Deutsche Einheit jenseits von Angebot und Nachfrage


Wissenschaftlicher Aufsatz, 1997

10 Seiten


Leseprobe

Ihre Einheit verdanken die Deutschen dem Zusammenbruch des sowjetischen Satellitensystems, besonders aber der stillen Revolution, mit der sich die Bevölkerung der DDR vom SED-Regime befreite und schließlich der Entschiedenheit ihrer Bundesregierung, welche die einmalige Gunst der Stunde beherzt ergriff. Deshalb wurde die deutsche Einheit am 3. Oktober 1990 nicht nur rechtlich vollzogen, sondern als gemeinsamer Sieg über das sozialistische Zwangssystem und über die den Deutschen 1949 aufgezwungene Teilung gefeiert. Von der damaligen Zustimmung und Hochstimmung scheint aber heute wenig übriggeblieben zu sein. Aus voreiligen Hoffnungen, überraschenden Schwierigkeiten und enttäuschten Erwartungen wuchsen auf beiden Seiten Zweifel, Mißmut, Unbehagen und Gleichgültigkeit. Und nach dem Abriß der verhaßten Mauer, droht nun eine neue Mauer in den Köpfen der Menschen das Land noch unerbittlicher zu teilen.

Wie konnte diese Weichenstellung der Geschichte, die ihre bleibende Bedeutung behalten wird, so ins Gerede kommen? Aus welchen Gründen ist die von beiden Seiten ersehnte und begrüßte Einheit dem einen gleichgültig, dem anderen mühsam und dem dritten zweifelhaft geworden? Wie läßt sich das erklären?

Der Übergang zur Marktwirtschaft ist kein bloßer “Systemwechsel”

Es sind offenbar zuerst die Wirtschaftslagen, aus denen das Unbehagen wächst. Denn die Vereinigung war ja auf beiden Seiten von der klaren Einsicht getragen, daß die marode Zentralverwaltungswirtschaft postwendend durch die effiziente Soziale Marktwirtschaft ersetzt werden müsse. Doch das erhoffte Wirtschaftswunder ist bisher nicht eingetreten. Nun klagt man im Osten noch immer über die offene oder durch staatliche Maßnahmen verdeckte Arbeitslosigkeit und trägt schwer an einer Unsicherheit der wirtschaftlichen Existenz, die es früher nicht gab. Im Westen klagt man über die unerwarteten Kosten, die man aufbringen muß, um die Wirtschaft im Osten auch nur über Wasser zu halten, geschweige denn schon flott zu machen. So liegt der Stoff für die wechselseitigen Vorwürfe bereit, die nach Westen auf kaltherzige Unbrüderlichkeit und selbstzufriedene Überheblichkeit lauten, nach Osten auf unberechtigte Ansprüche und mangelnde Leistung.

So schmerzlich das ist, braucht man sich darüber nicht weiter zu sorgen. Denn die Sanierung der Wirtschaft in Ostdeutschland, die Umstellung zur Marktwirtschaft gelingt gewiß, auch wenn sie mehr Zeit braucht und höhere Kosten verursacht, als anfangs veranschlagt wurde. Die wirkliche Garantie für den Erfolg einer Sozialen Markwirtschaft in den neuen Bundesländern liegt aber in der Bereitschaft der ostdeutschen Bevölkerung, die der westdeutschen an Fleiß, Arbeitsamkeit, Gelehrigkeit, Gewissenhaftigkeit, Geschick und Leistungswillen nicht nachsteht. Es sind diese Arbeitstugenden, die der DDR mit Abstand den ersten Platz unter den sozialistischen Wirtschaften sicherten. Sie werden sich auch in der Marktwirtschaft bewähren und mit ihr entfalten. Darauf sollten sich die Deutschen verlassen, statt über das ausgebliebene Wirtschaftswunder zu klagen. Die Zeit zum Wundern wird noch kommen, wenn eines Tages der eine Sektor oder die andere Region in den östlichen Bundesländern an die Spitze rücken wird.

In diesem Sinne haben die Deutschen es wirklich - so schwierig die Lage zur Zeit auch sein mag - nur mit Übergangsproblemen zu tun. Und doch begehen sie einen schweren Fehler, wenn sie in ihrer Einheit nur die Aufgabe des Übergangs zur Marktwirtschaft sehen wollen. Denn die Entstehung eines Marktes und einer Marktwirtschaft ist nicht allein ein ökonomisches Problem, das durch die Übernahme eines wirtschaftlichen Prinzips gelöst werden könnte. Eine Marktwirtschaft kann nicht in beliebigen und erst recht nicht zwischen beliebigen Ländern entstehen. Wer das nicht weiß oder gerne vergessen möchte, braucht bloß in den Osten oder Südosten Europas zu schauen. Eine Marktwirtschaft, jedenfalls die Soziale, läßt sich nicht nach einem Lehrbuch überall einrichten, weil sie auf kulturelle Voraussetzungen und kulturhistorische Vorbereitung angewiesen ist. Ferner ist ein Staat mehr als ein Wirtschaftssystem, auch mehr als ein politisches System mit einer Rechtsordnung. Denn er bricht auseinander, wenn seine Bürger nicht mehr zusammen leben wollen. Die Vorgänge, die seit 1989 in Europa in Gang gekommen sind, liefern dafür den schlagenden Beweis.

Die Einheit Deutschlands ist eine Errungenschaft

des Ostens, kein Triumph des Westens

Die Deutschen täuschen sich also selbst und andere, wenn sie in der deutschen Einheit nur die Aufgabe sehen, in der einstigen DDR die Soziale Marktwirtschaft einzuführen, so vordringlich das auch ist. Sie täuschen sich ferner, wenn sie die Aufgabe der Marktwirtschaft, der Demokratie und des Rechtsstaates bloß als einen “Systemwechsel” verstehen. Denn damit liefern Einfalt und Hochmut das bequeme Denkmuster für die Eingemeindung der DDR, die nur das westdeutsche Denkmuster zu übernehmen und nachzuahmen hat. Genau dieses Denkmuster ist es, das die neue Mauer in den Köpfen und Herzen wachsen läßt. Zu oft regiert der Ton herablassender Besserwisserei.

[...]

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Details

Titel
Deutsche Einheit jenseits von Angebot und Nachfrage
Autor
Jahr
1997
Seiten
10
Katalognummer
V140488
ISBN (eBook)
9783640476213
ISBN (Buch)
9783640476350
Dateigröße
442 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Deutsche, Einheit, Angebot, Nachfrage
Arbeit zitieren
Kurt Andreas Piutz (Autor:in), 1997, Deutsche Einheit jenseits von Angebot und Nachfrage, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140488

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