fest. Ihr beharrlich verteidigter und mehrfach wiederholter Wunsch nach Einsicht in die realen Hintergründe (S.21) stellt sie innerhalb ihrer Organisation, an deren Spitze sie zu Anfang des ersten Gangs in die Tiefe (S.12) noch stand, nun ins soziale Abseits. Gemäß dem Motto Ignorance is Bliss ist das Erkenntnisinteresse der übrigen Mitstreiter aufgrund der Angst vor unbequemen Antworten gering, da sie beim Auffinden eines für die Armut Verantwortlichen Gefahr liefen, dass sich die Armen nicht mehr mit dem Trost des himmlischen Glücks zufrieden geben bzw. die irdische Armut als naturgegeben hinnehmen und sie dadurch ihre Rolle als gemeinnützige, im Auftrage Gottes handelnde Wohltäter verlieren. Johanna hingegen können die von den Strohhüten prophezeiten Konsequenzen der Schutzlosigkeit und des existentiellen Niedergangs, dem sie sich durch ihr Vorhaben ausliefert, nicht abschrecken. Ihr Erkenntnisdrang kalkuliert die zukünftige Absicherung nicht mit ein, ihre immer auf das nächstliegende Problem gerichtete Konzentration und ihr hervorstechender Eigensinn sind von solcher Stärke, dass sie die Konsequenz der Isolation fast beiläufig in Kauf nimmt. „Unlike her sisters of the brood who are content to remain in the familiar trodden path, the urge for knowledge comes upon Johanna, she is isolated from her tribe, but is undaunted by their warnings and forebodings (...) She wants to eat the fruit of knowledge and takes on herself all the consequences of the curse of the ancient legend.“[4]
Als Slift Johanna durch die Schlachthöfe führt, um ihr die Armen von deren schlechtester Seite zu zeigen, erkennt sie den Charakter des Systems, welches das einzelne Arbeiterschicksal bestimmt. Konfrontiert mit dem größeren sozialen Zusammenhang, in dem die Arbeiter stehen, wirft sie ihr Bild vom uneinsichtigen, gottlosen und den eigenen Zustand selbst herbeigeführten Individuum über Bord, begreift dessen Sein vielmehr als durch die Position im gesellschaftlichen Kontext bestimmt, für welche die alles beherrschenden Fleischgiganten zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Frau Luckerniddle kann für den Vorzug, den sie den zwanzig Mittagessen gegenüber der Wahrheit über den Verbleib ihres Mannes gibt, genauso wenig moralisch verurteilt werden, wie der auf den Posten des Vorarbeiters spekulierende Gloomb, welcher Johanna unter Vorspiegelung falscher Tatsachen als Ersatzkraft für die Arbeit an eben jener Schneidemaschine gewinnen will, die ihn seine Hand gekostet hat (S.37ff.). Die aus bitterer Armut entspringende maßlose Schlechtigkeit und moralische Verkommenheit wird von den Oberen gefördert und für die eigenen Zwecke missbraucht, ein unhaltbarer Zustand, den Johanna durch einen Appell an die Menschlichkeit der Börsianer umkehren will. Sie platzt mit den Schwarzen Strohhüten in eine Auseinandersetzung zwischen allen am Fleischmarkt agierenden Parteien hinein, die sich darum dreht, dass Mauler durch große Verkäufe billigen Viehs die Preise in den Keller hat fallen lassen und nun von seinem Kompagnon Cridle die Auszahlung seiner Anteile fordert, was allerdings den sofortigen Ruin für dessen Fabrik bedeuten würde. Inmitten dieses Börsenkrachs taucht nun Johanna als Streiterin für die Belange der Arbeiter auf und stellt in ihrer Rede mehrmals unter Beweis, dass sie die Grundmechanismen des kapitalistischen Systems durchschaut hat. Nicht nur beklagt sie in biblischer Sprache die ‚gegen den Willen Gottes‘ geschehende Verteuerung der Grundnahrungsmittel und warnt die Mächtigen vor den Konsequenzen, die ihr unsoziales Verhalten am Tag des Jüngsten Gerichts für sie haben wird, sondern sie plädiert auch für eine Art aufgeklärten Kapitalismus. Bei einem Ansteigen der Löhne und marginalisiertem Profitinteresse der Unternehmer würde sowohl die Kaufkraft und damit der Absatz des den Markt überschwemmenden Fleisches steigen, als auch die soziale Spannung unter den Arbeitern abnehmen, weil diese dann nicht mehr dazu gezwungen wären, dem „Nächsten wegen einem Stückchen Schinken aufs Brot mit einer Axt über den Kopf“ (S.52) zu hauen. Die auf die Fabrikherren selbst zurückfallenden Folgen, welche ein dauerhaftes Dahinvegetieren der Armen in den Slums haben muss – ein gewaltsamer Aufstand - können nur durch die Aufhebung des rücksichtslosen Gewinnstrebens abgewendet werden. Johanna macht sich zum Sprachrohr der Arbeiterschaft, deren Sinn für das ‚Höhere‘[5] sie durch eine Verbesserung der materiellen Bedingungen zu erwecken hofft, ist jedoch nicht mehr ausschließlich in ihrer Eigenschaft als Heilsarmistin unterwegs, sondern eher als Sozialreformerin, die auf Anhieb gewisse Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftsapparats bzw. der Gesellschaftsordnung erkennt (sogar die Unglaubwürdigkeit der im Dienste der Herrschenden stehenden Medien (S.51)), allerdings trotzdem noch von menschlicher Güte und Nächstenliebe ausgeht.
Als sie Mauler die Armen zeigt und er sich bei deren Anblick, den er angeblich nicht ertragen kann, dazu entschließt, den Markt durch die Abnahme der kompletten Lagerbestände sowie dessen, was innerhalb der folgenden acht Wochen produziert wird, zu stützen, glaubt sie fest daran, dass die Arbeiter bald die Früchte ihres Einflusses auf den vermeintlichen Philanthropen Mauler in Gestalt der Wiedereröffnung der Fabriken ernten können. Dieser Optimismus schlägt in der nachfolgenden Szene, in welcher sich Mauler dazu verpflichtet, jegliches Vieh auf dem Markt aufzukaufen, in Gewissheit um : „Wenn die Vieh kaufen und die Vieh verkaufen befriedigt sind, wird es für euch wieder Brot geben“(S.66). Dass sich dies als Trugschluss herausstellt, erfährt sie, als die Armen wieder regelmäßig das Missionshaus aufzusuchen beginnen. Da den Packherren kein Vieh zur Verfügung steht, das sie schlachten können, bleiben die Fabriken weiterhin geschlossen; die Arbeiter sind im Winter immer noch ohne Obdach, seit einer Woche schon deckt sie der Schnee zu und lässt die Passanten ihre Existenz vergessen.
Mit ihrer kämpferischen Rede an die Adresse der Packherren tritt nunmehr eine Johanna auf, deren Einstellung zum Armutsproblem sich aufgrund weiterer Einsichten in das System zusehends verändert. Sie klagt die Tycoons der Verrohung, Ausbeutung und Misanthropie an, die „keine Ehrfurcht mehr vor dem (hat), was Menschenantlitz trägt“ (S.74), und malt ihnen das Bild der gewaltsamen Revolte zum Zweck eines menschenwürdigeren Daseins der Arbeiter an die Wand, in der die unbelehrbaren Verursacher des Elends durch die von ihnen Unterdrückten und Ausgebeuteten vernichtet werden. Johanna tritt zwar nicht explizit als Befürworterin von Gewalt zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse auf, kann aber anscheinend Verständnis für Gewalt als Verzweiflungstat oder Befreiungsakt aufbringen, sofern sie diese nicht persönlich ausüben muss.
„Turning to the meat packers, she warns them of what would happen once the tide turns and the poor resort to force and seize the factories. She is already learning her lessons and her attitude to the whole problem is also undergoing a change. The day may come when the workers would look on their exploiters, not as human beings, but as animals to be killed.“[6]
Die Rolle der institutionalisierten Religion der Schwarzen Strohhüte als von den Machthabern bezahltes Mittel zur Wogenglättung der explosiven Stimmung wird von Johanna ebenfalls entlarvt und mit der Vertreibung der drei Packherren geahndet (S.75), was ihren unmittelbaren Ausschluss von den Strohhüten zur Folge hat. In ihrem ungestümen Gerechtigkeitsempfinden verhält sie sich zwar zutiefst tugendhaft, ist aber aufgrund ihres Idealismus unfähig, die realen Konsequenzen für sich und ihre ehemaligen Mitstreiter abzuschätzen. Durch ihr geradliniges Handeln ohne jedwede Hintergedanken ist sie zwar in dieser Szene die moralisch Überlegenere, entzieht aber durch ihr Verhalten den Strohhüten die überlebensnotwendigen vierzig Monatsmieten und sich selbst ihr Obdach. An diesem Punkt wird Johanna zur tragischen Figur, welche auf der Basis ihres Erkenntniswillens zwar einen Teil ihrer ursprünglichen Naivität verloren und einige entscheidende Einsichten in das System gewonnen hat, sich jedoch gerade dadurch wie auch mit ihrem Anliegen, die Voraussetzungen für eine gute Welt zu schaffen, als Vermittlerin zwischen zwei kämpfende Fronten begibt, die sie unmöglich miteinander versöhnen kann. Die Einsicht, „that there are persons who deliberately inflict misfortune; that it is not just ‚fate‘“[7] lassen sie in ihrem missionarischen Eifer eine Aufgabe übernehmen, durch die sie in einen Lernprozess eintritt, welcher dazu führt, dass „she has finally come to understand the ‚system‘, with a few sitting on top, and the many down below – a see-saw“[8]. Jedoch lässt er Johanna auch als Opfer ihrer Berufung zurück.
2.2 Das Verhältnis zu Mauler
Es ist schwierig zu sagen, wieviel Einfluss Johanna auf Mauler wirklich ausüben kann, da sich alle von ihm getroffenen wirtschaftlichen Entscheidungen, zu denen er sich vordergründig durch sie bewegen lässt, als strategische Schachzüge im Kampf um die Monopolstellung entpuppen, welche durch Insider-Informationen von der New Yorker Wall Street veranlasst werden. Trotzdem scheint er in Johannas Gegenwart einer seltsamen Faszination erlegen zu sein („Mir ist, als weht aus einer andern Welt ein Hauch mich an.“(S.31)), die sich nicht nur auf ihr „unwissendes Gesicht“ (S.31) gründet, sondern vor allem auf die Solidarität mit den Armen und die Zielstrebigkeit bzw. Unkorrumpierbarkeit, mit der sie vorgeht. So schlägt sie vor dem ersten Besuch der Schlachthöfe das ihr offerierte Geld aus, genauso, wie sie es später unter den für sie wesentlich schwierigeren Umständen im Maulerschen ‚Asyl‘ tun wird, obwohl der angebotene Betrag ihr bei den Strohhüten für die folgenden vier Jahre eine sichere Unterkunft garantieren könnte (S.85). Ihn, der ebenso wie Johanna eine gespaltene Figur ist, beeindruckt die unentgeltliche Arbeit, die sie jeden Tag bei Regen und Hunger leistet, was er allerdings sauber von seinen geschäftlichen Transaktionen zu trennen weiß.
Dennoch ist es immer wieder ihre Persönlichkeit, welche die menschliche Saite in ihm zum Klingen bringt, etwa in der Szene, wo er in Slifts Gegenwart ihre moralische Unverderbtheit und Durchsetzungskraft gegenüber den Packherren lobt (S.79), kurz bevor Johanna selbst auf den Plan tritt und ihn um Unterkunft bittet. Die Tatsache, dass er beim Anblick ihres ausgezehrten Körpers zum ersten Mal Tränen vergießt und sich sofort um ihr leibliches Wohl kümmert (S.81) zeigt, dass er ihrem Schicksal alles andere als indifferent gegenübersteht. Sein Verlangen nach Absolution, die nur von ihr – der Personifikation des wahrhaft Guten – erteilt werden kann, illustriert die Autorität, welche er Johanna in moralischen Fragen einräumt. Maulers tiefe Bewunderung und (pseudo-)philanthropischen Neigungen kommen allerdings niemals mit seinem rationalen Kalkül und den Finanzspekulationen in Konflikt, weswegen Johanna das kleine Körnchen Menschlichkeit im rücksichtslosen Geschäftsmann letzlich umsonst beschwört. Sie erliegt dem Irrglauben, sie könne an eine von der Rolle des Fleischmagnaten losgelöste, isolierte Güte appellieren und diese gegen die ökonomischen Interessen Maulers in Gang setzen, welche jedoch immer Vorrang haben. Die Erwartung, ein im Grunde mitfühlendes und gutes Herz vorzufinden, ist die Grundlage ihres Besuchs, während dessen sie selbst ihre anfängliche Überzeugung, dass der Mensch nach Höherem streben müsse als nach einem vollen Magen, durch das gierige Verspeisen des Essens widerlegt. Sie besitzt nicht mehr die Qualitäten der von der Kanzel aus moralisierenden und resoluten Soldatin Gottes, sondern erscheint als auf ihre Grundbedürfnisse reduziert, als Stellvertreterin der Armen und damit als lebendes Beispiel für die Folgen der Maulerschen Arbeitsmarktpolitik. „However, she has to find out by her own example that the power of hunger is greater than ‚higher‘ concerns.(...) As Mauler feeds on her morals, Joan, starved like Mrs. Luckerniddle before her, gulps down the food from his hand, although she has just compared him to sinful Adam (...).[9] “
[...]
[1] Bertolt Brecht „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ × Alle in den Fußnoten oder im laufenden Text zitierten
Stellen haben die im Literaturverzeichnis aufgeführte Ausgabe zur Grundlage.
[2] Fenn (1982), S.126
[3] Herrmann (1986), S.317
[4] Fenn (1982), S.127
[5] Sie ist schließlich immer noch in ihrer Funktion als Soldatin Gottes verwurzelt.
[6] Fenn (1982), S.133
[7] Parmalee (1989), S.71
[8] Ewen (1970), S.265
[9] Knust (1997), S.100 f.
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