Über die Einordnung des antiken Lehrgedichts in der Literaturwissenschaft anhand von Beispielen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

36 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Das Problem der Einordnung des Lehrgedichts in die Literaturwissenschaft

2 Die drei Grundtypen (nach Effe, 1977)
2.1 Arat
2.2 Nikander
2.3 Lukrez

3 Themen der Gattung Lehrgedicht
3.1 Landwirtschaftliche Lehrgedichte
3.2 Astrologische Lehrgedichte
3.3 Lehrgedichte über Fischfang und Jagd
3.4 Geographische Lehrgedichte
3.5 Medizinisch-pharmakologische Lehrgedichte

4 Das antike Lehrgedicht in der Literaturwissenschaft

5 Quellenverzeichnis
5.1 Literatur

1 Das Problem der Einordnung des Lehrgedichts in die Literaturwissenschaft

„Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich [...]. Die didaktische oder schulmeisterliche Poesie ist und bleibt ein Mittelgeschöpf zwischen Poesie und Rhetorik.“

J. W. v. Goethe (1903: 2)

Dieses Zitat Goethes zeigt die Vielfalt der Möglichkeiten und Abstufungen, in denen sich das Didaktische in der Literatur entfalten kann. So beinhaltet seine Aussage, dass in einem sehr allgemeinen Sinn jedes literarische Werk ‚lehrhaft’ ist, unter der Bedingung, dass es eine an einen Hörer bzw. Leser gerichtete thematische Aussage beinhaltet. Unter Berücksichtigung des Themas dieser wissenschaftlichen Abhandlung ist zu berücksichtigen, dass nur solche Werke als Lehrdichtung zu verstehen sind, in denen die didaktische Intention des Autors einen bestimmten Grad an Deutlichkeit und Ausprägung erreicht. (Effe 1977: 11) Zu dieser Aussage wird später noch im Speziellen Bezug genommen, indem eine vertiefte Erklärung zum Termini ‚Lehrgedicht’1, seiner Stellung in der Literaturwissenschaft und natürlich, wie der Titel bereits verrät, auch seiner historischen Entwicklung vorgenommen wird.

Als Gattungsbezeichnung ist der deutsche Terminus ‚Lehrgedicht’ erstmals 1646 belegt. Es ist zu vermuten, dass der Begriff einer direkten Übersetzung des bei den antiken Grammatikern Diomedes2 und Servius verwendeten Begriffs (carmen) didascalicum entstammt. In anderen europäischen Ländern finden sich keine terminologischen Äquivalente

u diesem Begriff, jedoch für den der ‚Lehrdichtung’ wie etwa ‚didactic poetry’, ‚poésie scientifique’ oder ‚poesia didattica’. Aus diesem Grund ist der Gattungsbegriff ‚Lehrgedicht’ vornehmlich von deutschen Philologen verwendet, um ursprünglich auf Texte der griechisch-römischen Antike zu referieren. Später wurde er dann auch auf Texte der lateinischen und nichtlateinischen Literatur des Mittelalters und der Neuzeit angewendet. Hesiod3, Vergil und Horaz werden als modellbildende Repräsentanten der Gattung behandelt. Aristoteles und Diomedes hingegen beschäftigten sich bereits in der Antike mit der Problematisierung und Definition des Genres. (Haye 1997: 19 f.)

Von der Antike bis hin zur Moderne wurden Lehrgedichte eher abfällig bewertet. Dies resultierte in einer vernachlässigten Forschung dieser. Die Gründe dafür sind einfacher Natur ― dichtungstheoretisch ist die Gattung anfechtbar und problematisch. Jedoch ist dieser Fakt unvorstellbar, wenn man betrachtet, dass ein großer Teil der überlieferten antiken Literatur aus Lehrgedichten besteht (fragmentarische und vollendete Werke). Die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit wurde bisher allerdings nur herausragenden Werken gewidmet, die in Geltung und Wirkung von hoher Bedeutung waren. Überdies vergaß man über die

nicht-kanonischen Werke zu forschen, das für die Gesamtheit ― die, so sei es an dieser Stelle erwähnt, in dieser Arbeit leider nicht erreicht werden kann ― eines Überblicks der griechisch-römischen Lehrdichtung enorm wichtig gewesen wäre. Es ist allerdings anzumerken, dass neben den bisher untersuchten didaktischen Lehrgedichten des Lukrez’ und des Vergils nun auch Arat immer mehr in den Blick der Forschung rückt. Damit ist wenigstens ein Anfang eines Wandels erkennbar. Gewichtige Gründe dafür sind auf der einen Seite die zunehmende didaktische Ausrichtung der Gegenwartsliteratur, zusätzlich aber auch die Erkenntnis des Versäumnisses eindringlicher zu forschen. (Effe 1977: 26f.)

Der Begriff ‚lehrhafte Dichtung’ wird heute für die vielen Formen mehr oder weniger didaktischer Poesie verwendet, wobei der Begriff ‚Lehrgedicht’ in seiner heute eingeengten Definition Werke bezeichnet, die auf poetische Weise einen bestimmten, systematisierten fachwissenschaftlichen Stoff darstellen. Das bedeutet, dass dieser Begriff sich auf eine Literaturform bezieht, deren gattungsbestimmende Hauptvertreter der griechisch-römischen Antike angehören. (Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 10 ff.) Das Lehrgedicht in diesem Sinn ist heute tot. Der moderne Autor allerdings hat den entrückten Bereich des durch keine äußeren Zwecke bestimmten, autonomen Ästhetischen längst verlassen und sich verstärkt der Entwicklung des Didaktischen zugewendet. So beeinflusst der Autor das Denken und Handeln des Rezipienten. Als Beispiele für neue literarische Werke sind vor allem die Lyrik und Dramatik Brechts zu nennen, sowie die engagierter, politisch-gesellschaftlicher Aufklärung dienender Literatur, die von dem alten Stil der Lehrdichtung abweichen. Ein herausragender Unterschied besteht darin, dass anstatt eines festen, statischen Wissens, nun eher eine Dynamik angestrebt wird, die eine unmittelbare Umsetzung der Lehre in die Praxis fordert. (Effe 1977: 12)

W. Kayser (1965: 334) rückt in seinem einflussreichen literaturtheoretischen Werk die ästhetische Autonomie des „sprachlichen Kunstwerks“ in den Mittelpunkt und stellt die Lehrdichtung damit „als zweckbestimmte und also nicht mehr autonome Literatur außerhalb der eigentlichen Dichtung“ dar. Effe (1977: 14) kritisiert daran, dass diese Definition des Begriffs Dichtung zu eingeengt sei und sich daher mit der literarischen Wirklichkeit widerspreche. Weiterhin schließt er (1977: 15) daraus, dass „es [...] genügend Anlaß gibt, die Verbannung ‚expositorischer’ Texte und speziell der didaktischen Literatur aus dem Bezirk der ‚eigentlichen’ Dichtung oder ihre Ansiedlung an deren äußerstem Rande, wie es seit der Reaktion der Theoretiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts gegen die Nachblüte dieser Literatur im 17. und 18. Jahrhunderts und gegen die Versuche, die Lehrdichtung durch die Etablierung einer neben den drei „Naturformen“ (Goethe) anzusetzenden vierten, didaktischen ‚Gattung’ zu legimitieren, weithin üblich geworden ist, in Frage zu stellen“. C. Spitteler schreibt in seinem Werk Ästhetische Schriften (1947: 179): „In einer anderen Atmosphäre aufgewachsen, würde Goethe seine Farbenlehre zum Lehrgedicht erhoben haben. [...] Nach meiner Ansicht würde Goethes Farbenlehre durch den Vers gewonnen haben.“ So drückt er aus, dass das Lehrgedicht in der Weltliteratur eine gegensätzliche Bedeutung habe und, dass es heutzutage in „Fluch und Bann“ stehe.

Es gibt viele Bemühungen, die didaktische Literatur unvoreingenommen in die wissenschaftliche Betrachtung der Dichtung einzubeziehen, „dabei wird das Didaktische in der Regel als eine Autorenhaltung gefaßt, welche sich in allen Bereichen innerhalb der drei „Naturformen“ der Dichtung: Epik, Dramatik, Lyrik, mehr oder weniger äußern könne“ (Effe 1977: 15). Meistens geht man dabei von der Dreiheit der „Grundbegriffe“ bzw. „Grundhaltungen“ des Dichterischen nach E. Staiger aus und unternimmt den Versuch ohne eine neue „Grundhaltung“ zu bilden, dem Didaktischen innerhalb dieses Systems durch die Konvention sanktionierten Rahmens einzuordnen. Aufgrund der Problematik der Einordnung des Elements des Didaktischen in die Literaturwissenschaft betitelt W. Richter (1965: 31) das Lehrgedicht als „Stiefkind literaturwissenschaftlicher Betrachtung“.

W. Flemming allerdings versucht in seinem Werk Studium generale 12 (1959: 38 ff.) die drei „Grundhaltungen“, also Epik, Dramatik und Lyrik um eine vierte, die der „Gedankendichtung“, die sich in verschiedenen Formen wie etwa Spruch, Sinngedicht oder dem Lehrgedicht findet, zu erweitern. H. Seidler (1965: 344 ff) etablierte daraufhin eine vierte Grundhaltung des Didaktischen als einer zeigenden, betrachtenden Haltung. Dies resultiert dann bei F. Sengle (1967: 12 f.) sogar zu dem Schluss, dass die seit der Klassik kanonisierte Trinität der Gattungen eine Vernachlässigung anderer literarischer, vor allem didaktischer und publizistischer Formen erzwingt. Daher fordert er die Abkehr von der „liebgewordenen Lehre von den drei Dichtungsgattungen“ (1967: 16) W. V. Ruttkowski (1968: 44f.) stellt in einer Untersuchung dann das Dreiersystem in Frage und gelangt neben den drei bekannten Grundhaltungen zu der vierten, „publikumsbezogenen“ Grundhaltung, die Didaktik, Ironie und Artistik enthält.

Abschließend muss betont werden, dass die didaktischen Formen der Literatur mehr Beachtung finden und es zahlreiche Ansätze gibt diese auch theoretisch zu legitimieren. Dazu war die Aufspaltung der klassischen Trinität und die Abwendung „eines restriktiven Begriffs Dichtung als einen zweckfreien, autonomen Bereich des Ästhetischen“ (Effe 1977: 19) notwendig.

Während in der modernen Literaturtheorie und auch -praxis das Lehrgedicht vernachlässigt oder sogar abgelehnt wurde, blühte es einst in der Antike trotz der Eliminierung dessen aus dem Bereich der Dichtung zumindest in der Praxis. Die poetologische Konzeption des Aristoteles bildet einen bedeutsamen Ausgangspunkt für die theoretische Erörterung der Lehrdichtung in der Antike. Als Kriterium der ποίησις setzt er an die Stelle des Versmaßes die μίμησις. Das bedeutet, dass das entscheidende Merkmal der Dichtung für ihn ihr Verhältnis zur „Wirklichkeit“ bzw. Fiktionalität ist. Das Lehrgedicht lässt sich aber an die das Moment der Fiktionalität bindende Theorie genauso schlecht binden wie an spätere Konzeptionen und daher kommt es zu dem Verdikt des Aristoteles, das meint, dass Homer und Empedokles außer dem Metrum nichts gemeinsam hätten. So nennt er Homer einen Dichter (ποιητής), Empedokles aber einen Naturforscher (φυσιολόγος). Auf diese Weise wird das Lehrgedicht als amimetische Literatur aus der Poesie eliminiert und als eine Sonderform, die nur äußerlich poetisch erscheint, wissenschaftlicher Argumentation zugeordnet. (Effe 1977: 19f.)

Im Umkreis der primitiveren und älteren Theorie, die Poesie nur durch ihr Versmaß bestimmt, findet das Lehrgedicht seinen Platz in der hexametrischen Dichtung, da der Hexameter sehr häufig das verbindliche Versmaß ist. Jedoch wird es innerhalb der Subsumierung der episch-hexametrischen Dichtung nicht als besondere Form hervorgehoben. (Effe 1977: 20)

Allerdings im Tractatus Coislinianus erweitert den Aristotelischen Dichtungsbegriff der mimetischen Dichtung um die nichtmimetische Dichtung. Die amimetische Poesie wird unter anderem unterteilt in den Bereich der „erzieherischen Poesie“, welcher aufgespalten wird in „instruierende“ und „betrachtende“ Dichtung. Innerhalb dieses Systems bewegt sich die Lehrdichtung.

In der mittelalterlichen Diskussion ist das poetolologische System des spätantiken Grammatikers Diomedes bestimmend. Er geht zwar von der Platonischen Gliederung der Dichtung in dramatische, erzählende und solche, die beides vereint, aus, führt aber eine weitere ein, die er als didascalice4 bezeichnet. Damit berücksichtigt er das Lehrgedicht nicht nur als besondere Gattung, sondern erkennt es auch als eine an. Fraglich bleibt allerdings, wann diese Theorie aufkam und inwiefern sie daher das Bewusstsein der antiken Autoren beeinflussen konnte. Viele Fragen müssen offen bleiben, da es leider nur wenige Daten über die antike Theorie gibt. Jedoch gilt es als sicher, dass die Lehrdichter ein literarisches Gruppenbewusstsein besaßen, da es viele versteckte und programmatische Bezugnahmen der Autorem aufeinander gab, sowie ein Streben das Werk und auch die Thematik der Vorgänger fortzuführen, aber auch eine gelegentliche Polemik gegeneinander. Hierzu sollen an dieser Stelle nur einige Beispiele genannt werden: Arat schließt an die Lehrdichtung des Hesiod an. Nikander wiederum verweist programmatisch auf Hesiod und Arat. Lukrez betrachtet sich selbst als den Erneuerer des Empedoklichen Lehrgedichts. Vergil hingegen versucht in seinem Werk die didaktische Dichtung des Hesiod, Arat, Nikander und Lukrez zu integrieren usw. (vgl. Effe 1977: 21f.)

Es wird deutlich, dass die Lehrdichter über ein stark ausgeprägtes Bewusstsein, eine ganz spezifische literarische Form zu pflegen, verfügten. Das Lehrgedicht als solches ist in der heutigen Literaturtheorie vor allem durch eine Reihe von Merkmalen wie zum Beispiel seine klar umrissene literarische Form als eine Gattung der antiken Literatur zu sehen. Effe (1977: 22) sagt dazu weiterhin:

Lehrdichtung ist „eine ganz spezifische Form innerhalb des weiten Bereichs der lehrhaften Literatur der Antike: auf die Form literarischer Didaktik, für die heute die Bezeichnung ‚Lehrgedicht’ üblich geworden ist. Das Moment des Lehrhaften kann in unterschiedlicher Intensität und in divergierenden Richtungen die verschiedensten Formen der antiken Literatur durchdringen, kann sich der verschiedensten ‚Schreibarten’ und Aussageweisen bedienen, prosaischer wie poetischer.“

Außerdem beschreibt er das Lehrgedicht als eine Form „direkter lehrhafter Dichtung“ und bezieht sich damit auf Richter (1965: 36), der lehrhafte Dichtung wie folgt beschreibt: Die lehrhafte Haltung „kann sich in allen Gattungen manifestieren, entweder so, daß die Lehrfreude sich wie von selbst inmitten der poetischen Gestaltungskraft entfaltet, den dichterischen Schwung verstärkt bzw. hervorzaubert, oder so, daß die Zweckhaftigkeit in der Lehre bewußt in Rechnung gestellt wird. Ist das letztere der Fall, so ist [...] in der Regel das eigentlich Künstlerische in den Hintergrund gedrängt.“ (35)

Weiterhin definiert er das Lehrgedicht „als eine Form, in welcher das Didaktische am unverhülltesten, intensivsten und systematischsten in den Vordergrund tritt“ (Effe 1977: 22). Das antike Lehrgedicht ist inhaltlich geprägt durch ein einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin (Fachwissenschaft oder Philosophie) zugehöriger und deren Kompetenz unterliegender Stoffbereich. Dieser bildet als solcher ein systematisierbares, in sich geschlossenes Ganzes und in metrischer Form vorgetragen wird. In seiner Darstellung lässt sich der Dichter des Lehrgedichts von den sachlichen Strukturen des Lehrgegenstandes leiten. Dies bedeutet, dass er, wie es das Publikum auch erwartet, den Stoff in sachgemäßer und systematischer Form vorträgt und um dessen adäquate und vollständige Ausbreitung bemüht ist. Weicht ein Autor jedoch von diesen Formalien ab, in dem er etwa die sachliche Gliederung verschleiert, auf Vollständigkeit bewusst verzichtet oder sachfremde Elemente als Inhalt wählt, dann wählt er vom ‚Normaltyp’ abweichende Intentionen, die vom Rezipienten eine Interpretation verlangen. Die Belehrung eines oder mehrerer Adressaten, die oft mit Namen direkt oder aber zumindest durch imperativische Wendungen indirekt angesprochen werden, sind der Zweck der Darstellung dieser Lehrgedichte. Der Fakt der Sachdarstellung macht sie folglich zum Zielpunkt. Der Hexameter ist seit den Anfängen dieser Gattung als metrische Form verbindlich, wobei es aber auch wenige Ausnahmen gibt, die jedoch aufgrund ihrer geringen Quantität nicht erwähnenswert sind. (Effe 1977: 22 f.)

Diese Charakteristika eines Lehrgedichts finden sich in der griechischen in gleicher Weise wie in der römischen Tradition. Das lateinische Lehrgedicht aber knüpft an die griechische Tradition an und existiert zeitlich teilweise sogar neben diesem. So ist es wichtig zu wissen, dass man im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung der Gattung in der römisch-griechischen Antike zwei Perioden zu unterscheiden hat: Die erste Periode (Anfängen der griechischen Literatur — ca. 5. Jahrhundert vor Christus) betrifft nur den griechischen Bereich. Zudem setzt diese mit Hesiod ein, beinhaltet neben dessen Werken auch die Lehrgedichte des Xenophanes, Parmenides5 und Empedokles. Diese Lehrdichter wollten ihr eigenes Sachwissen bzw. ihre eigene philosophische Überzeugung vermitteln und verbreiten, verbunden mit dem Ziel ihre selbst gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten einem speziellen Adressaten zugänglich zu machen. Aus diesem Grund stand der Lehrstoff in direkter Verbindung zum Verfasser des Gedichts. In der zweiten Periode geht dieses direkte, persönliche Verhältnis des Dichters zu seinem Werk allerdings verloren, da häufig nur bereits vorliegende fachwissenschaftliche bzw. philosophische Prosatraktate versifiziert werden. Dies hat zur Folge, dass das Lehrgedicht aufgrund des Aufbaus auf zwar systematisierter, aber fremder Wissensgrundlage basiert, weniger authentisch ist und nur eine metaphorische, nicht aber eine persönliche Lehre beinhaltet. Zur zeitlichen Einordnung ist zu sagen, dass diese anschließende Periode mit dem Lehrgedicht des Arat (Beginn 3. Jahrhundert vor Christus) beginnt, welches die Tendenzen der Zeit der Literatur in charakteristischer Weise zum Inhalt hat, und mit dem Ausgang der Antike endet. Die Lehrgedichte der zweiten Periode kennzeichnen sich vor allem durch entweder metrisch gebundener oder prosaischer Darstellung, an die sich die Autoren der ersten Periode nicht strikt hielten. Dass sich für den didaktischen Autor die metrische Form von selbst ergab lag daran, dass die Prosa literarisch noch nicht entwickelt war oder sich erst herausbildete. Daher stellte die Verbindung von Dichtung und Lehre zu dieser Zeit noch kein Problem dar. Die Entwicklung der Prosa und die damit verbundene Tendenz, wissenschaftlich-lehrhafte Intentionen in der Form wissenschaftlicher Prosa zu verfassen, machte das Lehrgedicht zu einer fragwürdigen Gattung, die doch bis dahin eigentlich von der Spannung zwischen Inhalt und Form lebte.

So zweifelte aus diesen Gründen auch Prang (1968: 153) in seiner Formgeschichte der Dichtkunst an einem gelungenen Zusammenspiel von Kunst und Lehre:

„Das Wesen des Dichterischen kommt [in der Lehrdichtung] meist zu kurz, so daß solche Werke neben der entwickelten Wissenschaft aus ästhetischen Gründen recht fragwürdig erscheinen, denn der belehrende Endzweck hemmt unter Umständen die künstlerische Formgebung.“

[...]


1 Der zentrale Referenzpunkt der mittellateinischen Dichtungslehre, die Ars poetica des Horaz, machte über die Gattung des Lehrgedichts keine Angaben. Daher nutzte man „das gattungstheoretische und terminologische Rüstzeug der [...] spätantiken Grammatiker Diomedes und Servius“ (Haye 1997: 40), die zusammen einen Gattungsterminus anbieten. Sie stellten die monologische Sprecherhaltung (poeta ipse loquitur sine ullius personae interlocutione) heraus und betonten das literarische Rollenspiel zwischen Lehrer und Schüler (et doctoris et discipuli persona). Abschließend benennen sie beispielhaft repräsentative Stoffe, wie etwa die Landwirtschaft oder die Astrologie, und Autoren (Hesiod, Lukrez, Vergil und andere). Gustav Gröber (1902) stellte als erster in seiner Übersicht über die lateinische Literatur eine eigene Gattung Lehrgedicht vor. Er beschränkte sich zwar darauf, die Namen der einschlägigen Werke und Autoren aufzuzählen, formulierte aber hinzu auch allgemeinere Aussagen zum Lehrgedicht. Vor allem aber äußerte er sich zu dessen Entwicklung: Das Lehrgedicht sei in der Zeit von 550 bis 800 n. Chr. „im wesentlichen moralisch“ (1902: 114) gewesen. Weiterhin bedauert er, dass man das „eigentliche, an einen größeren Kreis sich wendende Lehrgedicht“ (1902: 114), das inhaltlich vorwiegend theologisch-moralisch ist, zwischen dem 8. bis 10. Jahrhundert noch sehr selten finden würde. Jedoch entwickelt sich das Genre des Lehrgedichts anschließend so, dass Gröber es in drei Gruppen unterteilt: Zum einen das geistliche Lehrgedicht, welches als „die dichterische Behandlung religiöser Fragen“ (Haye 1997: 36) definiert wird. Zum anderen gibt es das moralische Lehrgedicht und das Lehrgedicht über die Wissenschaften.

2 Er unternahm den Versuch einer terminologischen und kategorialen Erfassung der Gattung des Lehrgedichts, indem er dieses mit dem Terminus species didascalice bezeichnet und es durch aufschlussreiche Kriterien abgrenzt. (Haye 1997: 132)

3 Hesiods Erga ist kein Lehrgedicht im eigentlichen Sinne, sondern eher eine Mahnrede, die im Zuge der Argumentation für eine bestimmte Lebensführung auch Ratschläge ‚fachwissenschaftlicher’ Art erteilt als ein Lehrgedicht. Hesiod war ein Bauer und schrieb für seinesgleichen. Späteren Dichtern galten die Erga, aber auch die Theogonie als Prototyp didaktischer Poesie, an denen man sich häufig orientierte. Seine lehrhafte Dichtung war vor allem durch eine einfache, ungebrochene Weise bestimmt.

4 „qua conprehenditur philosophia Empedoclis et Lucreti, item astrologia ut Phaenomena Arati et Ciceronis et Georgica Vergilii et his similia“ (In: Effe 1977: 21)

5 Parmenides ist entweder 540 oder 515 v. Chr. geboren und stammt aus Elea (Velia); die Stadt an der Westküste Unteritaliens war kurz nach 540 v. Chr. Von Griechen neugegründet worden und behauptete sich bis in die Römerzeit als wohlhabender Handelsort. Sein Vater hieß Pyres und die Familie war reich und von hohem Ansehen. Das Leben in einer Stadt wie Elea sicherte Parmenides einen leichten Zugang zu geistigen Neuigkeiten und Anregungen. So hatte er gute Voraussetzungen im politischen Leben in Elea eine Rolle zu spielen. Von der er sich aber später abwendete, um sich dem vita contemplativa zuzuwenden und dem pythagorischen Bund anzugehören. Er kannte die homerischen Epen und die Lehrdichtung Hesiods, die Werke Anaximander und Anaximenes. Von Platon wird er zur eleastischen Gruppe der Philosophen, die in ihren Überlegungen von der Einheit alles Seienden ausgehen, gerechnet. (Heitsch 1995: 58 ff.)

Er verfasste nur ein Lehrgedicht, das heute unter dem Titel ‚Über die Natur’(περί φύσεως) zitiert wird, dem er selbst keinen Titel gab. Erhalten sind im griechischen Wortlaut 18 Fragmente, die zusammen aus 153 Versen bestehen zusätzlich 6 Verse in lateinischer Übersetzung. Das Werk, von dem der ursprüngliche Umfang nicht bekannt ist, begann ,wie es üblich war, mit einem Proömium. (Heitsch 1995: 62)

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Über die Einordnung des antiken Lehrgedichts in der Literaturwissenschaft anhand von Beispielen
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Didaktische Literatur im Mittelalter
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
36
Katalognummer
V141126
ISBN (eBook)
9783640486083
ISBN (Buch)
9783640486304
Dateigröße
617 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Arbeit setzt sich mit dem antiken Lehrgedicht auseinander. Es werden die drei Grundtyppen behandelt sowie die zahlreichen Themen dieses Texttyps. Anhand derer kann die Problematik der Einordnung des antiken Lehrgedichts in die Literaturwissenschaft dargestellt werden. Ein sehr interessantes Thema, das auf den vorliegenden 35 Seiten lediglich überschaubar werden soll.
Schlagworte
Einordnung, Lehrgedichts, Literaturwissenschaft, Beispielen
Arbeit zitieren
Rebecca Elisabeth Meyer (Autor:in), 2009, Über die Einordnung des antiken Lehrgedichts in der Literaturwissenschaft anhand von Beispielen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141126

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