Deutsche Sprachminderheiten in der Ukraine

Proseminararbeit


Seminararbeit, 2009

58 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Geographische Lage

3. Statistik und Demographie

4. Zur Geschichte der deutschen Sprachinseln in der Ukraine
4.1. Die frühen deutschen Ansiedlungen (12.-14.Jh.)
4.2. Die Entstehung der heutigen deutschsprachigen Siedlungen
4.2.1. Pull-Faktoren
4.2.2. Push-Faktoren
4.2.3. Emigration aus Deutschland
4.3. Regional differenzierte Siedlungsgeschichte der Deutschukrainer
4.4. Erster Weltkrieg und anschließende sprachliche Blütezeit
4.5. Staatliche Übergriffe: Verschleppung, Flucht und Repatriierung
4.6. Die deutschsprachige Minderheit im Kontext der politischen Wende

5. Spracherhaltende Aktivitäten der deutschen Kolonisten
5.1. Die Wiederbelebung des kulturellen Lebens der Deutschen
5.2. Der Deutschunterricht in den Schulen der Ukraine
5.3. Deutschsprachige Medien

6. Soziolinguistische Situation
6.1. Entwicklung des Multilinguismus durch Kontaktsprachen
6.2. Sprachformen: Verteilung innerhalb der Sprecher
6.3. Code Switching - Sprachmischung
6.4. Fünf Phasen des Sprachwechsels nach Melika
6.5. Dialekte
6.5.1. Allgemein
6.5.2. Sprachliche Charakteristika der deutschen Mundarten in der Ukraine
6.6. Sprachformen des Deutschen
6.6.1. Deutsche Mundarten: „Schwobisch“
6.6.2. Hochdeutsch
6.6.3. Passiver Sprachgebrauch

7. Sprachgebrauch
7.1. Diglossie und Sprachstatus
7.1.1. Außendiglossie: Russisch/Ukrainisch - Deutsch
7.1.2. Binnendiglossie: Hochdeutsch - „Schwobisch“
7.1.3. Sprachkompetenz eines durchschnittlichen Deutschukrainers
7.2. Erklärungsversuch für die Sprachassimilation

8. Schlusswort

9. Anhang: Sprachgebrauchsbestimmende Faktoren

10. Litera tur

Begriffsdefinitionen

Die deutschen Kolonisten:

Wird nicht im politischen Sinne gebraucht, also nicht für Jemanden der expandierend kolonisiert beziehungsweise für Jemanden, der in einer Kolonie wohnt, sondern für Jemanden, der zur wirtschaftlichen Entwicklung rückständiger Regionen in ein anderes Gebiet seines eigenen Landes zieht beziehungsweise in einen anderen Staat übersiedelt.[1]

Code[2]:

Der linguistische Begriff „Code“ umfasst solche Kategorien wie Varietäten, Soziolekte, Dialekte, Stile, Textsorten oder auch grammatische Marker. Unter einem Code müssen auch paraverbale, nichtsprachliche Subcodes wie Gesten erfasst werden.

Diglossie (gr. di=doppelt, gr. glossa=Sprache):

Diese Form des Bilingualismus bezieht sich nach Konzeption von C. Ferguson nicht auf zwei eigenständige Sprachen, sondern auf Varietäten derselben Sprache, die sich in einem „ hierar- chischem Gef ä lle befinden. “ [3] Wobei einer der Varietäten als niedrig (low-variety) und die andere als hoch (high-varietyÆ Leitvarietät) charakterisiert wird. Das beruht entweder auf einer unterschiedlichen Sprachverwendung zwischen differenzierten sozialen Schichten, also auf einem unterschiedlichen Sprachniveau, vor allem aber auf einem unterschiedlichen Pres- tige beider Varietäten.[4] Somit haben wir eine Koexistenz von zwei Sprachvarietäten vorlie- gen, von denen eine die Sprache mit gesellschaftlichem Prestige darstellt und in offiziellen und öffentlichen Sprachdomänen Verwendung findet, während die andere Sprachvarietät mit geringem gesellschaftlichen Prestige zumeist auf die Domäne der Familie beschränkt bleibt. [5] In neuerer Zeit wird der Begriff inhaltlich ausgeweitet: Hierbei muss man die Varietäten in- nerhalb derselben Sprache (Binnendiglossie) von Variet ä ten unterschiedlicher Sprachen (Au ß endiglossie) unterscheiden, „ die in keinem direkten Verwandtschaftsverh ä ltnis stehen und einen funktional unterschiedlichen Anwendungsbereich besitzen. “ [6]

Ruthenisch/Russnakisch:

Für die Mundart der Ukrainer wird traditionell die Bezeichnung ruthenisch oder russnakisch verwendet. Wenn nicht anders angegeben wird in dieser Arbeit Ruthenisch synonym mit Ukrainisch behandelt.

Schwaben/Schwoben:

So wird verallgemeinernd die deutsche Bevölkerung in der Ukraine genannt, obwohl sie ihrer Herkunft nach aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen abstammt.[7]

Sprachminderheit:

Zahlenmäßig kleinere Sprachgemeinschaft, die mit (einer) größeren Sprachgemeinschaft (en) in einem Gemeinwesen zusammenlebt. [8] Die Möglichkeit der Majorisierung birgt grundsätz- lich die Gefahr der Unterdrückung, vor allem der übermäßigen Einschränkung von sprachli- chen Rechten.

Multilinguismus (Mehrsprachigkeit):

Bezeichnung für den Zustand einzelner Personen oder einer sozialen Gemeinschaft, die sich bei der täglichen Kommunikation mehrerer unterschiedlicher Sprachen auf annähernd gleichem Sprachniveau bedienen.[9]

Bilingualismus (Zweisprachigkeit):

Bilingualismus ist die Fähigkeit eines Sprechers oder einer Sprachgemeinschaft sich bei der täglichen Kommunikation, zweier unterschiedlicher Sprachen auf annähernd gleichem Sprachniveau zu bedienen.[10]

Domäne (engl. domain: Bereich):

Der Begriff stammt aus der Soziolinguistik und bezeichnet einen bestimmten sozialen Be- reich, wie zum Beispiel die Familie, Schule oder Öffentlichkeit, der typischerweise von ge- meinsamen Verhaltensregeln gesteuert wird.[11] Das Konzept wird zur Beschreibung des Sprachwechsel in multilingualen und/oder diglossischen Sprachgemeinschaften angewandt, wo verschiedenen Domänen verschiedene Sprachen oder Varietäten entsprechen.[12]

Bilinguale Homophonie“[13]:

Darunter versteht man gleichlautende Wörter in genetisch eng verwandten Sprachen, die semantisch nichts miteinander gemeinsam haben müssen.

Sprachinsel:

Eine Sprachinsel ist eine kleine lokale oder regionale Sprachgemeinschaft innerhalb eines

größeren anderssprachigen Gebietes, die von einer oder mehreren anderen Sprachen umgeben ist und folglich keine direkte geografische, wirtschaftliche oder politische Anbindung an den ursprünglichen Sprachraum aufweist.[14] Je nach dem Grad der Verwandtschaft mit der überdachenden Sprache werden Außensprachinseln (von einer Fremdsprache überdacht) von Binnensprachinseln (von einer genetisch verwandten Sprache überdacht bzw. derselben Stan- dardsprache zugehörig) unterschieden.[15]

Gewährsperson (auch unter der Bezeichnung „Informant“ Usus):

Sprecher einer „natürlichen Erstsprache (Muttersprache)“[16], der einem Linguisten als Informationsquelle dient, z.B. bei der Erfassung bestimmter sprachlicher Phänomene oder der Erforschung unbekannter Sprachen.[17]

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: DIE GEOGRAPHISCHE LAGE DER UKRAINE. Online unter URL: < http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8f/Ukraine_topo_de.jpg > (29.04.09).

Abbildung 2: GEOGRAPHISCHE VERTEILUNG DER DEUTSCHEN IN DER UKRAINE. Eigene Grafik, Datengrundlage: HVOZDYAK (2008, S.141).

Abbildung 3: AUSWANDERUNG VON DEUTSCHEN NACH RUSSLAND IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT. In: HECKER (1994, S.16).

Abbildung 4: UKRAINE - REGIONEN MIT HERRSCHAFTSBEZOGENEN NAMEN Online unter URL: < http://www.face-music.ch/Bilder/hisukr.jpg > (01.05.09).

Abbildung 5: DEUTSCHE MUNDARTEN IN DER UKRAINE. Eigene Abbildung, in gekürzter Fassung nach SCHIRMUNSKI ( 1928 , S.64 ) .

Abbildung 6: SPRACHKOMPETENZ EINES DURCHSCHNITTLICHEN DEUTSCHUKRA- INERS(FIKTIVE DARSTELLUNG). In: ROSENBERG (1993, S.123).

Abbildung 7: TAXONOMIE STRUKTURELLER VARIABLEN DER VITALITÄT VON SPRACHMINDERHEITEN. In: ROSENBERG (1993, S. 115).

Abbildung 8: STEUERUNGSFAKTOREN FÜR SPRACHBEWAHRUNG UND SPRACH- WECHSEL BEI DEN DEUTSCHEN DER SOWJETUNION. In: ROSENBERG (1993,S.126).

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: DEUTSCHE BEVÖLKERUNG IN DER UKRAINE (VOLKSZÄHLUNGEN 1979, 1989, 2001). Eigene Tabelle, übernommen nach HVOZDYAK (2008, S.86).

Tabelle 2: SPRECHERTYPEN NACH GENERATIONEN. Eigene Tabelle, übernommen nach HVOZDYAK (2008, S.106), mit eigenen Erg ä nzungen.

Tabelle 3: FÜNF PHASEN DES SPRACHWECHSELS NACH MELIKA. Eigene Tabelle, in stark gekürzter Fassung nach HVOZDYAK (2008, S.108).

1. Einleitung

Deutsche in der Ukraine gelten lediglich als Teilbereich der Forschung über die Rußlanddeutschen. Die Personengruppe dieser „Russlanddeutschen“ verbindet man traditionell mit den Nachfahren deutscher Kolonisten, die auf Erlass der Zarin Katharina II. von 1763 ins Zarenreich gelangten und am Schwarzen Meer und an der Wolga, in ihren traditionellen Siedlungsgebieten, zum Aufbau des Landes beitrugen.

Leider finden die Ukrainedeutschen wie HILKES beklagt, weniger öffentliche Aufmerksam- keit, als die noch mehr als 500.000 in Westsibirien lebenden Russlanddeutschen. [18] Die Deutschukrainer sind somit vergleichsweise „ selten Thema in Monographien und Sammel- b ä nden zur Geschichte und Situation der Ru ß landdeutschen[ … ]. “ [19] Außerdem wurde die wissenschaftliche Untersuchung über die in der Sowjetunion lebenden Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg bis zur Ära Gorbatschow politisch blockiert und dementsprechend gab es keinerlei Informationen über den aktiven Sprachgebrauch der deutschen Minderheiten.[20] Folglich stellten die ukrainedeutschen Sprachinseln in der Bundesrepublik lange Zeit eine weitestgehend unbekannte deutsche Sprachminderheit dar[21], über die fast keine Informationen vorhanden waren „ [ … ] als h ä tten sie hier[Erkl ä rung: in der Ukraine] nicht existiert.[22] Dabei ist die Sprachgemeinschaft von besonderem Interesse, da sich hier nicht, wie vielleicht vermutet, die hochdeutsche Standardsprache als Verkehrsvarietät herausbildete, sondern Mischvarietäten (Schwobische Mundarten) entstanden, die so in keinem binnendeutschen Dialekt auftreten.[23]

In dieser Arbeit sollen folgende Aspekte angesprochen werden: Zum Erhalt eines ersten Überblicks sollen die geographische Lage und der Bereich der Statistik und Demographie einen elementaren Beitrag leisten. Die wechselvolle historische Entwicklung anhand derer die Entstehung der deutschen Siedlungen als Ursache und Ausgangsbasis für Prozesse des Sprachwandels- und der Sprachassimilation erläutert wird, muss dem Bereich der Soziolingu- istik vorangestellt werden, um den heutigen -sofern noch vorhandenen- deutschen Sprachsta- tus bzw. die Sprachaktivität erklären zu können. Schließlich stellen die Deportationen im zweiten Weltkrieg die entscheidende Zäsur in der weiteren Sprachentwicklung der Russland- deutschen dar, die ursächlich für die Zerstörungen der geschlossenen deutschen Siedlungen, der wichtigsten Existenzgrundlage deutscher Sprache, waren.

Wie sich der immer stärker werdende russisch/ukrainische/ruthenische Spracheinfluss der Kontaktsprachen auswirkt, soll anhand aktueller Interferenzen an praktischen Beispielen aufgezeigt werden.

Auch die Funktionsaufteilung zwischen der deutschen Sprache in den Domänen der Familie und der Öffentlichkeit, die scharf ausgeprägte doppelte Diglossiesituation, die mit der Stigmatisierung des Deutschen zum Faschismus einherging, soll unter der Rubrik des Sprachge- brauchs ergründet werden.

Zum Schluss werden die sprachökologischen Bedingungen für Sprachbewahrung und Sprachwechsel der deutschen Sprache in der Ukraine beschrieben, anhand derer sich der Leser ein eigenes Bild über die Faktorenvielfalt einer Sprachgemeinschaft machen kann, die ihre Vitalität maßgeblich bestimmt.

Lassen wir uns also nach Viktor Schirmunski auf dieses „ sprachwissenschaftliche Laboratorium [Ukraine] “ ein, in dem wir in einer kurzen Zeitspanne von „ 100 bis 150 Jahren Entwicklungen verfolgen k ö nnen, die sich im Mutterland in mehreren Jahrhunderten abgespielt haben m ü ssen. “ [24] Bei diesem Erkenntnisgewinn wünsche ich viel Freude[25].

2. Geographische Lage

Die Ukraine, die sich als größter vollständig in Europa liegender Staat über eine Fläche von 603.700 km2 erstreckt, grenzt im Norden an Weißrussland, im Nordosten und Osten an Russ- land, im Nordwesten an Polen, im Westen an die Slowakei, im Südwesten an Ungarn sowie an Rumänien und Moldawien. Am Schwarzen und Asowschen Meer bildet der Staat seine südliche Grenze. Der seit dem 24. August 1991 selbstständige Staat grenzt somit an insgesamt sieben Länder an. Mit Ausnahme der Karpaten im äußersten Westen und dem Krimgebirge ist das Land weitestgehend eben. Klimatisch liegt ein überwiegend gemäßigtes Kontinentalklima vor, das in Richtung Süden von subtropischen Abschnitten abgelöst wird.[26] Die Vegetation wird dabei von Mischwäldern dominiert. Außerdem verfügt die Ukraine über zahlreiche Bo- denschätze, insbesondere Steinkohle, Erdöl, Eisenerz wie auch Manganerz und Kalisalz. Als Grenzscheide zwischen der rechtsufrigen und linksufrigen Ukraine hat der Hauptstrom des Landes, der Dnipro, historische Bedeutung erlangt. Er ist heute die bedeutendste nationale Wasserstraße. Die Hauptstadt der Ukraine ist Kiew (Kyiv). Weitere wichtige, erwähnenswerte Städte sind Dnipropetrowsk, Doneck, Odessa, Simferopol und Charkiw.

ABBILDUNG 1: DIE GEOGRAPHISCHE LAGE DER UKRAINE

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3. Statistik und Demographie

Nach dem zuletzt erhobenen Zensus im Jahre 2001 lebten auf ukrainischem Staatsgebiet rund 48,2 Mio. [27] Menschen, von denen die Mehrheit mit 77,8% Ukrainer bildeten. Bei einem An- teil der Deutschen an der Gesamtbevölkerung von 0,3 Prozent leben nach den offiziellen Zah- len von 2001 exakt 33.382 Deutsche in der Ukraine. Zum Vergleich: Noch in der Blütezeit der deutschen Besiedelung vor dem zweiten Weltkrieg müssen schätzungsweise mehr als 400.000 Deutsche auf dem Territorium der heutigen Ukraine gelebt haben.[28] Bei der geographischen Verteilung der deutschen Volksgruppe in territorialen Einheiten der heutigen Ukraine fällt auf, dass die meisten Deutschen im Gebiet um Doneck (2001: 4620 Deutsche) und dem Nachbargebiet um Dnipropetrowsk, mit 3773 Deutschen, lebten. Nimmt man noch Charkiw, Luhansk und Zaporizzja hinzu, wohnen die Deutschen vorwiegend in der Ostukraine.[29] Die nächstkleinere, deutsche Siedlungskonzentration finden wir in Transkarpatien, in der westlichen Ukraine, im Karpatenbogen mit 3582 Deutschen, vor. Im Gebiet der Schwarzmeerdeutschen um Odessa wurden beim letzten Zensus (2001) 2877 Personen und in der Autonomen Repub- lik Krim 2536 Personen registriert.[30] Die untenstehende Tabelle offenbart eine suk-

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ABBILDUNG 2: GEOGRAPHISCHE VERTEILUNG DER DEUT- SCHEN IN DER UKRAINE

zessive Abnahme der deutschen Bevölkerung, die primär mit der Aussiedlung der Deutschuk- rainer nach Deutschland verbunden ist. Während in der Sowjetzeit die gezielte antideutsche Politik als Ausreisegrund für die deutschstämmige Bevölkerung galt, so ist heutzutage die instabile ökonomische Lage in der Ukraine für diesen Prozess verantwortlich.[31] Allerdings ist die Ausreise gegenwärtig nicht mehr so ausgeprägt wie noch zu Anfang der 90er Jahre, was vor allem mit dem politischen Wechsel nach den Präsidentschaftswahlen 2004 und der sogenannten „Orangenen Revolution“ zu tun hat, die mit der Hoffnung auf eine weitere Demokratisierung des Landes einherging.[32] Mit dem Zuwanderungsgesetz der deutschen Bundesregierung vom 1. Januar 2005 sind jedoch die Aufnahmebedingungen verschärft worden. Nur wenn die deutschen Sprachkenntnisse deutschstämmiger Personen, ihrer Ehegatten und volljährigen Kinder in der deutschen Botschaft in Kiew nachgewiesen werden können, erfolgt eine Aufnahme in die Bundesrepublik.[33]

Die Aussagekraft der Siedlungszahlen muss allerdings durch die „Pass-Assimilation“ relati- viert werden, sodass während des zweiten Weltkriegs und der Ära Stalin 2/334 der Deutschen -aus Furcht vertrieben zu werden- ihre Herkunft verschleierten und sich als Slowaken, Ukrainer oder Ungarn registrieren ließen.[35]

Viele deutschstämmige Bewohner lassen sich aber seit der politischen Wende ihre deutsche Volkszugehörigkeit wieder anerkennen, um in die Bundesrepublik Deutschland auszuwan- dern.

Desweiteren stellten deutsche Minderheitenvertreter -infolge der starken Abnahme der deutschen Bevölkerungszahlen nach 1990- die offiziellen Statistiken zunehmend als verfälscht dar. Sie orientieren sich an einer Größenordnung von 100.000 Deutschukrainern (basierend auf dem Stand von 1989), die auf folgender Überlegung basiert:

„ Geht man davon aus, dass in der Ukraine die Deutschen mindestens in 90% aller F ä lle in gemischten Ehen leben und es dabei durchschnittlich 2 Kinder pro Familie gibt, die sich in ü berwiegender Mehrheit als Deutsche eintragen lassen [w ü rden], so kann sich aus der Zahl 40.000 laut Statistik 1989 eine Zahl von etwa 100.000 erge- ben. “ [36]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

TAB 1: DEUTSCHE BEVÖLKERUNG IN DER UKRAINE (VOLKSZÄHLUNGEN 1979, 1989, 2001)

Zwar ist diese Überlegung schwer nachzuweisen, aber es gilt festzuhalten, dass die Bevölkerungszahlen ein wichtiges Politikum darstellen, um der deutschen Minderheit politisches Gewicht zu verleihen.

Abschließend sei, auch im Hinblick auf Kontaktsprachen und Sprachassimilationsprozesse darauf hingewiesen, dass heutzutage mehr Deutschukrainer in der Stadt(absolut 2001: 24605 Deutsche) als auf dem Land leben (absolut 2001: 8697 Deutsche) und sich nur noch vereinzelt ursprüngliche, geschlossene und kompakte, agrarisch geprägte Siedlungsmuster wiederfinden lassen.[37] Das Bild der traditionellen, mehrheitlichen Zuordnung der Ukrainedeutschen zur Landbevölkerung kann somit nicht länger aufrecht erhalten werden.

4. Zur Geschichte der deutschen Sprachinseln in der Ukraine

4.1) Die frühen deutschen Ansiedlungen (12.-14. Jahrhundert)

Die ersten Spuren deutschen Lebens in der Ukraine lassen sich auf das Ende des 10. Jahrhun- derts datieren.[38] In dieser Epoche kamen immer öfter Kaufleute, Wanderer und Diplomaten in das Reich des Kyiver Rus. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts gründete eine Gruppe Deutsch- sprachiger aus Lübeck, Mainz und Wien Geschäftskolonien in Kiew, Volodymyr-Volynsk und Luck. Auf dem Territorium des heutigen Transkarpatiens schlossen sich im 12. Jahrhun- dert, durch Anwerbung König Gezas II., deutsche Ritter aus Niedersachsen und Flandern an, um Oberungarn vor Raubeinfällen zu schützen und eine ritterliche Kultur bzw. die europäi- sche Zivilisation, in die rückständige Karpatenregion einzuführen.[39] Dem Einfall der Mongolo-Tataren (1241-1242) fielen ca. 80 Prozent der Bevölkerung der Donau-Theiß-Ebene zum Opfer. Um die zerstörten Städte und Landesteile wieder aufzubauen kamen auf Einla- dung der Fürsten von Galizien und Wolhynien (allen voran König Bela IV.) Deutsche aus Sachsen ins Land um sich im entvölkerten Raum niederzulassen mit dem Ziel den Wiederauf- bau voranzutreiben und Handel zu entwickeln.[40] Die meisten der Deutschen arbeiteten dabei als Bauern in den waldreichen Gebieten und fällten Holz.

Im 15. und 16. Jahrhundert folgten noch einige kleinere deutsche Ansiedlungswellen, deren Ansiedler ihre eigene Sprache nicht erhalten konnten, weil ihre Gemeinschaften zu klein wa- ren, „ um dem Assimilationsprozess [zu] widerstehen [ … ]. “ [41] Spuren der mittelalterlichen

deutschen Besiedlung findet man heutzutage noch in Form von Anthroponymen (Personen- namen) wie Artman, Hecht, Freilich, Lustik, Groskop und Toponymen (Ortsnamen) wie Tjacevo < Titschau ‚Deutsche Aue‘ oder Sassovo < Sachsendorf.[42] Wie lange die deutsche Bewohnerschaft deutschsprachig geblieben ist, kann heute nur noch geschätzt werden. Man- che Forscher vermuten, dass die vollständige Magyarisierung in die dominierende, ungarische Bevölkerung zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert stattgefunden haben muss. [43]

4.2) Die Entstehung der heutigen deutschsprachigen Siedlungen

Die ersten deutschen Kolonien auf dem Territorium der heutigen Ukraine entstanden nach Einschätzung des Ethnografen Wsewolod Neulko in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts. [44] Die Deutschen waren von Beginn an verstreut und weitestgehend zersiedelt auf der Krim, in Galizien, der Bukowina, Wolhynien und Transkarpatien vertreten. Ein rechtliches Unikum bildete letztlich die Grundlage des Siedlungsbooms: Das Russische Reich stand vor dem Problem, dass es über keine ausreichende Reserve an persönlich freien Siedlern verfügte, weil die meisten russischen Bauern als Leibeigene an die Scholle gebunden waren. Aus dieser Mangelsituation heraus war man gezwungen auf Bauern aus dem Ausland zurückgreifen. [45] Die künftigen Bewohner sollten den Süden des Reiches in Richtung Schwarzes Meer, ganz der Populationstheorie[46] (mehr Arbeitskräfte=stärkere Wirtschaftskraft) folgend, zu wirt- schaftlicher Blüte führen und als Bollwerk gegen Überfälle der nomadisierenden Völker si- chern.[47]

4.2.1) Pull-Faktoren

Dementsprechend erließ die deutsche Prinzessin auf dem russischen Kaiserthron, Zarin Ka- tharina II. (1762-1796) am 22. Juli 1763 ein Einladungsmanifest, das im Falle einer Umsied- lung eine Reihe von Privilegien vorsah. Unter anderem waren dies[48] (Pull Faktoren):

- Religionsfreiheit
- Befreiung vom Milit ä r- und Zivildienst
- Steuerfreiheit f ü r bis zu 30 Jahren
- Selbstverwaltung der Kolonien
- Staatliche Unterst ü tzung bei der Umsiedlung
- Niedere Gerichtsbarkeit

Wer unbewohntes Land urbar machte, bekam dreißig steuer- und abgabenfreie Jahre zuge- standen, womit auch die Zuwanderungsströme indirekt gesteuert wurden. Bei der Einrichtung neuer Betriebe, Techniken und Produktionsmethoden, die es in Russland noch nicht gab, erhielten die Kolonisten zusätzliche Vergünstigungen, in dem ihnen die Exportzölle im innerrussischen Handel erlassen wurden.[49] Wer nicht über die nötigen Geldmittel verfügte, bekam sogar einen langjährigen, zinslosen Kredit zugestanden. Auch die sich entwickelnde wirt- schaftliche Blüte der Deutschen war dem großzügigen Erbrecht zu verdanken, dass eine Zersplitterung der Bauernhöfe verhinderte.[50]

4.2.2) Push-Faktoren

Das Manifest wurde an verschiedenen europäischen Höfen verbreitet. Auf die größte Reso- nanz stieß die russische Meldung in Nordbayern, in Nordbaden, in der Pfalz und in einigen Teilen der Rheinprovinz. Die erste Welle der Ansiedlung geht auf die Folgen des Siebenjähri- gen Krieges zurück (1756-63), der insbesondere obengenannte Landesteile stark in Mitleiden- schaft zog.[51] Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Südwesten Deutschlands zusätzlich durch Steuerabgaben und Rekrutierungen infolge der napoleonischen Kriege „gebeutelt“ wor- den, was dem Auswanderungsprozess nochmals kräftigen Auftrieb gab. Außerdem befand sich das Königreich Württemberg ab 1805 in einer politischen Umbruchphase, in der nach Willen König Friedrichs aus den territorialen Fragmenten ein zentralisierter Staat entstehen sollte.[52] Begleitet wurden diese Ereignisse durch miserable Erntejahre. Damit nicht genug. Das Einladungsmanifest wandte sich weiterhin an all die Menschen, denen ihre Existenz- grundlage entzogen wurde, also nicht erbberechtigte Bauernsöhne oder Handwerker ohne Niederlassungen sowie „ Angeh ö rige sozialer Randgruppen [ … ] deren Abzug man mit einiger

Erleichterung sah. “ [53] Daher kamen die meisten Siedler sowohl aus dem südwestdeutschen Raum, der zu seiner Zeit absolut überbevölkert war, als auch aus Hessen, dem der Siebenjährige Krieg besonders zugesetzt hatte.[54]

Die materielle Zerstörung infolge der napoleonischen Kriege in Deutschland hatte eine kata- lysatorische Funktion, in dessen Folge die Auswanderung nochmals kräftigen Auftrieb er- hielt.[55] Auch religiöse Auseinandersetzungen haben zur Auswanderung ihren Beitrag geleis- tet.[56]

4.2.3) Emigration aus Deutschland

Nach Erhalt der russischen Pässe sammelten sich die Emigranten schwerpunktartig in Büdingen bei Frankfurt, in Freiburg im Breisgau und in Ulm. Mit großen Flusskähnen, den „ Ulmer Schachteln “ [57] ging es die Donau entlang bis ans Schwarze Meer. Solch eine Reise dauerte mitunter „ 2 Sommer und 1 Winter. “ [58] Wer andernfalls aus Danzig bzw. Westpreußen kam, nahm den Landweg bis Riga und schlug von dort den Weg in Richtung Schwarzes Meer ein.[59] Mangelhafte Versorgung und Krankheiten wurden während der Umsiedlung vielen Auswanderern zum Verhängnis und führten zu einem Massensterben, bei dem allein in Izmail (Südukraine) im Jahre 1816/17 rund 3000 Menschen starben.[60]

Beinahe im Jahrestakt folgten nun die Neugründungen der Kolonien in Großliebental bei Odessa (1804-06), Glückstal (1803-10), auf der Krim (1804-10) oder auch bei Mariupol (1823-42).[61] In Erinnerung an die alte Heimat gaben die Deutschen ihren Dörfern Namen wie Landau, Rastatt, München, Worms oder auch Speyer.

Dem Russischen Reich war es zwar gelungen, das Land urbar zu machen, aber das primäre Ziel, „ die deutschen Wirtschaften als Modelle anregend und vorbildhaft aufs ganze Land wir- ken zu lassen, erreichte sie [sic!] nicht. “ [62] Das lag mitunter daran, dass sich die Beziehungen zwischen den Deutschen und Ukrainern im ersten Jahrhundert der Ansiedlung stark in Gren- zen hielten.[63]

[...]


[1] Sinngemäß nach BURCH (2006, S.11)

[2] Sinngemäß nach HVOZDYAK (2008, S.116)

[3] ILLE (2005, S.2), online unter URL: <www.univie.ac.at>

[4] Vgl. GLÜCK (2005, S.145)

[5] Vgl. ROSENBERG & WEYDT (1992, S.219)

[6] ILLE (2005, S.3), online unter URL: <www.univie.ac.at>

[7] Vgl. MELIKA (1994, S.301)

[8] Vgl. GLÜCK(2005, S.622)

[9] Vgl. GLÜCK (2005, S.427)

[10] Vgl. AULICH (2007, o.S.), online unter URL: <www.phonetik.uni-muenchen.de>

[11] Vgl. BURCH (2006, S.14)

[12] Vgl. GLÜCK (2005, S.154)

[13] Vgl. FILLIPOWA ET AL. (o.J., S.7), online unter URL: <www.ki.informatik.hu-berlin.de>

[14] Vgl. GLÜCK (2005, S.619)

[15] Vgl. O.A. (2009b, o.S.), online unter URL: <http://docweb.rz.uni-passau.de>

[16] ULRICH (2002, S. 127)

[17] Vgl. GLÜCK (2005, S.278)

[18] Vgl. HILKES (1998, S.1)

[19] HILKES (1998, S.1)

[20] Vgl. FRANK (1994, S.137)

[21] Vgl. BURCH (2006, S.6)

[22] HILKES (1998, S.29) zit. nach Jevtuch/Cyrko (1994, S.79)

[23] Vgl. ROSENBERG (1997, S.587)

[24] ROSENBERG (1997, S.587)

[25] Soweit nicht anders angegeben: Vgl. HVOZDYAK (2008, S.85)

[26] O.A. (o.J. c, o.S.), online unter URL: <www.muz-online.de>

[27] Vgl. HVOZDYAK (2008, S.140)

[28] Vgl. HILKES (1998, S.1)

[29] Vgl. HILKES (1998, S.31)

[30] Vgl. HVOZDYAK (2008, S.141)

[31] Vgl. BURCH (2006, S.25)

[32] Vgl. BURCH (2006, S.25)

[33] Vgl. O.A. (2005 b, o.S.), online unter URL: <http://www.bva.bund.de>

[34] Vgl. BURCH(2006, S.25)

[35] Vgl. BURCH (2006, S.23)

[36] Vgl. HILKES (1998, S.35)

[37] Vgl. HVOZDYAK (2008, S.142)

[38] Vgl. HVOZDYAK (2008, S.86)

[39] Vgl. BURCH (2006, S.29)

[40] Vgl. HVOZDYAK (2008, S.86)

[41] KOZAUER (1979, o.S.)

[42] Vgl. HVOZDYAK (2008, S.89)

[43] Vgl. MELIKA (2002, S. 18)

[44] Vgl. HVOZDYAK (2008, S.87)

[45] Vgl. EISFELD (2000, S.16)

[46] Vgl. EISFELD (2000, S.16)

[47] Vgl. HECKER (1994, S.17)

[48] In gekürzter Form nach EISFELD (2000, S.16)

[49] Vgl. HECKER (1994, S.17)

[50] Vgl. HECKER (1994, S.23)

[51] Vgl. EISFELD (2000, S.16)

[52] Vgl. EISFELD (2000, S.17)

[53] HECKER (1994, S.17)

[54] Vgl. HECKER (1994, S.15)

[55] HECKER (1994, S.21)

[56] Vgl. O.A. (o.J. d, S.4)

[57] HECKER (1994, S.19)

[58] HECKER (1994, S.19)

[59] Vgl. HECKER (1994, S.19)

[60] Vgl. EISFELD (2000, S.17)

[61] Vgl. EISFELD (2000, S.17)

[62] HECKER (1994, S.108)

[63] Vgl. MELIKA (1994, S.63)

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Details

Titel
Deutsche Sprachminderheiten in der Ukraine
Untertitel
Proseminararbeit
Hochschule
Universität Passau  (Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar: Sprachminderheiten
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
58
Katalognummer
V139800
ISBN (eBook)
9783640500628
ISBN (Buch)
9783640500482
Dateigröße
2770 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
-Am 04.11.2009 mit der Note 1,0 am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft der Universität Passau abgeschlossene Proseminararbeit -Zahlreich Visualisierungen in der Hausarbeit durch geographische Karten, Statistiken, Diagramme und Tabellen -Über vier Seiten Bibliographie zum Thema der Deutschen Sprachminderheiten in der Ukraine -Vorangestelltes Begriffsverzeichnis, wo wichtige Fachtermini erläutert werden
Schlagworte
Deutsche, Sprachminderheiten, Ukraine, Proseminararbeit
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Johannes Müller (Autor:in), 2009, Deutsche Sprachminderheiten in der Ukraine, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139800

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Titel: Deutsche Sprachminderheiten in der Ukraine



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