Formelbasierter Zweitspracherwerb bei erwachsenen Lernern

Eine konstruktionsgrammatische Analyse von Äußerungen italienischer Lerner des Deutschen (L2) im ungesteuerten Zweitspracherwerb (aus dem ESF-Projekt)


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

20 Seiten, Note: 1,0

Christine Porath (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1. Konstruktionsgrammatik und Erstspracherwerb
2.2. Formelhafte Äußerungen und Konstruktionen im Zweitspracherwerb
2.2.1. Bei Kindern
2.2.2. Bei Erwachsenen

3. Konstruktionsgrammatische Analyse von Äußerungen erwachsener italienischer Lerner des Deutschen (aus dem ESF Projekt)
3.1. Sprecher 1: Marcello
3.2. Sprecher 2: Angelina
3.3. Vergleich und Zusammenfassung

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Wie in der allgemeinen Linguistik, gibt es auch in der Zweitspracherwerbsforschung [ZSEF] gewisse Strömungen und Trends, die die Sicht auf den Spracherwerb und die Analyse von empirischen Daten mitbestimmten. Von Bedeutung sind hierbei vor allem die pragmatischen und funktionalen Herangehensweisen, die vor allem den Einfluss von innersprachlichen (d.h. z.B. in Bezug auf Form-Funktions- und Funktion-Form-Beziehungen in den Sprachen) und außersprachlichen (wie z.B. Sprechhandlungsmustern) Faktoren auf den Zweitspracherwerb untersuchen. Zentrale Forschungsthemen bei diesen linguistischen Strömungen sind vor allem der Einfluss von L1- auf L2-Sprachen (Transferbeziehungen) und andere Einflussfaktoren sowie die Beschreibung und Entstehung von Interimsprachen[1].

Eine weniger populäre Richtung in der ZSEF ist die Konstruktionsgrammatik, die vom Gebrauch der Sprache ausgeht und die Entstehung sprachlicher Systeme (bzw. das Erlernen dieser) von diesem ausgehend beschreibt. Diese in der allgemeinen Linguistik entwickelte Theorie wurde zunächst auf den Erstspracherwerb bei Kindern übertragen und schließlich auch auf den Zweitspracherwerb bei Kindern. Die Ergebnisse der konstruktionsgrammatischen ZSEF haben mittlerweile allgemeinen Anklang gefunden und eine Reihe von empirischen Untersuchen initiiert – jedoch hauptsächlich im Bereich des kindlichen Zweitspracherwerbs. Zum Umgang mit Formeln und Konstruktionen (als eines der elementaren Themen der Konstruktionsgrammatik) bei erwachsenen Lernern wurde jedoch bisher nur wenig geforscht. Auch die Aussagen in der Literatur gehen in den meisten Fällen nicht über Annahmen und Vermutungen hinaus.

Diese Arbeit ist ein Ansatz in diese Richtung – die konstruktionsgrammatische Analyse von Äußerungen erwachsener Lerner des Deutschen soll daher im Mittelpunkt stehen. Zunächst sollen dazu die theoretischen Grundlagen ausschnitthaft dargestellt werden, um vor diesem Hintergrund die untersuchten Daten besprechen zu können. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob von Erwachsenen beim ungesteuerten Zweitspracherwerb formelhafte Sequenzen ähnlich wie von Kindern genutzt werden und ob diese überhaupt vorkommen. Es muss jedoch betont werden, dass es aufgrund der frei zugänglichen Datenlage und des zeitlichen Rahmens für diese Arbeit schwierig ist, allgemeingültige und absolute Aussagen machen zu können. Zum Teil sind anhand der verwendeten Daten nicht mehr als vage Vermutungen möglich. Diesbezügliche Probleme und Schwierigkeiten werden im Zusammenhang mit der Analyse näher besprochen.

2. Theoretische Grundlagen

2.1. Konstruktionsgrammatik und Erstspracherwerb

Als Gegenbewegung zur Generativen Grammatik geht die Konstruktionsgrammatik davon aus, dass Sprache nicht das Ergebnis der Zusammenfügung lexikalischer Bausteine nach bestimmten Regeln ist, sondern sich im Sprachgebrauch in bestimmten Kontexten aus Input, Wiederholung und Output konstituiert.

„There is in EG [Emergent Grammar = die Vorgängerbezeichnung für Konstruktionsgrammatik (Anm.d.V.)] no grammar in the sense of one area (or „module“) of language that is set aside as the repository of abstract structure. Instead there are diffenrent kinds of repitition, some of which concern what would more conventionally be called lexical, some idiomatic, and some morphological or grammatical. These repititions come from various genres and situations of speaking, but come to be recognized as grammatical when enough of them can be identified that they are seen to form a subsystem. The grammar of a language is, then, consists not of a single delimited system, but rather, of an open-ended collection of forms that are constantly being restructured and resemanticized during actual use.” (Hopper 1998, 158f.)

Die Grammatik einer Sprache besteht also aus dem, was zwischen den Sprechern ausgehandelt und konventionalisiert immer wieder verwendet wird. Dazu gehören u.a. syntaktische Muster, ritualisierte Formeln und semantische Inhalte von Äußerungen. Wichtig für den Spracherwerb an dieser Theorie ist, dass die Äußerungen, die ständig wiederholt werden, auf diese Weise an die Sprachlerner vermittelt werden, die daraus eben diese grammatischen Subsysteme ableiten, aufbauen und verändern können. Diese sog. gebrauchsgestützte (usage-based) Perspektive geht davon aus, dass in bestimmten Kontexten oder Anlässen bestimmte sprachliche Äußerungen wiederholt produziert werden und diese dadurch mental verknüpft werden, sodass sich „sprachliche Verwendungsmuster“ (Tomasello 2006, 21) herausbilden, die bei den Sprechern als Konstruktionen gespeichert werden.

Kleine Kinder können anhand dieser an bestimmte Kontexte gebundenen Äußerungen mit Hilfe bestimmter aufeinander aufbauender Prozesse ihre Muttersprache erlernen.

Zunächst lernen Kinder imitierend, d. h. sie imitieren das intendierte verbale und nonverbale Verhalten der Erwachsenen in ihrem Umfeld. Die nachgeahmten bzw. wiederholten Äußerungen sind sog. Holophrasen[2] (dies können ganze v.a. ritualisierte Sätze oder einzelne Wörter sein; vgl. Ebd., 27), die an bestimmte Kontexte gebunden sind.

Darauf aufbauend können Kinder aus wiederkehrenden Äußerungen, die gewisse systematische Variationen aufweisen, sog. itemgestütze Schemata bilden. Die konstant bleibenden Elemente dieser variierenden kontextgebundenen Äußerungen werden vom kindlichen Lerner als Grundbausteine sprachlicher Schemata oder Muster gespeichert, in denen freie Stellen die Kombination mit variablen Elementen ermöglicht (z.B. Wo ist das X, Gib mir X). Sowohl die Platzhalter als auch die Schemata selbst sind funktional definiert – sie beziehen sich auf einen schemainternen bzw. außersprachlichen Kontext oder ein Ereignis.

Durch Analogie können außerdem z.B. Platzhalter gleicher oder anderer funktionaler Kategorien in den bereits etablierten Schemata verwendet werden oder ein Schema auf andere Lexeme übertragen werden, die eigentlich ein eigenes Schema bilden (bspw. Übertragung der schwachen Verbalflexion auf starke Verben – eine Übergeneralisierung, die bei kleinen Kindern häufig auftritt). Um allerdings das grammatische und lexikalisch-semantische System einer Sprache korrekt zu erlernen und irgendwann auch verwenden zu können, sind jedoch auch sog. Generalisierungseinschränkungen nötig. Dadurch werden die durch Analogie entstandenen Übergeneralisierungen korrigiert bzw. eingeschränkt.

In einem letzten Schritt können aus den gelernten Schemata bzw. Konstruktionen durch eine distributionelle Analyse paradigmatische Kategorien (z.B. Verb oder Substantiv) herausgebildet werden. Dabei werden bestimmte sprachliche Elemente, die in verschiedenen Äußerungen oder Konstruktionen dieselbe Funktion haben als eine gemeinsame abstraktere Kategorie zusammengefasst (vgl. Tomasello 2006, 31).

Diese Prozesse ermöglichen es einem Kind, zu kommunizieren und die Sprache seines Umfeldes mit all seinen Subsystemen zu erwerben und kompetent zu verwenden.

„Aus einer konstruktionsgrammatischen, gebrauchsgestützten Perspektive konstruieren [Kinder] Äußerungen aus einer Reihe bereits erworbener sprachlicher Bausteine von unterschiedlicher Größe, Form, interner Struktur und variablem Abstraktionsgrad - angepasst an die sich aus der aktuellen Verwendungssituation ergebenden Anforderungen. Dieser Prozess der symbolischen Integration, in dessen Verlauf z.B. die Leerstelle einer itemgestützten Konstruktion mit einem neuen Element gefüllt wird, so dass sich ein kohärentes Ganzes ergibt, erfordert die Konzentration des Kindes sowohl auf Form wie auf Funktion.“ (Ebd., 32)

2.2. Formelhafte Äußerungen und Konstruktionen im Zweitspracherwerb

2.2.1. Bei Kindern

Dass Kinder auch beim Erlernen einer Zweitsprache auf ähnliche Weise von wiederkehrenden Äußerungen und Formeln Gebrauch machen, ist weitgehend untersucht und akzeptiert. Eine viel zitierte und erkenntnisreiche Untersuchung ist die von Wong Fillmore aus den 70er Jahren. Obwohl ihr Anliegen mehr die Erklärung individueller Unterschiede beim Zweitspracherwerb war, beschreibt ihr Aufsatz von 1979 den Erwerbsverlauf grammatischer und funktionaler Kategorien mit einem konstruktionsgrammatischen Ansatz für das Englische als L2.

Außerdem zeigt sie, dass u.a die Quantität und Qualität des Inputs für den Lernerfolg von großer Bedeutung ist. Aus konstruktionsgrammatischer Sicht bedeutet dies, dass der Input den kindlichen Lerner mit dem Material versorgt, aus dem Schemata, Konstruktionen und Kategorien gebildet werden können. Ein mangelhafter oder geringer Input erschwert genau dies und damit den Spracherwerb. Deutlich wird dies auch bei den Probanden (fünf spanischsprachige Migrantenkinder aus Mexiko), die Wong Fillmore in ihrer Langzeitstudie zum Erwerb des Englischen untersucht hat. Die Kinder, die aufgrund ihrer geringen sozialen Kontakte mit Muttersprachlern weniger englischsprachigen Input hatten (z.B. Jesus), machten während des Untersuchungszeitraumes weniger Lernfortschritte als Kinder, die viel Kontakt mit englischsprachigen Kindern oder Erwachsenen hatten (z.B. Nora). Von Vorteil waren zudem interaktive Spiele mit Muttersprachlern, die einen großen Anteil an verbaler Kommunikation erfordern (z.B. Rollenspiele). Erklärbar ist dies u.a. dadurch, dass bei solchen Spielen viele Formulierungsroutinen verwendet werden, um z.B. die Rollen zu verteilen oder Regeln für das Spiel zu klären. Wong Fillmore konnte gerade bei der sehr erfolgreichen Lernerin Nora die Bearbeitung der formelhaften Sequenz how do you do dese von der anfänglich unveränderten Repetition über die Ausbildung einer Konstruktion bis zum freien Fragewort how im Laufe ihres Spracherwerbs nachvollziehen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab.1: How do you do dese? - von der Formel zur produktiven Rede (Nora) (nach Wong Fillmore 1979, 214)

An den Beispielen in der Tabelle wird sichtbar, wie die Lernerin Nora die Formel how do you do dese im Laufe der Zeit bearbeitet. Dieser schrittweise Zerlegungsprozess, der hier vom Ende der Äußerung hin zum Satzanfang vorschreitet, wird laut Konstruktionsgrammatik durch variierende Äußerungsstrukturen im Input des Lerners ermöglicht. Man kann sich das wahrscheinlich so vorstellen: Die Lernerin Nora hört in ihrem englischsprachigen Umfeld häufig Äußerungen, die die Formel how do you do dese an bestimmten Stellen variiert (z.B. how do you do X, how do X X, how did you do usw.). Wenn diese Variationen der ursprünglichen Formel häufiger wahrgenommen werden, kann der Lerner ein Schema mit Leerstellen[3] speichern, die zunächst beliebig aufgefüllt werden können, bis der Lerner die paradigmatischen Kategorien erworben hat, die durch die invariablen Komponenten des Schemas gefordert werden, sodass zielsprachlich korrekte Realisierungen möglich sind.

[...]


[1] Interimsprache ist ein „[s]prachliches Übergangssystem, das im Verlauf des Zweitspracherwerbs verwendet wird. Die I. ist zum einen durch Interferenz geprägt, zum anderen durch systematische, möglicherweise universelle Merkmale, die weder aus der Erst- bzw. Muttersprache noch aus der Zweit- oder Zielsprache abgeleitet werden können“ (Bußmann 2002, 317).

[2] Holophrasen sind Ein-Wort-Äußerungen (wie Danke, Entschuldigung) oder unveränderliche sprachliche Äußerungen bzw. feststehende Wendungen (wie z.B. Don’t mention it ‚keine Ursache’). Sie sind syntaktisch nicht oder nur wenig strukturiert, beziehen sich jedoch auf „komplexere Grundbedeutungen [...] als die lexikalische Grundbedeutung der Einzellexeme in der Erwachsenensprache. Holophrastische Äußerungen sind daher als ‚implizite Sätze’ interpretiert worden“ (Bußmann 2002, 283).

[3] Haberzettl (2006, 57) verwendet dafür den Begriff „formulaic frames“.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Formelbasierter Zweitspracherwerb bei erwachsenen Lernern
Untertitel
Eine konstruktionsgrammatische Analyse von Äußerungen italienischer Lerner des Deutschen (L2) im ungesteuerten Zweitspracherwerb (aus dem ESF-Projekt)
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Funktionale, pragmatische und soziokulturelle Analysen des Zweit- und Fremdspracherwerbs
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
20
Katalognummer
V140816
ISBN (eBook)
9783640507443
ISBN (Buch)
9783640507610
Dateigröße
472 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konstruktionsgrammatik, Zweitspracherwerb, Deutsch als Fremdsprache, Linguistik
Arbeit zitieren
Christine Porath (Autor:in), 2009, Formelbasierter Zweitspracherwerb bei erwachsenen Lernern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140816

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