Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Rahmen und Zielsetzung der Untersuchung
2. Heinrich von Morungen „Ich hân sî vür alliu wip“
2.1. Liedtext
2.2. Überlieferung
2.3. Inhalt des Liedes
2.4. Äußere Form des Liedes
2.5. Erste Interpretationsansätze zum „Tageliedwechsel“
3. Die Frauenrolle im Minnesang
3.1. Die Frau im Höfischen Modell
3.2. Die Frau im Wechsel und in den Frauenstrophen
3.3. Interpretation der Frauenstrophen im Lied X
4. Zusammenfassende Gedanken
5. Auswahlbibliographie
1. Einleitung: Rahmen und Zielsetzung der Untersuchung
„Ich habe dich lieber, als alle anderen“, welcher Frau würde diese Aussage kein verlegenes Lächeln ins Gesicht zaubern? Anders wird es auch Frauen im Mittelalter nicht gegangen sein, als sie vom Minnesänger mit ähnlichen Worten verzaubert worden. Die Verse des Minnesangs, welche uns bis heute erhalten blieben vermitteln uns oft ein Bild von geliebten und liebenden Frauen und Männern. Mit meiner Themenwahl habe ich es mir zur Aufgabe gemacht aufzuzeigen, ob es sich dabei um tatsächlich empfundene Gefühle der im Minnelied vorkommenden Personen handelt oder ob dieses Bild aufgrund unserer heutigen Vorstellung von Liebe entstand. Mit einer kurzen Darstellung der Frauenposition im höfischen System werde ich versuchen eine Grundlage für die folgende Interpretationen zu schaffen. Insbesondere möchte ich die Frauenstrophen in Minneliedern näher beleuchten und dabei die Funktion dieser für den gesamten Minnesang herausarbeiten.
Um die angeführten Tatsachen dabei an einem Beispieltext erläutern zu können habe ich den Doppelwechsel „Ich hân sî vür alliu wîp“ des Sängers Heinrich von Morungen gewählt. An diesem Minnelied möchte ich jedoch nicht nur die Frauenstrophen interpretieren, obwohl ich darauf das Hauptaugenmerk lege, sondern möglichst umfassende Auslegungsansätze finden. Auch die von Morungen begründete Form des Tageliedwechsels möchte ich in den Interpretationsansätzen mit gewichtiger Bedeutung berücksichtigen.
Eine besondere Herausforderung stellt die Interpretation des Liedes für mich aus dem Grunde dar, da es als Vorstudie1 des Liedes XXX „Owê, - sol aber mir iemer mê“ angesehen wird und die Deutungen des Liedes X selbst bisher nur dementsprechend knapp ausfielen. Auch dem formalen Aufbau des Minnesangliedes „Ich hân sî vür alliu wîp“ wird in bisheriger Forschungsliteratur nur umrisshaft Berücksichtigung geschenkt. In dieser Arbeit werde ich versuchen auch diesen Aspekt in einem möglichst umfassenden Umfang einzubeziehen.
2.1. Liedtext
Lied X: Ich hân sî vür alliu wîp
1
Ich hân sî vür alliu wîp
mir ze vrowen und ze liebe erkorn.
minneclîch ist ir der lîp.
seht, durch daz sô hab ich des gesworn,
Daz mir in der welt (niht)
niemen (solde) lieber sîn.
swenne aber sî mîn ouge an siht,
seht, sô tagt ez in dem herzen mîn.
2
'Owê des scheidens, daz er tet
von mir, dô er mich vil senende lie.
wol aber mich der lieben bet
und des weinens, daz er dô begie,
Dô er mich trûren lâzen bat
und hiez mich in vröiden sîn.
von sînen trehenen wart ich na t
und erkuolte iedoch daz herze mîn.'
3
Der dur sîne unsaelicheit
iemer arges iht von ir gesage,
dem müeze allez wesen leit,
swaz er minne und daz im wol behage.
Ich vluoche in, unde schadet in niht,
dur die ich ir muoz vrömde sîn.
als aber sî mîn ouge an siht,
sô taget ez in dem herzen mîn.
4
'Owê, waz wîzent si einem man,
der nie vrowen leit noch arc gesprach
und in aller êren gan?
durch daz müet mich sîn ungemach,
Daz si in sô schône grüezent w a l
und zuo ime redende gânt
und in doch als einen bal
mit boesen worten umbe slânt.'
2.2. Überlieferung
Das Lied "Ich hân sî vür alliu wîp" wurde in den Handschriften B und C überliefert, wobei das Lied in seiner Vierstrophigkeit in der Handschrift B, also der Weingartner oder Stuttgarter Liederhandschrift, übermittelt wurde. Diese entstand um 1300 im westlichen Bodenseegebiet und enthält überwiegend Minnelyrik.2 Die Strophen zwei, drei und vier des Liedes sind zusätzlich in der Handschrift C, der großen Heidelberger oder Manessischen Liederhandschrift überliefert. Auch diese Handschrift entstand um 1300.3 Sie enthält neben Minnelyrik ebenfalls didaktische und religiöse Lyrik.4 Die in Zürich entstandene Handschrift beinhaltet mittelhochdeutsche Lyrik aller Gattungen und zählt somit zu den für die Literatur wichtigsten, überlieferten Kostbarkeiten.5
2.3. Inhalt des Liedes
Das vierstrophige Lied "Ich hân sî vür alliu wîp" besteht aus einer kombinierten Männer- und Frauenklage, wobei der Mann Sprecher der ersten und dritten Strophe ist, die Frau scheinbare Sprecherin der zweiten und vierten.
Der Liebende preist seine Auserwählte in den höchsten Tönen. Er hat sie lieber als alle anderen Frauen und keine soll ihm jemals mehr bedeuten als sie. Als Frau zur Liebe und zur Freude habe er sie ausgewählt und auf der ganzen Welt will er keine bessere finden. Er spricht von ihrem schönen Körper, doch so bezaubernd sie auch ist, wird es ihm immer wieder, wenn er sie ansieht bewusst, dass er Abschied nehmen muss, es wird Tag in seinem Herzen.
Auch in der zweiten von ihm gesprochenen Strophe lassen seine Gedanken nicht von ihr ab. Niemals darf etwas Böses über sie gesagt werden. Alle diejenigen, die es durch ihre
Unseligkeit trotzdem wagen schlecht über seine Liebste zu sprechen, sollen ihr Leben lang
nicht mehr glücklich sein, ihnen soll ab diesem Augenblick das eigene Leben verhasst sein.
Er verflucht vergebens alle die, welche gegen diese Liebe sind und durch Schuld derer er bei Tagesanbruch von seiner Geliebten getrennt wird.
[...]
[1] Vgl. H. Tervooren, Anmerkungen zu den Liedern Heinrich von Morungens 1975, S.158.
[2]. Heinrich von Morungen „Ich hân sî vür alliu wîp“
[2] Vgl. G. Schweikle 1995, S.2/3.
[3] Ebd., S.4.
[4] Ebd., S.4.
[5] Ebd., S.6.