Andorra ist zwar geographisch existent, Max Frisch aber bezieht sich in seinem Werk auf ein fiktives Andorra, einen unbestimmten Ort, zu einer unbestimmten Zeit. Sein Andorra als Modell kann und soll für alle Länder, Städte, Dörfer und Gemeinden stehen. Denn überall ist solch ein Verhalten, aus dem Hass und Gewalt hervor gehen, wie Frisch es auch in seinem Drama beschreibt, der Gesellschaft untereinander und besonders gegenüber Minderheiten möglich. Jedes Land kann zu einem Andorra werden.
Wie diese frei erfundene Stadt steht auch der im Werk beschriebene Antisemitismus, der sich hier besonders gegen Andri richtet, beispielhaft für Frischs eigentliches Anliegen, welches er mit Andorra verdeutlichen wollte, der Vorurteilsproblematik. Jede Gesellschaft ist durch Vorurteile belastet, die sie in ihrer Entscheidungsfindung, Beurteilung, subjektiven Empfindung und vielem mehr beeinflussen.
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Nun stellt sich die Frage ob der Antisemitismus für die Darstellung und Beschreibung der Bildnis- und Vorurteilsthematik geeignet ist. Die Grausamkeiten und Geschehnisse des II. Weltkriegs sind auch heute noch in den Köpfen der Menschen präsent und das damalige Schicksal der Juden hängt unmittelbar mit den Gedanken an die semitische und auch die antisemitische Bevölkerung zusammen. Die Erinnerungen an die Zeit im Dritten Reich unter dem Hitlerregime, die Verfolgung und die gnadenlose Vernichtung der Juden lassen Zweifel aufkommen, ob Max Frischs Wahl des Antisemitismus zur angeblich lediglich besseren Beschreibung rassistischer Vorurteilsbildungen gerechtfertigt ist oder ob die Unmenschlichkeit, welche aufgrund sinnlosen Judenhasses die ganze Welt erschütterten, dadurch an Schrecken verliert und verharmlost wird.
Für die Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, Frischs Einsatz antisemitischer Vorurteile, Gewalt und Verfolgung zu analysieren, um zu erkennen, inwieweit eine offensichtliche Verbindung des Dramas Andorra zu den Geschehnissen im Dritten Reich besteht, die zur Verharmlosung der Problematik beitragen könnte.
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Das „Modell-Andorra“ und Max Frischs Thematisierung des Antisemitismus
2. Der (zeit-)geschichtliche Hintergrund
3. Der Einsatz des Antisemitismus als Vorurteilsproblematik
3.1 Die Bildnisthematik – Das Selbst- und das Fremdbild der Andorraner
3.2 Andris Identitätskrise, deren Ursache und Folgen
3.3 Die Judenschau
4. Schluss: Die Verharmlosung des Antisemitismus
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung: Das „Modell-Andorra“ und Max Frischs Thematisierung des Antisemitismus
„Das Andorra dieses Stückes hat nichts zu tun mit dem wirklichen Kleinstaat dieses Namens, gemeint ist auch nicht ein andrer wirklicher Kleinstaat; Andorra ist der Name für ein Modell.“[1]
Andorra ist zwar geographisch existent, Max Frisch aber bezieht sich in seinem Werk auf ein fiktives Andorra, einen unbestimmten Ort, zu einer unbestimmten Zeit. Sein Andorra als Modell kann und soll für alle Länder, Städte, Dörfer und Gemeinden stehen. Denn überall ist solch ein Verhalten, aus dem Hass und Gewalt hervor gehen, wie Frisch es auch in seinem Drama beschreibt, der Gesellschaft untereinander und besonders gegenüber Minderheiten möglich. Jedes Land kann zu einem Andorra werden. Wie diese frei erfundene Stadt steht auch der im Werk beschriebene Antisemitismus, der sich hier besonders gegen Andri richtet, beispielhaft für Frischs eigentliches Anliegen, welches er mit Andorra verdeutlichen wollte, der Vorurteilsproblematik. Jede Gesellschaft ist durch Vorurteile belastet, die sie in ihrer Entscheidungsfindung, Beurteilung, subjektiven Empfindung und vielem mehr beeinflussen. „Eigentlich handelt das Stück gar nicht vom Antisemitismus [...]. Der Antisemitismus ist nur ein Beispiel.“[2] Diese Aussage tätigte Max Frisch in einem Gespräch mit Curt Riess, der während des Krieges, der Nachkriegszeit und bis in die 1990er Jahre als Journalist und Schriftsteller tätig war und bedeutende Zeitgenossen in Artikeln und Nachkriegsbüchern portraitierte.[3]
Nun stellt sich die Frage ob der Antisemitismus für die Darstellung und Beschreibung der Bildnis- und Vorurteilsthematik geeignet ist. Die Grausamkeiten und Geschehnisse des II. Weltkriegs sind auch heute noch in den Köpfen der Menschen präsent und das damalige Schicksal der Juden hängt unmittelbar mit den Gedanken an die semitische und auch die antisemitische Bevölkerung zusammen. Die Erinnerungen an die Zeit im Dritten Reich unter dem Hitlerregime, die Verfolgung und die gnadenlose Vernichtung der Juden lassen Zweifel aufkommen, ob Max Frischs Wahl des Antisemitismus zur angeblich lediglich besseren Beschreibung rassistischer Vorurteilsbildungen gerechtfertigt ist oder ob die Unmenschlichkeit, welche aufgrund sinnlosen Judenhasses die ganze Welt erschütterten, dadurch an Schrecken verliert und verharmlost wird.
Für die Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, Frischs Einsatz antisemitischer Vorurteile, Gewalt und Verfolgung zu analysieren, um zu erkennen, inwieweit eine offensichtliche Verbindung des Dramas Andorra zu den Geschehnissen im Dritten Reich besteht, die zur Verharmlosung der Problematik beitragen könnte.
Da die Figur des Andri in dem Werk stets im Mittelpunkt steht, setze ich sie ebenfalls in den Fokus meiner Betrachtungen.
2. Der (zeit-)geschichtliche Hintergrund
Wenn man sich mit dem Drama Andorra beschäftigt, muss man bedenken, dass die endgültige Fassung, welche 1961 uraufgeführt wurde, aus Max Frischs Prosaskizze Der andorranische Jude von 1946 entstand. Die Idee zu Andorra und der erste Entwurf kamen ihm also in den Anfängen der Nachkriegszeit, wodurch deutlich wird, dass Frisch selbst, der ursprünglich aus der Schweiz stammt, sich mit den Vorkommnissen und Konflikten des II. Weltkriegs auseinandersetzte und diese mit seinem Entwurf womöglich verarbeiten wollte.
Anders als bei Frisch, waren die Schrecken des Krieges nicht mehr unmittelbar in den Köpfen der Bevölkerung, als Andorra 1961 in der Endfassung erschien. Der antisemitische Hass und die Verbrechen der Nationalsozialisten waren im Leben der Menschen nicht mehr präsent. Die Bevölkerung war in den 50er und 60er Jahren eher mit dem Wiederaufbau, der Restauration und dem wirtschaftlichen Aufschwung beschäftigt, als die Vergangenheit kritisch zu betrachten und zu hinterfragen. Somit war es Frischs Ziel sich gegen die Verdrängung des Krieges zu wenden und die Gesellschaft zum Nachdenken anzuregen. Einerseits wollte er mit der Vorurteilsthematik die gesellschaftliche Intoleranz und Ignoranz, sowie die Mitschuld der gesamten Gesellschaft, bezüglich der Judenverfolgung und der brutalen Vernichtung dieser, verdeutlichen, andererseits sollte die neutrale Stellung der Schweiz und dessen Verhältnis zu Deutschland und den Juden im II. Weltkrieg hinterfragt werden.
„Mit dem Festhalten am Modellhaften soll zurückgewonnen werden, was zuvor in der dramatischen Funktionalisierung der Fabel vom andorranischen Juden verlorengegangen ist: die geschichtlichen Verhältnisse in ihrer realen Bewegung, denen der Spiegel vorgehalten werden sollte.“[4]
Jedoch gibt Frisch durch die Betonung der Vorurteilsproblematik und des Modellcharakters Andorras dem Publikum und der Leserschaft die Möglichkeit, die in Andorra beschriebene Thematik nicht auf sich selbst und auf die Kriegsgeschehnisse zu beziehen, was ihm erst den großen Erfolg dieses Dramas ermöglichte.
„Die stoffliche Bindung an eine konkrete politische Situation im Gewande der humanitären Allgemeinverbindlichkeit führt leicht dazu, daß [sic!] sich beide Komponenten gegenseitig aufheben – mit dem Resultat Null.“[5]
Durch das mögliche Ausweichen ins Unverbindliche wird Frischs Absicht, auf die Verantwortung jedes Einzelnen hinzuweisen, also verdrängt.[6]
3. Der Einsatz des Antisemitismus als Vorurteilsproblematik
Vorurteile spielen nicht nur in der Beziehung zwischen einzelnen Individuen eine große Rolle. Sie existieren ebenso zwischen bestimmten Kulturen, Ländern und Nationen. Bestimmten Menschen oder Menschengruppen schreiben wir bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen zu, die unserer Vorstellung und unserer Unwissenheit entspringen und oftmals nicht gerechtfertigt sind.
Wird in die Vorurteilsproblematik der Antisemitismus oder auch anderer Rassenhass eingebaut, so sind oftmals radikale und gewalttätige Handlungen die Folge, wie auch in Frischs Drama Andorra und an den Judenverfolgungen während des II. Weltkrieges zu erkennen ist.
3.1 Die Bildnisthematik – Das Selbst- und das Fremdbild der Andorraner
„Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott, deinem Herren, und nicht von Menschen, die seine Geschöpfe sind.“[7] Dieses Gebot äußert der Pater im Bezug auf das Gespräch mit Andri im siebten Bild, indem er den vermeintlichen Juden auffordert seine Identität anzunehmen und diese zu akzeptieren.
Kein Andorraner hält sich an dieses Gebot. Sie machen sich ein Bildnis von Andri, dem scheinbaren Repräsentanten des Judentums und sie machen sich ein Bildnis von sich selbst – wie sie ihr Land sehen und wie es nach außen wirken soll. Jedes dieser Bildnisse beruht auf Vorurteile, Angst und Hass.
Der Tischler, der Pater, der Soldat, der Wirt, der Doktor, der Geselle und der Jemand stellen in Andorra Personen des öffentlichen Lebens dar, die dem privaten Handlungsbereich der Barblin, dem Lehrer Can, der Mutter und Andri gegenüberstehen. Diese sieben Gestalten „[...] können kaum als echte Charaktere bezeichnet werden. Statt unabhängige Individuen zu verkörpern, repräsentieren sie in erster Linie die Gesellschaft, der sie angehören.“[8] Somit unterscheiden sie sich in ihrem Denken und Handeln stark von Barblin, Can, der Mutter und Andri.
Die Vorurteile, die sie gegenüber Juden und somit auch gegenüber Andri haben, kommen schon im ersten Bild zum Ausdruck, als der Lehrer für Andri eine Tischlerlehre organisieren will.
„Wieso will er grad Tischler werden? Tischler werden, das ist nicht einfach, wenn’s einer nicht im Blut hat. Und woher soll er’s im Blut haben? Ich meine ja bloß. Warum nicht Makler? Zum Beispiel. Warum geht er nicht an die Börse? Ich meine ja bloß ...“[9]
Der Tischler macht deutlich, dass er findet, ein Jude wäre für eine Tischlerlehre ungeeignet. Juden könnten gut mit Geld umgehen, weshalb Andri wohl besser an die Börse passt, denn das habe er im Blut. Geiz und Geldgier seien Kennzeichen der Juden, welche sie auf Andri übertragen. Außerdem seien Juden feige, weshalb auch diese Eigenschaft auf Andri projiziert wird, was der Dialog zwischen Andri und dem Soldaten im ersten Bild zeigt. „ANDRI Wieso bin ich feig? / SOLDAT Weil du Jud bist.“[10] Selbst Charaktereigenschaften, die man eigentlich als positiv empfindet, werden im Zusammenhang mit Anhängern des jüdischen Glaubens negiert. So wird zum Beispiel der Ehrgeiz, der Menschen vorantreibt und sie zum Bestmöglichen forciert, im vierten Bild von dem Dokter als negativ deklariert. Der Ehrgeiz bringe den Juden dazu alle Lehrstühle zu besetzen und sich Anerkennung zu schaffen, während einem schlichten Andorraner nichts anderes übrig bleibe in seine Heimat zurückzukehren und der weiten Welt und den vielen Möglichkeiten die ihn erwarten hätten können abzusagen.[11]
Den sieben Personen aus dem Handlungsstrang des öffentlichen Lebens kann in ihrer Art des Denken und Handelns keine Individualität zugesprochen werden. „Sie müssen, wie schon Frisch hervorgehoben hat, grundsätzlich als Typen bezeichnet werden. Was sie miteinander verbindet, ist vor allem die Tatsache, daß [sic!] sich jeder von ihnen ein Bildnis von Andorra gemacht hat.“[12] Während Andri als geil, gefühlslos, übertrieben ehrgeizig, ungesellig und überempfindlich angesehen wird, sehen die Andorraner sich selbst hingegen als fromm, gottesfürchtig, mutig und stets frei von Schuld. „Haben sich hierzuland nicht alle entrüstet über die Schwarzen da drüben, als sie es trieben wie beim Kindsmord zu Bethlehem, und Kleider gesammelt für die Flüchtlinge damals?“[13] „Andorra ist ein schönes Land, aber ein armes Land. Ein friedliches Land, ein schwaches Land – ein frommes Land [...]“[14] Andorra wird von dem Pater und den übrigen Bewohnern als ein Land angesehen, das permanent richtig handelt, hilfsbereit auftritt und frei von Fehlern ist.
Desweiteren betonen die Andorraner häufig ihre Unschuld, wie auch im achten Bild, in dem die Angst vor einem Angriff der Schwarzen, aufgrund der auftauchenden Senora, präsent ist. „[...] Unsere Unschuld ist unsere Waffe. [...] Ein Volk wie wir, das sich aufs Weltgewissen berufen kann wie kein anderes, ein Volk ohne Schuld [...]“[15] Ein Angriff auf solch ein Land wäre somit ein fataler Fehler. Vergleicht man jedoch dieses Selbst- und Fremdbild miteinander, so wird deutlich, dass die negativen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die sie auf Andri projizieren von den Andorranern selbst stammen, dass sie ihr eigenes Verhalten wiederspiegeln. So wird beispielsweise Andri beschuldigt vor Geilheit zu strotzen, dabei ist es der Soldat, Peider, der Barblin vergewaltigt. Und ebenso ist es Peider, der Andri Feigheit vorwirft, der aber selbst beim Einmarsch der Schwarzen, aufgrund der anstehenden Judenschau, keinen Widerstand leistet und aus Furcht diesen seine Dienste anbietet. Weitere Beispiele wären die Geldgier und der Ehrgeiz, die Andri zur Last gelegt werden. Denn im Gegensatz zu Andri sind es der Tischler, der durch sein Verlangen nach einem überhöhten Preis für die Tischlerlehre, Geldgier ausstrahlt und der Dokter, dessen Ehrgeiz und Selbstdarstellungstrieb durch die wiederholte Betonung seiner Stellung als Amtsarzt und den angeblichen Verzicht sowieso unnötiger Titel, zum Ausdruck kommt.
[...]
[1] Frisch, Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt/ Main 1961.
[2] Riess, Curt: Mitschuldige sind überall. Eine Unterhaltung mit Max Frisch über sein neues Stück. In: Die Zeit (03.11.1961). Nr.45.
[3] Vgl.: Munzinger-Archiv GmbH (Hrsg.): Curt Riess. http://www.munzinger.de/search/portrait/Curt+Riess/0/8286.html (letzter Zugriff: 23.04.2009)
[4] Petermann, Gerd Alfred: Max Frisch und die Psychologie. Kritische Anmerkungen zu Interpretationen von Andorra. In: Knapp, Gerhard P. (Hrsg.): Max Frisch. Aspekte des Bühnenwerks. Bern 1979, S.313-339, hier: S.315-316.
[5] Schmidt-Brümmer, H.: Das Tabu der „Zeitlosigkeit“. Die Problematik von Frischs „Andorra“ kennzeichnet die deutsche Gegenwartsdramatik. In: Westdeutsches Tageblatt (26.04.1963), Nr.97.
[6] Vgl.: Bourger, Désirée: Unverdaute Trauer. Das Kulturthema Essen in George Taboris Holocaust-Dramen. Göttingen, Georg-August-Universität, Dissertation, 2002, S.21.
[7] Frisch, Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt/Main 1961, S.65.
[8] Jurgensen, Manfred: Max Frisch. Die Dramen. Bern 1968, S.80-90, hier: S.85.
[9] Frisch, Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt/Main 1961, S.13.
[10] Frisch, Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt/Main 1961, S.22.
[11] Vgl.: Frisch, Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt/Main 1961, S.40.
[12] Jurgensen, Manfred: Max Frisch. Die Dramen. Bern 1968, S.80-90, hier: S.85.
[13] Frisch, Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt/Main 1961, S.10.
[14] Frisch, Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt/Main 1961, S.11.
[15] Frisch, Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern. Frankfurt/Main 1961, S.70.
- Arbeit zitieren
- Lisa Hornung (Autor:in), 2009, Die Vorurteilsproblematik anhand des Antisemitismus in Max Frischs „Andorra“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139847