Der deutsche Sozialstaat steckt in der Krise. Diese These, von ihrer Gültigkeit einmal abgesehen, wird in Deutschland seit einigen Jahren heftig diskutiert. Bereits 2003 veröffentlichte Franz-Xaver Kaufmann das Buch „Varianten des Wohlfahrtsstaats: der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich“, welches sich intensiv mit den, und darauf legt Kaufmann besonderen Wert, unterschiedlichen Ursachen dieser Krise auseinandersetzt. Da werden die Folgen der Globalisierung als Verursacher der Krise benannt, an anderer Stelle wird Deutschland als schlechter Standort angeprangert oder aber es sind die demografischen Veränderungen, die den deutschen Sozialstaat mehr und mehr in Bedrängnis geraten lassen. Kaufmann zeigt mit seinem Werk, das nach knapp einem Jahrzehnt zwar an Aktualität, nicht aber an Relevanz eingebüßt hat, eindeutig die Entwicklung des deutschen Sozialstaats auf. Auf die Frage, was denn nun in Deutschland falsch gemacht wird, könnte fast zeitgleich die nächste folgen: Was machen andere Länder besser? Einfach gefragt: Was haben die, was wir nicht haben?
Um eine Antwort darauf zu erhalten, braucht es einige theoretische Grundlagen. Das Schlüsselwort lautet „Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung“ – die Wissenschaft, die sich mit den verschiedenen Theorien zum Vergleich von Wohlfahrtsstaaten beschäftigt. Als klassische Referenz wird hier Gøsta Esping-Andersen gesehen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Was versteht man unter Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat?
3. Das Modell Esping Andersens
3.1 Der Begriff „Wohlfahrtsstaat“ bei Esping-Andersen und konzeptionelle Vorgängermodelle:
3.2 Typologisierende Kriterien Esping-Andersens:
3.2.1 Dekommodifizierung
3.2.2 Soziale Stratifizierung
3.2.3 Abgrenzung zwischen Dekommodifizierung und Stratifizierung
3.2.4 Mischungsverhältnis von öffentlicher und privater Vorsorge
3.2.5 Defamilialisierung
3.2.6 Die Idealtypen – Ausgestaltung und Beharrungskraft
4. Modell des Wohlfahrtsstaates nach Esping-Andersen
4.1 Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat
4.2 Der konservative Wohlfahrtsstaat
4.3 Der liberale Wohlfahrtsstaat
4.4 Übersicht der Typologie
5. Der Vergleich mit der Realität
5.1 Schweden - sozialdemokratischer Typus aus dem Bilderbuch?
5.2 Deutschland – konservativer Typus durch und durch?
5.3 Großbritannien – liberaler Typus ohne Grenzen?
6. Modelle in der vergleichenden Politikwissenschaft - Risiken und Chancen
7. Alternativen für den Wohlfahrtstaat
8. Ein gesamteuropäischer Wohlfahrtstaat
9. Nationalstaatliche Lösungen am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland
9.1 Äußere Einflüsse: Globalisierung
9.2 Das Problem der „best practice“ in der Anwendung
10. Reformmöglichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland
10.1 Steuersystem
10.2 Gesundheitssystem
10.3 Bildungssystem
10.4 Arbeitsmarkt
10.5 Umbau des Wohlfahrtsstaates
10.6 Bedeutung der Erwerbstätigkeit im Wohlfahrtsstaat
11. Resümee
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der deutsche Sozialstaat steckt in der Krise. Diese These – von ihrer Gültigkeit einmal abgesehen – wird in Deutschland seit einigen Jahren heftig diskutiert. Bereits 2003 veröffentlichte Franz-Xaver Kaufmann das Buch „Varianten des Wohlfahrtsstaats: der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich“, welches sich intensiv mit den – und darauf legt Kaufmann besonderen Wert – unterschiedlichen Ursachen dieser Krise auseinandersetzt. Da werden die Folgen der Globalisierung als Verursacher der Krise benannt, an anderer Stelle wird Deutschland als schlechter Standort angeprangert oder aber es sind die demografischen Veränderungen, die den deutschen Sozialstaat mehr und mehr in Bedrängnis geraten lassen. Kaufmann zeigt mit seinem Werk, das nach knapp einem Jahrzehnt zwar an Aktualität, nicht aber an Relevanz eingebüßt hat, eindeutig die Entwicklung des deutschen Sozialstaats auf. Auf die Frage, was denn nun in Deutschland falsch gemacht wird, könnte fast zeitgleich die nächste folgen: Was machen andere Länder besser? Einfach gefragt: Was haben die, was wir nicht haben?
Um eine Antwort darauf zu erhalten, braucht es einige theoretische Grundlagen. Das Schlüsselwort lautet „Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung“ – die Wissenschaft, die sich mit den verschiedenen Theorien zum Vergleich von Wohlfahrtsstaaten beschäftigt. Als klassische Referenz wird hier Gøsta Esping-Andersen gesehen.
2. Was versteht man unter Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat?
Bevor eingehender auf die Wohlfahrtsstaatstypologie Esping-Andersons eingegangen wird, soll ein kurzer Überblick über den aktuellen Stand des Begriffes „Wohlfahrtsstaat“ in sozialwissenschaftlicher Sicht dargestellt werden. Dabei ist sofort anzumerken, dass bezüglich dieses Begriffes eine Fülle von diffusen Definitionen existiert. Generell aber herrscht eine Übereinstimmung darüber, „dass das Wort einen Wandel des Staatsbegriffes, genauer gesagt einen Zuwachs an Staatsaufgaben anzeigt“[1]. Die erstmalige Verwendung des Begriffs geht zurück in das Jahr 1941, wo der anglikanische Erzbischof Temple in einem Traktat ,,Citizen and Churchman“ schrieb:
„In place of the concept of the Power State we are led to that of the Welfare State”.
Dieser Begriff des „Welfare State“ (Wohlfahrtsstaat) findet bis heute in der sozialwissenschaftlichen Literatur drei verschiedene Interpretationen:
- Zum einen wird der Ausbau von Leistungen für die ärmste Bevölkerungsschicht als das typische Element für den Wohlfahrtsstaat angesehen.
- Eine andere Herangehensweise an diesen Begriff führt auf die ,,Arbeiterfrage“ zurück und sieht dabei „im Arbeitsrecht und im Ausbau des Sozialversicherungswesens das entscheidende Moment wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung“[2].
- Eine letzte Denkrichtung bezieht sich auf die soziale Verantwortlichkeit des Staates für alle involvierten Bürger und betont als wohlfahrtsstaatliche Entwicklungstendenz den Ausbau von sozialen Rechten.
Zur theoretischen Definition des Begriffes der Wohlfahrtsstaatlichkeit soll sich anhand dieser
drei Denkrichtungen an der dritten Variante orientiert werden. Diese universalistische Ausrichtung des Wohlfahrtsstaatskonzepts involviert in gewisser Weise die beiden vorher erwähnten Konzepte und lässt sich bereits in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948 erkennen. Darin steht unter anderem im Artikel 22:
,,Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf Soziale Sicherheit [...]“.
Wenn bisher hauptsächlich von der angelsächsischen Bezeichnung „Welfare State“ gesprochen wurde und dieser Begriff im genannten Sprachraum mit positiven Konnotationen verbunden wurde, so hatte der ambivalente Begriff „Wohlfahrtsstaat“ oder „Sozialstaat“ in Deutschland oftmals eine abwertende Assoziation. Dieses lag in den 50er Jahren vor allem daran, dass mit ihm ein Übermaß an staatlichen Eingriffen verbunden wurde. Im deutschen Sprachraum hatten vor allem die Begriffe „Sozialpolitik“ bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts und der Begriff „Sozialstaat“ den normativen Charakter, den der Begriff „Welfare State“ im angelsächsischen Sprachraum trug. Allerdings ist generell bei all diesen Begriffen zu beachten, dass es sich um „ideele Konstrukte“[3] handelt, die hauptsächlich in wissenschaftlichen Diskursen eine Rolle spielen.
An dieser Stelle soll nun ein definitorischer Begriff erstellt werden, der es im weiteren Verlauf der Arbeit erlaubt, das Konzept des Wohlfahrtsstaates in seinen politischen und sozialen Komponenten deutlich zu machen:
„Unter Wohlfahrtsstaat [versteht man] die politische Verfassung von Gesellschaften des privatkapitalistisch gesteuerten Modernisierungstyps, die die [Anm.: die Gesellschaften] Folgeprobleme ihrer Modernisierung auf der Individualebene mit Hilfe der Einräumung von sozialen Rechten und der Schaffung bzw. Förderung von Einrichtungen zur Gewährleistung dieser Rechte zu lösen versuchen“.[4]
Der Begriff des Sozialstaats, der vor allem in Deutschland Verwendung findet, bezeichnet ein Alternativkonzept zu dem umfassenderen Wohlfahrtsstaat, der durch die Begleitung von der Wiege bis zur Bahre gesellschaftliche Freiräume gefährdet.[5]
Nach einer allgemeinen sozialwissenschaftlichen Bestimmung dessen, was unter „Wohlfahrtsstaat“ und Sozialstaat zu verstehen ist, soll nun auf die Sichtweise Esping-Andersens eingegangen werden.
3. Das Modell Esping Andersens
3.1 Der Begriff „Wohlfahrtsstaat“ bei Esping-Andersen und konzeptionelle Vorgängermodelle:
Der Soziologe Esping-Andersen erwähnt bezüglich der Definierung des Wohlfahrtsstaatsbegriffs das „Sozialausgaben [...] nur Begleiterscheinungen dessen [sind], was die theoretische Substanz des Wohlfahrtsstaates ausmacht“[6]. Vielmehr bezieht er sich auf die konzeptionellen Aussagen von Therborn (1983) und Richard Titmuss (1958). Therborn schlägt per definitorum vor, dass ein „wahrhaftiger Wohlfahrtsstaat die Mehrzahl seiner alltäglichen Routinehandlungen in den Dienst der Wohlfahrtsbedürfnisse der Haushalte stellt“(ebd. S.16). Diese These hat allerdings insofern weitreichende Konsequenzen, weil danach einige, als Wohlfahrtsstaaten bezeichnete Nationen, nicht diesem Konzept entsprechen. Als einen zweiten konzeptionellen Ansatz erwähnt Esping-Andersen die Idee von Richard Titmuss (1958), nach der eine Unterscheidung von residualen, leistungsbasierten und institutionellen Wohlfahrtsstaaten zu vollziehen ist. Residuale Wohlfahrtsstaaten meinen, dass die staatliche Verantwortung erst da beginnt, wo Familie und Markt funktionieren und nur gesellschaftliche Randgruppen ein staatliches Engagement benötigen. Leistungsbasierte Wohlfahrtsstaaten haben die Sozialversicherung als bestimmende Absicherungsform, deren Leistungsansprüche an die Erwerbsarbeit des Einzelnen gekoppelt sind. Institutionelle Wohlfahrtstaaten hingegen sind universalistisch und dehnen ihre Aktivitäten auf alle gesellschaftlich relevanten Bereiche aus. Ausgehend von dieser Dreigliederung der Wohlfahrtsstaatlichkeit durch Titmuss, kann man nun den Wohlfahrtstypologie-Ansatz Esping-Andersens erstellen.
3.2 Typologisierende Kriterien Esping-Andersens:
Wie bereits erwähnt, greift Esping-Andersen an dem Modell von Richard Titmuss (1958) an und entwickelt dieses empirisch und theoretisch weiter. Dabei grenzt er sich von der eindimensionalen Unterscheidung der Wohlfahrtsstaaten durch bloße Kategorialisierung (z.B. Beveridge-Plan und Bismarck-Modell, vor allem Messung anhand von Sozialleistungsquoten) ab und versucht eine differenzierte Pluralität von Wohlfahrtsstaaten zu erarbeiten. Die daraus resultierende Typologie der „Drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ wurde als ein Wendepunkt in der Wohlfahrtsstaatsforschung und -theorie angesehen. Als Ausgangspunkt seiner Typologie von Wohlfahrtsstaaten sieht Esping-Andersen die „Aufgabenteilung zwischen Staat, Markt und Familie bei der Wohlfahrtsproduktion“[7]. Diesen Ausgangspunkt ermittelt Esping-Andersen im Rahmen der politischen Ökonomie, wobei vor allem das Verhältnis zwischen Staat und Markt beachtet wird. Von großem Interesse ist dabei, wie die kapitalistisch bedingte Spaltung innerhalb der Gesellschaft durch eine parlamentarische Demokratie (Politikfeld: Sozialpolitik) verhindert werden kann. Innerhalb der politischen Ökonomie gab es wechselnde Ansichten bezüglich des Aufgabenverhältnisses: Liberale Theoretiker (Adam Smith) sahen die Funktion des Marktes in der Abschaffung von Ungleichheiten und Privilegien. Im Staat sahen die Liberalen eine Bedrohung für die Freiheit des Einzelnen. Von konservativer Seite war der Staat hingegen ein Garant für das Funktionieren des Marktes und demnach ein gewisses Maß an sozialer Sicherung ein Mittel zur Erfüllung dieser staatlichen Funktion. Von sozialistischer Seite wurde der Staat als „ein Instrument zur Verteidigung kapitalistischer Klassenherrschaft“[8] angesehen. Um dem Spannungsverhältnis zwischen Markt und Staat und der daraus resultierenden Spaltung der Gesellschaft bei der Bestimmung von Wohlfahrtsstaatlichkeit gerecht zu werden, nimmt Esping-Andersen das bloße Leistungsniveau (Höhe der Sozialausgaben) nicht als einzigen Wohlfahrts-Indikator. Anhand dieser, nicht bloß nach kategorischen Aspekten vorgehenden, Analyse von Wohlfahrtsstaatlichkeit, wird eine Respezifizierung des Wohlfahrtsstaates aufgenommen. Zu diesem Zwecke greift Andersen auf einen Vorschlag von T.H. Marshall (1950) zurück:
„Die soziale Staatsbürgerschaft [ist] die zentrale Idee eines Wohlfahrtsstaates [...]“.
Anhand dessen versucht Esping-Andersen die Elemente einer sozialen Staatsbürgerschaft und demnach die Kriterien seiner Typologie zu benennen. Die Typologie Esping-Andersens will den Wohlfahrtsstaat in seiner Gesamtheit beschreiben und erklären. Das Instrumentarium, das Esping-Andersen verwendet, zielt auf die Abbildung des Verhältnisses von Staat, Markt und Familie zueinander ab. Mit Hilfe von Indikatoren, die sich jeweils aus mehreren Bestandteilen zusammensetzen, werden Dekommodifizierung, Stratifizierung, das Mischungsverhältnis von privater und öffentlicher Vorsorge sowie Defamilialisierung gemessen. Mit Ausnahme der Defamilialisierung, die erst als Reaktion auf die feministische Kritik in die Analyse aufgenommen wurde, stammen diese Konzepte aus der Drei-Welten-Studie von 1990[9].
3.2.1 Dekommodifizierung
„Die Frage sozialer Rechte stellt sich daher als eine der Dekommodifizierung, d. h. der Bereitstellung alternativer, nicht marktförmiger Mittel der Wohlfahrtsproduktion. Dekommodifizierung kann sich entweder auf die erbrachten Dienste oder den Status einer Person beziehen, aber in jedem Fall steht sie für das Maß, in dem Verteilungsfragen vom Marktmechanismus entkoppelt sind. Das bedeutet, dass die bloße Existenz von Sozialfürsorge oder Sozialversicherung nicht notwendigerweise auch eine spürbare Dekommodifizierung mit sich bringt, solange sie die Individuen nicht substantiell von ihrer Marktabhängigkeit befreit“[10].
Die Schlüsselgrößen der Dekommodifizierung sind:
- Ein großzügig geregelter Zugang zu den Versicherungsleistungen anstelle streng definierter Zugangsvoraussetzungen
- Schwache oder gänzlich fehlende ökonomische Abschreckungseffekte
- Die Annäherung der Sozialleistungen an das durchschnittliche Erwerbseinkommen
- Die relative Größe des vom jeweiligen Sozialprogramm erfassten Personenkreises[11].
Dekommodifizierung wird von Esping-Andersen wie folgt beschrieben: „[...], the concept [of decommodification] refers to the degree to which individuals, or families, can uphold socially acceptable standard of living independently of market participation.“[12] Dieser Index ist von Esping-Andersen auch zur Einteilung der untersuchten Länder verwendet worden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenGrad der Dekommodifizierung[13]
3.2.2 Soziale Stratifizierung
„Die grundlegende Frage aber lautet, welches System der Stratifizierung durch Sozialpolitik gefördert wird. Der Wohlfahrtsstaat ist nicht allein ein Instrument zur Beeinflussung und gegebenenfalls Korrektur der gesellschaftlichen Ungleichheitsstruktur. Er stellt vielmehr ein eigenständiges System der Stratifizierung dar, indem er in aktiver und direkter Weise soziale Beziehungsmuster ordnet. In historischer und vergleichender Perspektive können wir ohne Schwierigkeiten unterschiedliche, in Wohlfahrtsstaaten eingelassene, Stratifizierungssysteme ausmachen. Die frühere Armenhilfe und ihre heutigen sozialfürsorgerischen Ableger waren bzw. sind in offensichtlich stratifizierender Absicht entwickelt worden. Indem sie die Empfänger bestraft und stigmatisiert, sorgt diese Art der Hilfe für heftige soziale Gegensätze (…)“[14].
Esping-Andersen entwickelt das Konzept der Stratifizierung, um die Auswirkungen der staatlichen Wohlfahrtssicherung auf die gesellschaftliche Schichtung abzubilden. Aus seinen historischen Vorbetrachtungen zur empirischen Untersuchung der Wohlfahrtsstaaten ergibt sich, dass die obengenannten politischen Kräfte nicht nur die Dekommodifizierung betreffend bei der Implementierung des Wohlfahrtsstaats unterschiedliche Zielsetzungen hatten, sondern auch die Schichtung der Gesellschaft beeinflussen wollten[15]. Die liberale Zielsetzung wäre etwa die Förderung der Marktteilnahme für alle und staatliche Unterstützung für diejenigen, die sich am Arbeitsmarkt nicht bewähren und sich nicht selbst versichern können. Sie würde durch bedarfsgeprüfte Leistungen sowie staatliche Unterstützung privater Vorsorge umgesetzt. Die Verwirklichung konservativer und etatistischer Vorstellungen - Perpetuierung der bestehenden gesellschaftlichen Schichtung und Förderung von Staatstreue – würde durch statusbewahrende, nach Berufsgruppen differenzierte Versicherungen und besondere Sicherungssysteme für Beamte erzielt. Egalitäre Ziele sind ein wesentliches Merkmal sozialdemokratischen Gedankengutes und würden durch universalistische sozialstaatliche Leistungen erreicht. Welche Vorstellungen in die Realität umgesetzt wurden, hing davon ab, welche Kräfte sich im Ringen um die politische Macht am effektivsten durchsetzen konnten. Eine einmal getroffene Entscheidung für ein System hatte dann nach Esping-Andersen große Prägekraft für die Zukunft[16]. Unterschiede sollten also bis in die Gegenwart hinein feststellbar sein. Inwieweit die Wohlfahrtsstaaten heute auf die gesellschaftliche Schichtung wirken, untersucht er empirisch mit Indikatoren zur Stratifizierung. Für die Operationalisierung der konservativen Dimension verwendet er die Anzahl der Rentensysteme (z.B. unterschiedliche Sicherungssysteme für unterschiedliche Berufsgruppen) sowie die Ausgaben für Beamtenpensionen als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts. Je höher die Anzahl der Rentensysteme und je substantieller die Ausgaben für Beamtenpensionen, desto stärker die konservative Ausrichtung der Sicherungssysteme. Denn über Beamtenpensionen, über die meist eine ausgeprägte Privilegierung der Staatsbediensteten erreicht wird, versucht der Staat als Arbeitgeber, sich deren Loyalität zu sichern. Liberale Tendenzen deckt er durch die Messung des Anteils an bedarfsgeprüften Leistungen an den gesamten Sozialausgaben sowie durch die Ausgaben für private Renten- und Krankenversicherungen als Anteil an den Gesamtausgaben für Renten- bzw. Krankenversicherungen auf. Hierbei gilt, dass ein liberaler Wohlfahrtsstaat einen hohen Anteil an bedarfsgeprüften Leistungen und privater Alters- und Krankheitsvorsorge aufweisen würde. Um sozialdemokratische Stratifizierungsprinzipien nachzuweisen, misst er zum einen, welcher Prozentsatz der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren von den staatlichen Renten- und Krankenversicherungen abgedeckt wird. Ein hoher Deckungsgrad weist auf sozialdemokratische Tendenzen hin. Zum anderen prüft er, wie das Verhältnis von durchschnittlicher zu maximaler Leistungshöhe in den behandelten Sicherungszweigen ausfällt. Sozialdemokratische Regime sollten eine niedrige, konservative eine deutliche höhere Ratio erreichen. Liberale Regime werden von dieser Variable in einigen Fällen nur unzureichend erfasst, da sie in einigen Ländern (Australien u.a.) universalistische Leistungen auf niedrigem Niveau auszahlen, das Verhältnis von durchschnittlichen zu maximalen Leistungen also immer gleich eins wäre. Auch hier wird – ähnlich wie bei der Operationalisierung der Dekommodifizierung – eine Datentransformation für jeden Indikator durchgeführt[17].
3.2.3 Abgrenzung zwischen Dekommodifizierung und Stratifizierung
Die Dekommodifizierung misst den Grad der sorgenfreien Lebensführung ohne individuellen Markterfolg, während die Stratifizierung zeigt, welche Effekte ein Sozialsystem auf die Gesellschaft ausübt.
3.2.4 Mischungsverhältnis von öffentlicher und privater Vorsorge
Ein Indikator, der mit dem der Stratifizierung in engem Zusammenhang steht und das Gewicht marktförmiger Wohlfahrtssicherung abbildet,[18] ist das Mischungsverhältnis von öffentlicher und privater Vorsorge (public-private mix), wie es Esping-Andersen im vierten Kapitel von „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ am Beispiel des Rentensystems beschreibt. Um zwischen öffentlichen und privaten Maßnahmen zur Altersvorsorge zu unterscheiden, beurteilt Esping-Andersen ihren rechtlichen Status. Staatlich sind Rentensysteme dann, wenn sie in ihrer Ausgestaltung durch Gesetze bestimmt sind und staatlich verwaltet werden oder wenn der private Sektor ausdrücklich durch gesetzliche Bestimmungen dazu verpflichtet wird, Leistungen der Alterssicherung in einer vorgegebenen Art und Weise bereitzustellen. Beamtenpensionen sind ein Sonderfall – sie sind gesetzlich geregelt und werden vom Staat organisiert, reflektieren jedoch dessen Eigenschaft als Arbeitgeber und den Versuch des Staates, die Loyalität der Beamten über Privilegierung an sich zu binden. Rein privat sind Betriebsrenten und alle individuellen Absicherungen. Welches Mischungsverhältnis in einem Land vorliegt, misst Esping-Andersen daran, welcher Anteil des Bruttoinlandsprodukts (im Folgenden abgekürzt mit BIP) für staatliche Renten, Beamtenpensionen, Betriebsrenten und individuelle Rentenversicherungen ausgegeben wird. Noch deutlicher werden die Relationen, wenn man jeweils die Anteile für die einzelnen Rentenformen zu den gesamten Rentenausgaben in Beziehung setzt. Als weiteren Indikator nutzt er Daten über die Einkommensquellen (Erwerbstätigkeit, Kapitalerträge, Privatrenten und staatliche Renten) von Haushalten, in denen der Vorstand über 65 Jahre alt ist. Ergebnis dieser Analyse des Mischungsverhältnisses ist, dass in den liberal geprägten angelsächsischen Ländern private Vorsorgemaßnahmen ein deutlich höheres Gewicht haben als in den kontinentaleuropäischen Nationen, wo durch die staatliche Versicherung ein relativ hoher Deckungsgrad in der Bevölkerung erreicht wird. In den skandinavischen Ländern – dem sozialdemokratischen Regimecluster – dominiert staatliche Vorsorge dagegen völlig.
[...]
[1] Kaufmann, Franz-Xaver (2005), S.186
[2] Kaufmann, Franz-Xaver ( 2005), S.186
[3] Kaufmann, Franz-Xaver (2005), S.188
[4] Kaufmann, Franz-Xaver (2005), S.190
[5] Nohlen, Dieter (2001), S.581
[6] Esping-Andersen, Gosta (1998), S.15
[7] Ulrich, Carsten G. (2005), S.43
[8] Ulrich, Carsten G. (2005), S.44
[9] Vgl. Esping-Andersen, Gøsta (1999), S.71
[10] Esping-Andersen, Gosta (1998), S.15
[11] Vgl. Schmid, Josef (2003); S.220f
[12] Esping-Andersen, Gosta (1990), S.35
[13] Esping-Andersen, Gosta (1990), S.52
[14] Esping-Andersen (1998), S.39
[15] Vgl. Esping-Andersen (1998), S.23ff
[16] Vgl. Esping-Andersen (1998), S.69
[17] Vgl. Esping-Andersen (1998), S.69-78
[18] Vgl. Esping-Andersen (1998), S.78-104
- Arbeit zitieren
- Burkhard Schröter (Autor:in), 2009, Sozialpolitik und Soziale Arbeit in Europa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139677