Allgemeine Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland. Eine zeitgemäße „Pflicht“?


Bachelorarbeit, 2009

92 Seiten, Note: 1,15


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

B Abkürzungsverzeichnis

C Abbildungsverzeichnis

D Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Anstöße zum Ende der Massenarmee
2.1. Gesellschaft
2.2. Technologie
2.3. Ökonomie
2.4. Sicherheitspolitik und Geostrategie

3. Historische Entwicklung von Bundeswehr und Wehrpflicht in Deutschland
3.1. Einrichtung der Bundeswehr 1956
3.2. Entwicklung bis 1990
3.3. Der Wandel der Bundeswehr bis heute

4. Die Wehrpflicht in Deutschland aus politischer Perspektive
4.1. Warum wurde die Wehrpflicht eingeführt?
4.2. Weshalb wurde an der Wehrpflicht bis heute festgehalten?

5. Ist die allgemeine Wehrpflicht noch zeitgemäß für die BRD im 21. Jahrhundert?
5.1. Untersuchung wesentlicher Einflussfaktoren auf die Bundeswehr
5.1.1. Gesellschaft
5.1.2. Technologie
5.1.3. Ökonomie
5.1.4. Sicherheitspolitik und Geostrategie
5.2. Militärsoziologische Betrachtung
5.2.1. Einfluss der Faktoren auf die Bundeswehr als Organisation
5.2.2. Die Bundeswehr in Wechselwirkung mit der Gesellschaft
5.3. Zwischenfazit
5.4. Wehrgerechtigkeit in Deutschland
5.4.1. Wehrgerechtigkeit in den Musterungsjahren 2000 bis 2008
5.4.2. Wehrgerechtigkeit für die Geburtsjahrgänge 1981 bis 1991

6. Schlussbetrachtung

E Literatur- und Quellenverzeichnis V

F Anhang

B Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

C Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Einflussfaktoren bezüglich der Diskussion um die Beibehaltung oder Abschaffung bzw. Aussetzung der Wehrpflicht (Eigene Illustration nach: Ajangiz, 2002, S. 329)

Abbildung 2: Wehrstrukturtypen nach Karl W. Haltiner: Entwicklung von 1990-2004 (ergänzt u. aktualisiert von Werkner) (Werkner, 2005, S. 105)

D Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Personalentwicklungskonzept der Bundeswehr und tatsächliche GWDL im Jahresdurchschnitt (Bundesministerium der Verteidigung, 2000)

Tabelle 2: Musterungszahlen und der Personalbestand an GWDL im Vergleich zur durchschnittlichen Anzahl an 19 – unter 22 Jährigen deutschen Männern von 2000 bis 2008

Tabelle 3: Wehrdienstfähigkeit und –unfähigkeit im Vergleich zur Musterungsstärke der Jahre 2000 bis 2008

Tabelle 4: Insgesamt gemusterte und (noch) nicht gemusterte im Vergleich zur Jahrgangsstärke der Geburtsjahrgänge von 1981 bis 1991

Tabelle 5: Wehrdienstfähigkeit und –unfähigkeit im Vergleich zur Musterungsstärke der Geburtsjahrgänge von 1981 bis 1991

Tabelle 6: GWDL/FWDL und anerkannte KDV im Vergleich zur Musterungsstärke der Geburtsjahrgänge von 1981 bis 1991

Tabelle 7: Ausschöpfung der Geburtsjahrgänge 1981 bis 1991

Tabelle 8: Ausschöpfung der gemusterten Wehrpflichtigen der Geburtsjahrgänge 1981 bis 1991

1. Einleitung

Seit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1956 steht für den männlichen Teil der jungen erwachsenen Bevölkerung der Gang zu einem der bundesdeutschen Kreiswehrersatzämter an. In den letzten 20 Jahren lag die Jahrgangsstärke der erfassten jungen Männer stets im Rahmen von 350.000 bis 450.000 Wehrpflichtigen, von denen im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte eine fortschreitend sinkende Anzahl schließlich in die Kasernen einzog. Die Nachfrage bei der Bundeswehr, deren Truppenstärke sich von 1990 bis 2007 halbierte, sinkt, wie auch der Verteidigungsetat, stetig; so wurden auch die Tauglichkeitskriterien angehoben, was 2007 zu einem Anteil der als untauglich gemusterten Männer von knapp 54% führte.

Dieser Entwicklung trugen zum Teil auch die großen politischen Parteien in ihren Grundsatzprogrammen sowie gegenwärtig in ihren Bundestagswahlprogrammen für das Jahr 2009 Rechnung.[1] Darin bekennen sich CDU und CSU ausdrücklich zur Wehrpflicht als Garant für Sicherheit und gesellschaftliche Einbindung in einen demokratischen Rahmen. Mit einer weiterentwickelten Wehrpflicht beabsichtigt hingegen die SPD einen Mittelweg einzuschlagen, der zwar eine Fortsetzung des Musterungsverfahrens der Flexibilität halber vorsieht, aber im Anschluss das Einziehen nur derjenigen plant, die sich bereits bei der Musterung freiwillig dafür entschieden haben. Die FDP dagegen strebt ein Aussetzen der Wehrpflicht aus Gründen der Ungerechtigkeit und mangelnder Einsatzbereitschaft an und fordert das Aufstellen einer verkleinerten sowie gut ausgerüsteten und flexiblen Freiwilligenarmee. Einen Schritt weiter geht die Partei Bündnis 90/Die Grünen, die eine Abschaffung der Wehrpflicht und den Übergang zu einer vom Parlament geführten Freiwilligenstreitkraft fordert. Sie sieht in den gewandelten Aufgaben der Bundeswehr keine Rechtfertigung mehr für die Verletzung der Grundrechte von Wehrpflichtigen. Die Abschaffung der Wehrpflicht wird von der Fraktion Die Linke ebenfalls befürwortet. Sie beabsichtigt allerdings in einem weiteren Schritt, die Bundeswehr zu einer reinen Verteidigungsarmee geringen Umfangs umzugestalten.

Die Bandbreite divergierender Ansichten allein bei den Parteien lässt die Schwierigkeit eines eindeutigen Lösungskonzepts für die Probleme der Bundeswehr – die de facto existieren – bezüglich ihrer Struktur und insbesondere der damit verknüpften Personalrekrutierung, bereits erahnen. Dies ist Grund genug, der Frage nachzugehen, ob die allgemeine Wehrpflicht noch zeitgemäß ist für die Bundesrepublik Deutschland. Im Zusammenhang von abnehmendem Personalbedarf und rückläufigen Rekrutierungsquoten sollen in dieser Arbeit anhand verschiedener Argumentationslinien ferner folgende Fragen im Hinblick auf die Leitfrage diskutiert werden:

- Warum gibt es die Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland und wie hat sich ihre Ausgestaltung entwickelt?
- Aus welchen Gründen nimmt der Bedarf an Wehrdienstleistenden bzw. Soldaten in Deutschland ab?
- Ist unter den Umständen rückläufiger Rekrutierung und der Prämisse der Wehrpflicht Wehrgerechtigkeit gegeben?
- Welche Gründe sprechen noch für die Beibehaltung der Wehrpflicht, welche sprechen dagegen?

Die Fragestellung bezieht sich sowohl auf politikwissenschaftliche, als auch auf soziologische, in den meisten Fällen militärsoziologische, Entwicklungen. Bei der Bearbeitung dieses Themas sollen die Zusammenhänge berücksichtigt werden, die sich aus sicherheits- und geopolitischen Konstellationen, gesellschaftlichen Veränderungen sowie den ökonomischen und technischen Gegebenheiten ergeben und die Binnenstruktur der Bundeswehr beeinflussen. Die Militärsoziologie wird für die Beantwortung der Titelfrage die Hauptrolle einnehmen, da vornehmlich die innere organisatorische und militärische Ebene der Bundeswehr beleuchtet werden soll und, unter Berücksichtigung der äußeren Anforderungen, die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Wehrpflicht dargestellt werden sollen.

Die Wehrpflicht wurde in der Folge des Zweiten Weltkrieges für einen konstanten Bestand an Soldaten, aber auch als Integrationsfunktion von Bundeswehr und Gesellschaft, 1956 in der Bundesrepublik gesetzlich verankert und stand bis heute immer wieder im Mittelpunkt von Debatten, die durch wechselnde politische bzw. außenpolitische Konstellationen und den gesellschaftlichen Wertewandel variierten. Eine besondere Rolle nahm Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes ein, der es Wehrdienstfähigen ermöglicht, aufgrund ihrer Gewissensentscheidung den Dienst an der Waffe zu verweigern. Dieser Absatz in Art. 4 bestand zwar eben solange wie die Wehrpflicht, ansteigender Gebrauch wurde von ihm jedoch erst Ende der 1960er Jahre gemacht, in denen sich der gesellschaftliche Standpunkt zur Bundeswehr und speziell der Wehrpflicht gegenüber fühlbar änderte, was sich insbesondere auf die Konfrontation mit dem Vietnamkrieg zurückführen lässt.

Den Einstieg in das Thema soll eine Betrachtung von Theorieansätzen zum Niedergang der Massenarmeen und damit auch der Rekrutierungsform „Wehrpflicht“ liefern. In diesem Abschnitt soll eine Annäherung an die Thematik zunächst unabhängig von dem zuvor gesteckten Zeitrahmen dieser Arbeit und abseits vom Kontext der deutschen Bundeswehr stattfinden. Er bezieht sich dabei auf verschiedenste Argumentationen internationaler Perspektiven, die den Rückzug von Massenarmeen vornehmlich in der westlichen Welt untersuchen. Die Argumentationslinien in diesem Teil gliedern sich in die vier Unterpunkte Gesellschaft, Technologie, Ökonomie sowie Sicherheitspolitik und Geostrategie, welche die maßgeblichen Antriebe für die Abkehr von der Massenarmee darstellen. Die aufgestellten Annahmen, sowohl in diesem, als auch in den folgenden Abschnitten, beziehen sich hauptsächlich auf das Heer als Teilstreitkraft der Armeen, da dieses, wie noch zu zeigen sein wird, vorwiegend von den Veränderungen betroffen ist. Da die Literatur größtenteils der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstammt, können die hier angeführten Anstöße bezüglich der sich anschließenden Analyse der Wehrpflicht in Deutschland nur eine lückenhafte Basis darstellen. Es ist folglich davon auszugehen, dass sich neben vielen Parallelen zu den älteren auch eine Vielzahl neuer Argumentationen aus den seither gewandelten Einflussfaktoren Gesellschaft, Technologie, Ökonomie sowie Sicherheitspolitik und Geostrategie für die Bundesrepublik und die Bundeswehr im 21. Jahrhundert darbieten werden.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den Streitkräften aus dem Dritten Reich und der Neu-Konstruktion der Bundeswehr ab 1949 sowie der ersten größeren Wellen von Kriegsdienstverweigerern soll im dritten Teil dieser Arbeit erstens die Einrichtung sowie zweitens die geschichtliche Entwicklung der Bundeswehr bis zum Ende des Ost-West-Konflikts 1990 betrachtet werden. Hierbei soll ein besonderes Augenmerk auf die (geo)politischen und gesellschaftlichen Triebkräfte gelegt werden, die nach 1945 die Notwendigkeit der Wehrpflicht für die Bundesrepublik sahen, in den folgenden Jahrzehnten jedoch immer größer werdende Zweifel an ihrer Ausgestaltung aufkommen ließen. Einen dritten Aspekt wird die Wandlung der Bundeswehr in den Jahren nach dem Kalten Krieg bis heute darstellen. Dieser soll jedoch sehr knapp gehalten werden, da eine Fülle an neueren Entwicklungen im Laufe der anschließenden Untersuchungen ihre Berücksichtigung finden.

Der vierte Abschnitt dieser Arbeit soll die Beweggründe zur Einführung und Beibehaltung der Wehrpflicht aus (militär)politischer Sichtweise erfassen. Es wird dabei insbesondere beabsichtigt, darzulegen, ob und wie sich die Apologie dieses Rekrutierungsverfahrens bis in die Gegenwart verändert hat. In diesem Zusammenhang wird vornehmlich der Abschnitt 4.2 gewissermaßen die Gegenposition zu den unter Abschnitt 2 dargelegten Ausführungen zum Ende der Massenarmee darstellen. Damit dient dieses Kapitel auch der Überleitung zur Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Wehrpflicht in Deutschland vor allem nach der Auflösung der bipolaren Weltstruktur.

Der Hauptteil dieser Arbeit ist zunächst einmal der titelgebenden Frage unterstellt, ob die allgemeine Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland noch zeitgemäß ist. Bei der Untersuchung sollen zwei Elemente in Bezug auf die Bundeswehr analysiert und aufgrund ihrer engen Beziehung zueinander in direkte Verbindung gesetzt werden. Zum einen seien hier die oben bereits angeführten Faktoren (Gesellschaft, Technologie, Ökonomie, Sicherheitspolitik und Geostrategie) genannt, die beeinflussend auf die Struktur der Streitkräfte und damit auch auf den Aspekt der Wehrpflicht wirken. Das zweite Element stellt die Militärsoziologie dar, welche die Bundeswehr hinsichtlich ihres organisationalen Aufbaus erklären und infolgedessen die Wechselwirkungen zwischen ihr und der Gesellschaft herausstellen soll. Die Ausgangsfrage soll ihre Beantwortung schließlich in den Auswirkungen der, sich seit 1990 gravierend veränderten, obenstehenden Faktoren auf die Binnenorganisation der Bundeswehr finden. Ferner sollen hier die rückwirkenden Einflüsse, die durch eine veränderte Bundeswehrorganisation auf die Gesellschaft wirken, betrachtet werden. Die These zur Pro und Contra Debatte um die in Deutschland geltende allgemeine Wehrpflicht soll demnach an dieser Stelle lauten:

Bedeutende Veränderungen in Gesellschaft, Technologie, Ökonomie sowie Sicherheitspolitik und Geostrategie veranlassen die Bundeswehr aus mikrosoziologischer Perspektive zu einer innerorganisationalen Umstrukturierung, durch die wiederum im makrosoziologischen Kontext die Rekrutierungsform der allgemeinen Wehrpflicht hinsichtlich der gesellschaftlichen, technologischen, ökonomischen sowie sicherheitspolitischen und geostrategischen Gesichtspunkte nicht länger begründet werden kann.

Die Faktoren, die einem Wandel unterstanden bzw. fortwährend unterstehen, sollen bezüglich der These auf ihre Relevanz für die Bundeswehr untersucht werden, indem die Effekte auf ihre Organisationsstruktur herausgestellt werden. Für den gesellschaftlichen Aspekt spielen vordergründig der Wertewandel und die zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft eine Rolle, die sich in geringerer Akzeptanz und einer höheren Verweigerungsrate ausdrücken. Ebenfalls sind auch gesellschaftspolitische Gründe und der formale Bildungsgrad im Zusammenhang mit der Kriegsdienstverweigerung von Bedeutung für die personelle Zusammensetzung des deutschen Militärs und dessen Stellung in der Gesellschaft.

Im technologischen Teilbereich wird sich die Argumentation auf die Neuerungen in der Waffen-, Fahrzeug- und Transport- sowie Kommunikationstechnik stützen, die sich allesamt direkt und indirekt auf die Militärstruktur auswirken. Der technische Aspekt ebenso wie der nachstehend angeführte ökonomische liefern einigen Raum für (militär)soziologische Untersuchungen, da sich an ihnen im besonderen Maße Parallelen als auch Differenzen zu nicht-militärischen Organisationen aufzeigen lassen. An dieser Stelle ist der Verdacht auszuräumen, es werde hier eine rein organisationssoziologische Gegenüberstellung angestrebt. Der Verlauf der Analyse wird zeigen, dass zwischen der gesellschaftlichen Integrationsfunktion einerseits und dem Stabilitätssicherungs- und Verteidigungsauftrag der staatlichen Institution und Organisation Bundeswehr ein Spannungsfeld existiert, welches es im Hinblick auf die Thematik zu untersuchen gilt.

Um auch den ökonomischen Gesichtspunkt in einer anschaulichen Weise kurz zu umreißen, sei hier ebenfalls auf die soeben angedeutete Nähe der Bundeswehr zu nichtmilitärischen, in abgeschwächter Form auch nichtstaatlichen bzw. marktwirtschaftlichen Organisationen verwiesen, denen Effizienz zugleich als grundlegende Voraussetzung und Zielvorgabe gemein ist. Demzufolge soll die Arbeit im ökonomischen Bezug herausstellen, dass vor dem Hintergrund eines sinkenden Verteidigungsbudgets auch im verpflichtenden militärischen Staatdienst ökonomisches Effizienzdenken verknüpft mit einem bürokratischen Apparat mehr und mehr Einzug halten und zu Einsparungen bei Boden, Fuhrpark und (rekrutiertem) Personal, ja zu einer schlankeren Bundeswehr, führen. Mit Blick auf die Wehrpflicht ist eine solche Entwicklung insbesondere für die Personalgewinnung von Bedeutung, da das Rekrutierungsverfahren ebenso verstärkt in der Position steht, sich ökonomisch zu rechtfertigen.

Der letzte Punkt, der die Bundeswehr in ihrer Struktur prägt, eröffnet sich in den sicherheitspolitischen und geostrategischen Modifikationen, mit denen sich die Welt in den vergangenen Jahrzehnten konfrontiert sah. Nach Beendigung des Kalten Krieges sind es vor allem die reduzierten Bedrohungen und zunehmenden staatlichen Allianzen im europäischen aber auch außereuropäischen Raum, die ein gewandeltes Bild von den Aufgaben der deutschen Bundeswehr und den damit einhergehenden gewandelten Anforderung zeigen. Von wesentlicher Bedeutung für diesen Teilbereich wird die Art und Weise der Ausbildung deutscher Soldaten im Zuge des gewandelten Auftrages der Bundeswehr sein, der sich weniger auf die Landesverteidigung als vielmehr auf friedensschaffende Maßnahmen im (außereuropäischen) Ausland („Out-of-Area“-Einsätze) konzentriert. Um an dieser Stelle noch einmal auf die fließenden Übergänge der vier zu betrachtenden Faktoren einzugehen, sei im Zusammenhang mit der veränderten Auftragslage des Militärs vorweggenommen, dass diese maßgeblich professionelle und gut ausgebildete Soldaten verlangt. In der Folge bedürfe es somit eines differenzierteren Rekrutierungs- wie auch Ausbildungsverfahrens, das mit den übrigen Gesichtspunkten in Einklang zu bringen sei.

Die genannten Aspekte befinden sich naturgemäß in einer stetigen Wechselwirkung zueinander. Wie sich diese Wechselwirkungen auf das strukturelle Gefüge der Bundeswehr sowie auf die Beziehung von Bundeswehr und Gesellschaft im militärsoziologischen Bezug auswirken, soll schließlich im zweiten Teil dieses fünften Abschnitts aufgezeigt werden. Hierbei soll im Mittelpunkt stehen, wie sich die Bundeswehr auf die veränderten Erfordernisse einstellt bzw. einstellen muss und wie sich diese Entwicklungen auch auf das Profil der Bundeswehr als potenzieller Arbeitgeber auswirken.

In dem sich anschließenden Zwischenfazit sollen die gewichtigsten Erkenntnisse aus den Abschnitten 5.1 und 5.2 in Bezug auf die theoretischen Ansätze aus Kapitel 2. rekapituliert werden, um eine vorläufige Aussage über das Potential des deutschen Wehrsystems hinsichtlich der mannigfachen Anforderungen treffen zu können. An dieser Stelle sollen aber überdies Probleme dargebracht werden, die sich bei der Beurteilung der Argumente sowie der Beantwortung der Titelfrage ergeben. Diese liefern schließlich das Fundament, um die Thematik in weitere Forschungsrichtungen zu öffnen, die in dieser Arbeit nicht (ausreichend) berücksichtigt werden konnten.

Den Abschluss des Hauptteils bildet die Analyse des im Grundgesetz verankerten Gebots der Wehrgerechtigkeit. Dieser Teilabschnitt wurde bewusst von den obengenannten wesentlich dynamischeren Faktoren getrennt, da die Wehrgerechtigkeit vorwiegend durch deren Wandel bestimmt wird. Inwieweit Gerechtigkeit in der Heranziehung der wehrpflichtigen jungen Männer in Deutschland besteht, soll jedoch nur ansatzweise dargelegt werden. Die aus dem Grunde nur unpräzisen Ergebnisse, sollen vielmehr dazu dienen, die verfassungsrechtlichen Effekte der zuvor beschriebenen gesellschaftlichen, technologischen, ökonomischen sowie sicherheitspolitischen und geostrategischen Einflüsse darzustellen. Dabei wird auf juristische Rückgriffe nahezu verzichtet und die Illustration der Datenlage verfolgt vorwiegend den Zweck, den zahlenmäßigen Trend in den Musterungs- und Einberufungsverfahren abzubilden.

Im Schlussteil dieser Untersuchung sollen nochmals die wichtigsten Ergebnisse aus der vorangegangenen Diskussion gesammelt und in Verbindung mit der historischen Entwicklung (3) der Wehrpflicht und andererseits ihrer politischen Fundierung (4) in Deutschland dargestellt werden. Unter Berücksichtigung der Wehrgerechtigkeit (5.4), soll darauf das Ziel verfolgt werden, die vorgetragenen Begründungen zur Einführung und Beibehaltung der Wehrpflicht auf ihre aktuelle Gültigkeit zu überprüfen. Auf dieser Basis soll schließlich ein Ergebnis entwickelt werden, das die Wehrpflicht als eine, den Anforderungen an moderne Streitkräfte entsprechende, Wehrform für Deutschland beschreibt oder aber sie zu einem, den zeitgemäßen Ansprüchen nicht genügenden, Rekrutierungsverfahren erklärt.

2. Theoretische Anstöße zum Ende der Massenarmee

In diesem Abschnitt sollen theoretische, politikwissenschaftliche und (militär)soziologische Ansätze verschiedener Autoren vorgestellt werden, die sich mit dem Wandel des Militärs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen. Den Autoren ist dabei gemein, dass sie in ihren Darstellungen das Ende der Massenarmee und damit auch das Ende der Wehrpflicht und den Übergang zu Freiwilligenstreitkräften in der westlichen Welt schildern bzw. Argumente liefern, welche diese Entwicklung ankündigen. Die zusammengefassten Darlegungen der sechs Autoren werden nachfolgend in die vier Faktoren Gesellschaft, Technologie, Ökonomie sowie Sicherheitspolitik und Geostrategie segmentiert, die im Hauptteil auf Deutschland bezogen und im Hinblick auf die Bundeswehr und die Diskussion um die allgemeine Wehrpflicht genauer untersucht werden sollen.[2]

2.1. Gesellschaft

Die Gesellschaft betreffend, belaufen sich die festgestellten Veränderungen grundsätzlich auf eine zunehmende Demokratisierung, Liberalisierung, Individualisierung und Pluralisierung in annähernd allen Lebensbereichen. Dies äußere sich beispielsweise in der freien Berufswahl und dem freien Arbeitsmarkt, dem höheren Bildungsniveau und Lebensstandard, der Ablehnung konservativer Autoritäten und der Erosion nationaler Werte und Symbole sowie der Öffnung der Armee für Frauen. Der Wertewandel, der auch zum Verlust nationalistischer Mentalitäten geführt habe, habe auch die Akzeptanz und Legitimität des Militärs bei der Gesellschaft in Frage gestellt und somit ferner die Integrationsfunktion der Wehrpflicht herabgesetzt. Beibehalten werde die Zwangsverpflichtung aus politischer Sichtweise hingegen einmal wegen ihrer Sozialisationsfunktion gegenüber den jungen Erwachsenen (rechte Parteien) und zur gesellschaftlichen Kontrolle der Streitkräfte (linke Parteien). Die militärische Autorität werde dennoch zunehmend abgelehnt und die Wehrpflicht als Zwang und Einmischung betrachtet, sodass in der Folge eine Zunahme an Verweigerungen der Wehrdienstpflicht[3] aus Gewissensgründen, Austritten und Fahnenflüchtigen zu verzeichnen sei. Die somit gesunkene Wehrpflicht- und Militärpartizipationsrate verändere das Bild der Armee insofern, als dass die benachteiligten Bevölkerungsschichten überrepräsentiert sind, da viele andere Schichten Möglichkeiten haben, sei es durch Bildung oder finanzielles Vermögen, den Wehrdienst zu umgehen. Damit zusammenhängend spielt auch die steigende Wehrungerechtigkeit und die aus Regulierungsgründen abnehmende Wehrpflichtdauer eine wichtige Rolle im soziopolitischen Kontext. Denn da die Rekrutierungspolitik durch die verknüpften Entwicklungen gesellschaftlicher Wertvorstellungen und liberaler Arbeitsmärkte beeinflusst werde, sich also einer vergleichbaren Wandlung unterziehen muss, um akzeptiert und legitimiert zu werden sowie als attraktiver Arbeitgeber zu gelten, tendierten auch die Militärs in Richtung einer Demokratisierung und Zivilisierung. Dass diese Tendenz auch praktischen Zwecken unterliegt, soll der nachstehende Abschnitt bezüglich der technologischen Veränderungen zeigen.

2.2. Technologie

Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Armeen auf große Personalreserven angewiesen, da insbesondere die Erfindung des Maschinengewehrs, welches eine hohe Feuerfrequenz ermöglichte, gewaltige Heere erforderte, in denen die Soldaten vielfach lediglich als „Kanonenfutter“ dienten. Die fortgeschrittene Technologisierung der Streitkräfte in Form von Massenvernichtungs- und Atomwaffen, erhöhter Feuerkraft und Reichweite sowie verbesserter Kommunikations- und Transportmöglichkeiten, brächten veränderte Anforderungen an das militärische Personal mit sich. Durch die neuen Waffensysteme finde überdies eine Angleichung der Gefährdung für die Zivilisten an die Soldaten statt, da diese in ihrer Reichweite und Auswirkung kaum mehr begrenzt seien. Demzufolge seien die Waffen nicht mehr länger an den Soldaten anzupassen, sondern der Soldat müsse den technischen Ansprüchen des komplizierten militärischen Geräts sowie jenen, die formale Bildung betreffend, genügen und auch darauf bezogen einberufen werden. Daraus ergebe sich die gewandelte Personalnachfrage des Militärs, das mehr und mehr (technische) Spezialisten benötigt und auch verstärkt ziviles Personal rekrutiert, um den Erfordernissen einer technisierten, bürokratisierten sowie auch demokratisierten und zivilisierten Organisation gerecht zu werden. Die Technisierung der Armee führe insgesamt aber auch zu einem schlankeren Militärapparat, da sich die technischen Errungenschaften, vor allem das Heer betreffend, in einem Abbau an Personal – insbesondere Wehrpflichtpersonal – äußerten. Das Heer werde demzufolge seine dominante Stellung unter den Teilstreitkräften verlieren. Die Reduktion der Streitkräfte und das Verhältnis von Mensch zu Maschine soll nun vor dem Hintergrund wachsender spezialisierter und zivil-ähnlicher Tätigkeiten auch aus ökonomischer Sicht dargelegt werden.

2.3. Ökonomie

Aus der ökonomischen Perspektive liegen die Ursachen für den Rückgang von Massenarmeen in der Industrialisierung und den daraus hervorgegangenen Effekten der Professionalisierung, der arbeitsteiligen Spezialisierung und der Bürokratisierung. Unter dieser Konstellation ergab das erstarkte Effizienzdenken in der Industrie zum einen das Abwenden von der Massenproduktion und zum anderen die Kürzung des Personals. Da sich das Militär an Verfahren ziviler Arbeitgeber annähere und zusätzlich auch die Verteidigungsbudgets abnähmen, entsprächen die Abkehr von der Massenarmee und die Wende hin zu schlankeren Streitkräften dem Untergang der Massenproduktion. Weitere Faktoren, die auf diese Entwicklungen einwirkten, seien die veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen (u. a. transatlantische Arbeitsteilung, Opportunitätskosten durch die Wehrpflicht) und Anreize, die Trennung vom Berufs- und Privatleben sowie -unterkunft. Diese wirkten zugleich auch auf die Motivation der Menschen ein, sich, den Arbeitsmarkt berücksichtigend, zwischen der Armee und einem zivilen Arbeitgeber zu entscheiden. Für das Wehrsystem würden die benannten Einflüsse bedeuten, dass nur große und reiche Staaten einen Wechsel zu Freiwilligenstreitkräften vollziehen könnten, da der Staat ausreichende Anreize für den soldatischen Beruf schaffen müsse. Die Wehrpflicht ihrerseits, stelle sie auch nicht die günstigste Wehrform dar, sorge für eine Stabilisierung des Arbeitsmarktes, da sie durch die Einberufungen zum Wehr- oder Ersatzdienst in der Lage sei, Schwankungen des Arbeitslosenaufkommens aufzufangen. Die finanziellen Ausgaben, auch bezüglich der personellen Stärke einer Armee, müssten jedoch immer auch mit Blick auf die sicherheitspolitische Lage erklärt werden, die nun dargestellt werden soll.

2.4. Sicherheitspolitik und Geostrategie

Vor allem das Ende des Kalten Krieges habe für eine Entspannung auf politischer und militärischer Ebene gesorgt und zu einer strategisch gewandelten Situation für die Streitkräfte geführt. Die Absenz direkter militärischer Bedrohung und die Einbindung in verschiedenen Allianzen zeigten neue Anforderungen internationalen Typs auf und ließen die Landesverteidigung in den Hintergrund treten. Folglich internationalisiere sich die Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die sich fortan nur noch mit instrumentellen (Konfliktvermeidung und –begrenzung), anstelle von absoluten bewaffneten Konflikten konfrontiert sehe. Im Rahmen der Bündnisse würden Krisen schließlich kooperativ angegangen, woraus auch die Beteiligung an Auslandseinsätzen folgere, was ebenfalls eine Professionalisierung und Flexibilisierung der jeweiligen Streitkräfte erforderlich mache.

3. Historische Entwicklung von Bundeswehr und Wehrpflicht in Deutschland

In diesem Abschnitt soll bei weitem kein umfassender Überblick über die bundesdeutsche Militärgeschichte seit Gründung der Bundeswehr 1955 gegeben werden.[4] Vielmehr wird der Fokus auf Eckdaten der Entwicklung des deutschen Militärs im Zusammenhang mit dem bipolaren System sowie dessen Beendigung gelegt und die Veränderungen vor dem Hintergrund der Wehrpflicht herausgestellt.

3.1. Einrichtung der Bundeswehr 1956

Eine öffentliche und parlamentarische Diskussion um die Wiederbewaffnung Deutschlands wurde ausgelöst durch die Berliner-Blockade der Sowjetunion in den Jahren 1948 und 1949. (Maar, 1997, S. 30) Die Remilitarisierung Deutschlands wurde aufgrund sicherheitspolitischer Aspekte während des Ost-West-Konflikts durch die Siegermächte eingeleitet und eine Eingliederung der Bundesrepublik in die NATO vorangetrieben. Die Streitkräfte waren in dieser Zeit jedoch nur oberflächlich unter deutschem Befehl, da sie nicht ohne Zustimmung der NATO ausgestattet oder eingesetzt werden konnten. Dies änderte sich 1954 mit den Verträgen von Paris und Bonn, die Deutschland Souveränität über seine Außen- und Verteidigungspolitik zugestanden.[5] (Frevert, 2001, S. 331)

Im Jahr 1953 wurde die Aufstellung von Streitkräften als verfassungskonform erklärt und die Verfügbarkeit der deutschen Truppen für die NATO vor dem Hintergrund der sowjetischen Bedrohung festgelegt. Weiterhin wurde die Ausgestaltung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in zwei Wehrrechtsnovellen der Jahre 1954 und 1956 fixiert, nachdem Theodor Heuss[6] im Rahmen der Wiederbewaffnungsdebatte zu Beginn des Jahres 1949 im Parlamentarischen Rat die allgemeine Wehrpflicht „das legitime Kind der Demokratie“ genannt und damit das KDV-Recht zu verhindern gesucht hatte.[7] (Maar, 1997, S. 30 f.) In diese Zeit fällt auch der Beitritt Deutschlands zur NATO und WEU am 5. Mai 1955, der für die Bündnisstaaten zugleich einen erweiterten Kontrollmechanismus deutscher militärischer Aktivitäten bedeutete. (Thoß, 2000, S. 12)

Vor dem Hintergrund der Remilitarisierung und den Bündnisverpflichtungen, sollte eine 500.000 Mann starke Armee bis zum Jahr 1959 aufgestellt werden. Da dieses auf drei Jahre angesetzte Ziel nicht annähernd durch freiwillige Soldaten erreicht wurde und auch in absehbarer Zeit nicht zu erreichen gewesen wäre, brachte die CDU/CSU-Bundesregierung die Wehrpflicht in die parlamentarische Diskussion ein. Die SPD, welche bereits der Remilitarisierung ablehnend gegenüber gestanden hatte, führte gegen eine Einführung der Wehrpflicht an, dass diese erstens den Graben zwischen der Bundesrepublik und der DDR[8] noch vertiefen würde und Massenarmeen zweitens im Zeitalter atomarer Abschreckungstaktiken nur eine geringe Rolle in militärischen Konflikten spielen würden. An dritter Stelle der Argumentation wurde die technische Entwicklung genannt, die Soldaten verlangen würde, welche umfangreicher ausgebildet seien und für einen längeren Zeitraum zur Verfügung stünden, wie es zu dieser Zeit bereits von Marine und Luftwaffe praktiziert wurde.[9] (Frevert, 2001, S. 337)

Das Gesetz zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde am 7. Juli 1956 verabschiedet und trat schließlich am 25. Juli. 1956 in Kraft. (Seidler & Reindl, 1971, S. 10 f.) Darin fand sich insbesondere die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung wieder, die durch Erfahrungen aus der nationalsozialistischen Willkürherrschaft und zum Schutze des Volkes vor Zwangsrekrutierungen durch die Besatzungsmächte ihre Notwendigkeit begründete; eine Totalverweigerung war nicht vorgesehen und die Dauer des Grundwehrdienstes betrug bis zum Jahr 1962 zwölf Monate, danach 18 Monate.[10] (Maar, 1997, S. 24 f.).

Ein weiteres Ziel, das mit der Wehrpflicht verfolgt wurde, war einer Militarisierung der Gesellschaft durch politische Kontrolle vorzubeugen und gleichzeitig die Integration von Militär und Gesellschaft zu fördern. (Steinweg, 1981, S. 134) Des Weiteren gab die Bundesregierung in einer Denkschrift zur Begründung der Wehrpflicht von 1956 an, dass vor allem ein schnelles Ersetzen der Verluste durch gut ausgebildete Reservisten gewährleistet sein müsse. Diese müssten zudem für mobile Verbände, Unterstützungsverbände als auch die heimische Verteidigung zur Verfügung stehen. (Schubert, 1979, S. 104 f.)

Im Kriegsfall ging die Befehlsgewalt vom Verteidigungsminister auf den Bundeskanzler über, um eine Führung der Armee an Regierung und Parlament vorbei zu verhindern, wie es sich in der Weimarer Republik vollzogen hatte. Weiterhin hielten parlamentarische Kontrollmechanismen sowie eine Institution zur Wahrung der Grundrechte innerhalb der Streitkräfte, der Wehrbeauftragte des Bundestages[11], Einzug in die deutsche Militärpolitik. Eine weitere Annäherung der Bundeswehr an die Gesellschaft fand durch die Konzeption der Inneren Führung statt, in deren Zusammenhang Offizier Wolf Graf von Baudissin den Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“[12], also als fortwährendes Mitglied der demokratischen Gesellschaft im Dienste der Armee, erklärte. (Frevert, 2001, S. 332 f.)

Gegen Ende des Jahres 1956 sollten 15.000 Männer gemustert werden. Nur 0,3% beriefen sich auf das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung, sodass 1957 schließlich 10.000 als tauglich gemusterte Männer in deutsche Kasernen einzogen. (Frevert, 2001, S. 338)

3.2. Entwicklung bis 1990

Die Rate der Kriegsdienstverweigerer blieb bis Mitte der 1960er Jahre bei unter 1% der gemusterten Männer. Dies änderte sich durch die politische Auseinandersetzung der jungen männlichen Bevölkerung vor dem Hintergrund der Kontroverse um die Notstandsgesetze, des Vietnamkrieges sowie der Studentenbewegung. Infolgedessen stieg die Zahl der Kriegsdienstverweigerer im Jahr 1968 auf über 10.000 an und erstmals nach dem Einwand von Theodor Heuss, wurden Stimmen laut, die einen Missbrauch des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung sahen. (Frevert, 2001, S. 338 f.)

Die Reform der Bundeswehr in ihrer Struktur zu Beginn der 1970er Jahre verfolgte die bis dato nur unzureichend realisierte Annäherung an zivilgesellschaftliche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen sowie die Abkehr von traditionalistischen hin zu sozialdemokratischen Tendenzen. Sie sollte unter anderem durch Maßnahmen wie obligatorische Hochschulausbildungen für Offiziere und weitere bildungspolitische Neuerungen erreicht werden, um eine Entfernung des Militärs von der Gesellschaft zu verhindern.[13] Eine weitere Veränderung betraf die Dauer des Grundwehrdienstes, die im Jahr 1973 von 18 Monaten auf 15 Monate herabgesenkt wurde. (Bald, 2005, S. 81 ff.)

Im Jahr 1977 – die Anträge auf Kriegsdienstverweigerung zählten 70.000 – wurde das Verfahren der Kriegsdienstverweigerung gesetzlich gelockert, sodass ein Verweigerungswilliger sich nicht mehr vor bis zu drei Instanzen bezüglich seiner Gewissensgründe zu erklären hatte. Ab diesem Zeitpunkt genügte eine schriftliche Darlegung der Beweggründe für die Verweigerung des Dienstes an der Waffe. Weil das Verfassungsgericht den Wehrdienst als die vorrangige Pflicht für die männlichen Bürger einstufte, trat 1984 das novellierte Gesetz in Kraft, das eine strengere Prüfung der schriftlichen Verweigerungsbegründung erst nach der Musterung vorsah und somit die zuvor nahezu erreichte Gleichwertigkeit von Wehr- und Zivildienst einschränkte. Für die Prüfung der Verweigerungsanträge war das ebenfalls 1984 eingerichtete Bundesamt für Zivildienst verantwortlich. (Frevert, 2001, S. 339 f.)

Eine bedeutende Veränderung der Aufgabensituation der Bundeswehr ergab sich im Jahr 1987 im Zuge der „Blauhelmeinsätze“ mit UN-Mandat. Nicht mehr nur die Landesverteidigung, sondern auch humanitäre Einsätze sowie die Wahrung deutscher Interessen abseits des NATO-Gebiets legitimierten die deutschen Streitkräfte. (Bald, 2005, S. 143 f.)

Mit der Friedensbewegung der 1980er Jahre und dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/1990 kam zunehmend Kritik an der Größenordnung und der Struktur der Bundeswehr sowie den damit verbundenen wachsenden Rüstungsausgaben auf. (Frevert, 2001, S. 350) Im Jahr 1987 überstieg zudem der Anteil der Kriegsdienstverweigerer mit 51% erstmals denjenigen der Wehrdienstleistenden; dieser Trend setzt sich bis heute fort. (Fleckenstein, 1989, S. 6) In der Folge der Konfliktbeilegung im Jahr 1990 begann eine Phase von komplexen Verhandlungen zwischen den Teilnehmerstaaten, die unter anderem zu einer umfangreichen internationalen Abrüstung, sowohl nuklear, als auch an übrigen Kampfmitteln, und zur Übertragung der alleinigen Souveränität für die Außen- und Sicherheitspolitik auf Deutschland führten. (Bald, 2005, S. 125 ff.)

3.3. Der Wandel der Bundeswehr bis heute

Im Rahmen der Wiedervereinigung begann auch die Eingliederung der ehemaligen NVA-Soldaten in die nun gesamtdeutschen Streitkräfte. Diese fällt zeitlich mit den ersten Rufen nach „Out-of-Area“-Einsätzen zusammen, welche durch die irakische Besetzung Kuwaits 1990 und die Krise im einstigen Jugoslawien ab 1993 aufkamen. (Fleckenstein, 2005, S. 13)

Die Wehrpflicht wurde mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz vom 15.12.1995 von zwölf Monaten auf zehn Monate verkürzt, nachdem sie 1990 bereits von 15 Monaten auf 12 Monate gekürzt worden war, und es wurde eine freiwillige Verlängerung des Grundwehrdienstes auf bis zu 23 Monate bei höherem Verdienst ermöglicht (FWDL). (Bald, 2005, S. 150) Zum Ende der 1990er Jahre leisteten circa ebenso viele Männer Zivildienst, wie Wehrdienst und auch die öffentliche Anerkennung stieg zunehmend an, um in der Folge sogar den Zivildienst als die sinnvollere Alternative anzusehen. (Frevert, 2001, S. 346) Durch eine Intervention des Europäischen Gerichtshofes im Jahr 2000 wurde es nun auch Frauen gestattet freiwillig den Dienst an der Waffe zu leisten, der ihnen bis dahin verboten war. (Frevert, 2001, S. 353)

In den Nachwehen verfehlter Reformen zur Errichtung von Krisenreaktions - und Hauptverteidigungskräften (1992 beschlossen) sowie eines desolaten Verteidigungshaushaltes, erklärte Verteidigungsminister Struck Anfang des Jahres 2004 eine Umstrukturierung der Organisation der Bundeswehr von Grund auf. (Fleckenstein, 2005, S. 14) Bis zum Jahr 2010 soll die Neuorganisation eine Reduktion des gesamten Bundeswehrumfangs auf 252.000 Soldaten beinhalten, bei der das Heer mit einer Personalkürzung um ca. 100.000 Soldaten auf eine Summe von etwa 140.000 Soldaten die gravierendsten Kürzungen erfahren soll. Eine weitere Maßnahme soll die Schaffung von drei Verbändegruppen darstellen, die Eingreifkräfte (35.000 Soldaten) für zeitlich begrenzte internationale friedensschaffende Maßnahmen, Stabilisierungskräfte (70.000) zur längerfristigen Überwachung und Kontrolle und Unterstützungskräfte (147.500) für Verwaltungs-, Führungs- und Ausbildungsaufgaben, umfassen soll. (Bald, 2005, S. 173 f.; Bundesministerium der Verteidigung, 2007, S. 4; Bundesministerium der Verteidigung, 2006, S. 111) Misshandlungen in deutschen Kasernen machten noch im selben Jahr zunächst in Coesfeld, dann verteilt über die gesamte Bundesrepublik[14], die Innere Führung und vor allem den „Staatsbürger in Uniform“ zu einer Farce; Konsequenzen hatten die Vorfälle nur für die beteiligten Ausbilder, nicht aber für die Bundeswehr bzw. für die Ausbildung insgesamt. (sueddeutsche.de, 2004)

[...]


[1] CDU-Grundsatzprogramm: (CDU, 2007, S. 76); CSU-Grundsatzprogramm: (CSU, 2007, S. 170 f.); CDU/CSU-Wahlprogramm: (CDU/CSU, 2009, S. 87); SPD- Grundsatzprogramm: (SPD, 2007, S. 26); SPD-Wahlprogramm: (SPD, 2009, S. 92); FDP-Wahlprogramm: (FDP, 2009, S. 23 u. 74); Bündnis 90/Die Grünen- Grundsatzprogramm: (Bündnis 90/Die Grünen, 2002, S. 162 f.); Bündnis 90/Die Grünen-Wahlprogramm: (Bündnis 90/Die Grünen, 2009, S. 22 u. 216); Die Linke-Wahlprogramm: (Die Linke, 2009, S. 54)

[2] Die Ergebnisse aus diesem Abschnitt wurden aus der Zusammenfassung von (Szvircsev Tresch, 2005) übernommen und entstammen folgenden Originalquellen: (Doorn, 1975; Haltiner & Klein, 2002; Haltiner, 1998; Janowitz, 1972; McArdle Kelleher, 1978; Martin, 1977; Moskos, 1988; Moskos, 1977)

[3] Die Kriegsdienstverweigerung aus historischer und international vergleichender Perspektive stellt (Maar, 1997) dar.

[4] Eine umfassende Darstellung der militärischen Geschichte Deutschlands seit 1955 liefern: (Bremm, 2005) und (Bald, 2005). Eine historische Aufarbeitung der Wehrpflicht in Deutschland von der Französischen Revolution bis zur Mitte der 1990er Jahre bietet (Herz, 2003).

[5] Es blieben jedoch Einschränkungen bestehen, die der Bundesrepublik untersagten A-, B- und C-Waffen zu besitzen und einen eigenen Generalstab einzurichten. Zudem behielten sich die Siegermächte bis zum Jahr 1990 das Recht auf genaue Kontrollen der bundesdeutschen Militäraktivitäten vor; der Oberbefehl im Konfliktfall lag bei der NATO. (Frevert, 2001, S. 331)

[6] T. Heuss merkte diese Worte im Rahmen der Diskussion um die Aufnahme des KDV-Rechts in das Grundgesetz an und wollte – als eigentlicher Gegner der Wiederbewaffnung – die Wehrpflicht an sich nicht rühmen, sondern lediglich dem von ihm erwarteten „Gewissensmissbrauch“ hinsichtlich des KDV-Rechts einen Riegel vorschieben. (Bald, 1998, S. 141 ff.)

[7] Historische Analysen zum Zusammenhang von Demokratie und Wehrpflicht in Deutschland finden sich in (Bald, 1991) und (Messerschmidt, 1998), eine allgemeine Darstellung liefert Rose, der zu dem Schluss kommt, dass die Verknüpfung von Demokratie und Wehrpflicht historisch nicht zu belegen und eher noch zu revidieren sei. (Rose, 1998, S. 32 f.)

[8] Eine detaillierte Untersuchung der Wehrpflicht vor dem Hintergrund des geteilten Deutschlands bietet (Bald, 1994).

[9] Eine zusätzliche Rolle spielte 1957 die bevorstehende Bundestagswahl, für welche die SPD den größeren Bevölkerungsteil, der die Wehrpflicht ablehnte, hinter sich zu versammeln suchte; nach der verlorenen Wahl gab die SPD ihre Abwehrhaltung gegen die Einführung der Wehrpflicht auf. (Frevert, 2001, S. 337)

[10] Detaillierte Ausführungen zur politischen Diskussion um das Kriegsdienstverweigerungsgesetz (Art. 4 Abs. 3 GG) nach Ende des 2. Weltkrieges in (Maar, 1997, S. 25 ff.).

[11] Der Jahresbericht 2008 des Wehrbeauftragten ist als Drucksache 16/12200 verfügbar: (Bundesregierung, 2009).

[12] Weiter Informationen zur Inneren Führung und dessen Konzept sind nachzulesen unter: http://www.innerefuehrung.bundeswehr.de/ (abgerufen: 15.09.2009).

[13] Die gesellschaftliche und politische Integration der Bundeswehr wurde von Verteidigungsminister Schmidt im Weißbuch aus dem Jahr 1970 gefordert und war ein zentraler Punkt in seinem Reformprogramm. (Bundesministerium der Verteidigung, 1970)

[14] Ähnliche Vorfälle derer in Coesfeld sind aus Ahlen, Bruchsal, Dornstadt, Kempten, Sonthofen, Wildeshausen, und vom ABC-Abwehr-Lehrbataillon 210 Sonthofen bekannt; aus Brandenburg, Calw, Doberlug, Hamm, Nienburg, Parow, Stuttgart, Varel und Wittmund sind ebenfalls Verletzungen der Grundsätz der Inneren Führung, von geringerem Ausmaß, bekannt. (Klüver, 2004)

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Allgemeine Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland. Eine zeitgemäße „Pflicht“?
Hochschule
Universität Osnabrück  (Sozialwissenschaften)
Note
1,15
Autor
Jahr
2009
Seiten
92
Katalognummer
V140586
ISBN (eBook)
9783640486021
ISBN (Buch)
9783640486267
Dateigröße
1519 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Allgemeine, Wehrpflicht, Bundesrepublik, Deutschland, Eine
Arbeit zitieren
Matthias Hellmich (Autor:in), 2009, Allgemeine Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland. Eine zeitgemäße „Pflicht“?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140586

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