Leid, Tod, Schuld. Menschliche Grenzsituationen in Alejandro González Iñárritus Trilogie "Amores Perros", "21 Grams" und " Babel"


Bachelorarbeit, 2008

42 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Grenzsituationen
2.1 Definition nach Karl Jaspers
2.1.1 Leid
2.1.2 Tod
2.1.3 Schuld
2.1.4 Zufall
2.2 Erweiternde Betrachtungen zur Grenzsituation

3. Drei Filme über Grenzsituationen: „Triología del dolor“
3.1 Der Unfall als Geschichtenschreiber
3.2 Der Zufall und die Frage „Was wäre wenn?“
3.3 Die Folgen - Akkumulation von Grenzsituationen
3.3.1 Schuld
3.3.2 Leid
3.3.3 Tod
3.3.4 Krankheit und Einsamkeit

4. Ästhetik der Filme
4.1 Begriffsklärung „Episodenfilm“ und „episodisches Erzählen“
4.2 Die Bedeutung der episodischen Erzählstruktur für das Thema der Grenzsituation
4.2.1 Multiperspektivität und „offenes System”
4.2.2 Das Aufbrechen des kontinuierlichen Handlungsverlaufes: die Verwirrung des Zuschauers als Katalysator für Emotionen
4.3 Die Figuren des Films - Identifikationsfläche für den Zuschauer
4.3.1 Der multidimensionale Charakter
4.3.2 Affektbild
4.3.3 Innenwelt - Außenwelt

5. Fazit

6. Quellennachweis

1. Einleitung

Leid, Tod und Schuld - diese Begriffe hat wohl ein jeder schon einmal ausgesprochen ohne über die wirkliche Bedeutung nachzudenken. Genauso werden die Meisten einmal gedacht haben „Ich kann nicht mehr. Ich stoße in dieser Situation an meine Grenze.“ Was aber genau besagen diese Worte und was genau meint eigentlich der Begriff der Grenzsituation?

Karl Jaspers (dt. Psychiater und Philosoph; 1883 - 1969) hat diese Termini philosophisch geprägt. Die Grenzsituation, die Leid, Tod und Schuld, aber auch Kampf und Zufall umfasst, steht in Zusammenhang mit seiner Existenzphilosophie.

In der episodisch erzählten Trilogie des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu (geb. 1963), zu der die Filme Amores Perros (2000), 21 Grams (2003) und Babel (2006) zählen, sind Leid, Tod und Schuld immer wiederkehrende Themen. Diese Situationen, die laut Jaspers unumgänglich zum Leben dazu gehören, sind natürlich Teil eines allgemeinen Filmkanons. Es gibt wohl kaum ein Drama oder eine Tragödie, die ohne eine Todesszene auskommt, oder ohne eine Situation in der der Protagonist leidet (entweder durch seine eigene Schuld oder fremdes Verschulden) - dennoch spielen Leid, Tod und Schuld in Iñárritus Trilogie eine besondere Rolle. Sie sind thematische Schwerpunkte, die kontinuierlich in jeder Episode eines jeden der drei Filme vorkommen.

Die Fragen, die sich diese Arbeit stellt sind folgende: Was genau sind Grenzsituationen? Wie werden sie im Film dargestellt und in welcher Weise steht die episodische Erzählstruktur im Zusammenhang mit dem Thema der Grenzsituation? In dieser Reihenfolge sind auch die thematischen Schwerpunkte der Arbeit gesetzt. Im ersten Teil wird eine Definition des Begriffs der Grenzsituation nach Karl Jaspers gegeben (Kapitel 2.1.) und ausgehend davon einige erweiternde Betrachtungen vorgenommen (Kapitel 2.2.). Der zweite und dritte Teil der Arbeit ist der Filmanalyse gewidmet, wobei im dritten Kapitel versucht wird, die Bedeutung des Unfalls (Kapitel 3.1) und die des Zufalls (Kapitel 3.2) zu klären, um dann auf die Darstellung der in Kapitel 2 bes chriebenen Grenzsituationen im Film einzugehen (Kapitel 3.3.). Das vierte Kapitel befasst sich schließlich mit der filmischen Ästhetik der Trilogie, insbesondere mit der episodischen Erzählstruktur in Abgrenzung vom Episodenfilm (Kapitel 4.1.) und ihrer Bedeutung für die Darstellung der Grenzsituationen im Rezeptionsprozess des Zuschauers (Kapitel 4.2.). In diesem Zusammenhang soll auch ein Blick auf die Figuren des Films geworfen und der These nachgegangen werden, ob und wie ein erweitertes Figurenensemble - wie es für einen episodisch erzählten Film typisch ist - eine Identifikationsfläche für den Zuschauer darstellen kann und in welcher Weise die Grenzsituation damit im Zusammenhang steht (Kapitel 4.3.).

Leider kann, aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit, nur eine Untersuchung der

Filme hinsichtlich dieser Fragestellung stattfinden und viele andere Aspekte der Filme, die sicherlich auch eine genauere Analyse wert wären, können keine Beachtung finden.

2. Grenzsituationen

2.1 Definition nach Karl Jaspers

Um zu verstehen, was genau den philosophischen Begriff der Grenzsituation ausmacht, muss man ein wenig ausholen. Der deutsche Psychologe und Philosoph Karl Jaspers verfasst 1932 sein philosophisches Werk Philosophie, aufgeteilt in drei Bände. Mit dem zweiten Band Existenzerhellung reiht er sich ein in die Linie der Vertreter der Existenzphilosophie wie Kierkegaard, Heidegger oder Sartre, um nur einige zu nennen. Es kann nun an dieser Stelle nicht detailliert auf die Inhalte der Existenzphilosophie eingegangen werden, jedoch sollten einige Ideen bezüglich der Existenz des Menschen kurz aufgegriffen werden, um die Bedeutung der Grenzsituation im Folgenden verstehen zu können. Kurt Salumun äußert sich dazu folgendermaßen:

In der Existenzphilosophie […] wird der Mensch, wie es Kierkegaard formuliert, nicht bloß als ,Denker’, sondern als ,existierender Denker’ ins Zentrum der philosophischen Reflexion gerückt. Aus dieser Sicht erscheint er nicht als ein in der Sicherheit seines Objektiven Wissens beschaulich und geborgen dahinlebendes Wesen, sondern als Wesen, das von elementaren Stimmungen, Gefühlen und emotionalen Grunderfahrungen erschüttert wird.1

Zu diesen Grunderfahrungen zählt er im Folgenden unter anderem Angst, Schuld, Sinnlosigkeit, Gewissheit des Todes und Einsamkeit. Es ist also unerlässlich zu verstehen, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens von diesen Erfahrungen betroffen ist und unumgänglich mit ihnen konfrontiert wird. Angesichts dieses Bewusstseins gründen sich die existenzphilosophischen Ideen der menschlichen Selbstverwirklichung auf den Gedanken, es müsse so etwas wie eine letzte innerste Sinnbestimmung, ein ,wahres Wesen’ oder einen ,letzten innerlichen Kern’ des Menschen geben, auf den dieser angesichts von erschütternden Erfahrungen, wie Verzweiflung, Angst, Schuld, dem Bewußtsein des unvermeidbaren Todes, der Sinnlosigkeit usw., gleichsam ,zurückgeworfen’ wird.2

Das Jaspersche Denkmodell verinnerlicht diese Idee und führt sie weiter aus. Ausgehend von dem Begriff der Situation konstruiert er dazu in dem Band Existenzerhellung ein Gedankenmodell zur Grenzsituation. Nach Jaspers befindet sich der Mensch grundsätzlich in einer Situation. Diese ist zwar veränderlich, aber er kann niemals nicht in einer Situation sein, denn weil das Dasein ein Sein in Situationen ist, so kann ich niemals aus der Situation heraus, ohne in eine andere einzutreten. Alles Situationsbegreifen bedeutet, daß ich mir Ansätze schaffe, Situationen zu verwandeln, nicht aber, daß ich das In-Situation-Sein überhaupt aufheben kann. Mein Handeln tritt mir in seinen Folgen wieder als eine von mir mit hervorgebrachte Situation entgegen, die nun gegeben ist.3

Innerhalb dieser unspezifischen Situationen, die in sich von einem selbst aktiv veränderbar sind und aus denen man zwar nicht austreten, die man aber nach seinem Vorteil richten kann, gibt es andere Arten der Situation, die für alle Menschen als Gegebenheit gleich sind und mit denen sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens konfrontiert sieht. Es sind

Situationen wie die, daß ich immer in Situationen bin, daß ich nicht ohne Kampf und ohne Leid leben kann, daß ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, daß ich sterben muß. [Sie] nenne ich Grenzsituationen. Sie wandeln sich nicht, sondern nur in ihrer Erscheinung; sie sind, auf unser Dasein bezogen, endgültig.4

Die Menschen sind natürlich schon immer mit den Erfahrungen von Tod, Leid und Schuld konfrontiert, aber im Jasperschen Sinne erlangt man durch das Eintreten in solch eine Situation eine „Transzendenzerfahrung“, das heißt, man begreift sich selbst als Dasein, denn „Grenzsituation erfahren und existieren ist dasselbe.“5

Grenzsituationen sind dabei, anders als die Situation, nicht durch uns veränderbar und vor allem nicht vermeidbar. Wenn wir mit ihnen konfrontiert werden, sind sie wie eine „Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern.“6 Trotzdem muss man, laut Jaspers, „offenen Auges [in sie] eintreten“7, denn nur dann kann man sie, ausgehend vom existenzphilosophischen Gedanken, überwinden und selbst existieren. Jaspers beschreibt dies in seiner Einführung in die Philosophie folgendermaßen:

In den Grenzsituationen zeigt sich entweder das Nichts, oder es wird fühlbar, was trotz und über allem verschwindenden Weltsein eigentlich ist. Selbst die Verzweiflung wird durch ihre Tatsächlichkeit, daß sie in der Welt möglich ist, ein Zeiger über die Welt hinaus.8

Die Grenzsituationen implizieren also, wie der Name bereits sagt, eine Grenze. Diese kann der Mensch entweder überwinden oder er scheitert an ihr.

Es wurde bereits erwähnt, dass im Jasperschen Sinne Leid, Tod, Schuld und Kampf zu diesen Grenzsituationen gehören9. Im Folgenden sollen nun die einzelnen Grenzsituationen etwas genauer betrachtet werden, um sie für den zweiten Teil der Arbeit als Analysegrundlage heranziehen zu können.

2.1.1 Leid

Das gemeinsame aller Grenzsituationen ist, daß sie Leiden bedingen; das Gemeinsame ist aber auch, daß sie die Kräfte zur Entfaltung bringen, die mit der Lust des Daseins, des Sinns, des Wachsens einhergehen. Das Leiden ist nicht eine Grenzsituation unter anderen, sondern alle werden unter dem subjektiven Gesichtspunkt zu Leiden.10

Jaspers unterscheidet verschiedene Arten von Leiden. Es gibt das kleinere Leiden, welches man besiegen und umgehen kann. Man kann dem Leiden ausweichen, wenn man die auslösende Gegebenheit für das Leiden ignoriert und verdrängt. In diesem Fall ist man jedoch nicht in die Grenzsituation eingetreten, wie sie dem jasperschen Entwurf entspricht.

Verhalte ich mich, als ob Leiden nichts Endgültiges, sondern vermeidbar wäre, so stehe ich noch nicht in der Grenzsituation, sondern fasse die Leiden als zwar endlos an Zahl, aber nicht als notwendig zum Dasein gehörend auf […].11

In dem früheren Werk Psychologie der Weltanschauungen formuliert Jaspers seinen Gedanken so:

Das Leiden gewinnt für den Menschen als Situation einen neuen Charakter, wenn es a l s Letztes, als Grenze, als Unabwendbares begriffen wird. Das Leiden ist nichts Einzelnes mehr, sondern gehört zur Totalität.12

Auf diese Totalitätserfahrung des Leidens reagiert der Mensch in unterschiedlicher Weise. Diese Reaktionen benennt Jaspers wie folgt: resigniert, weltflüchtig, heroisch und religiösmetaphysisch.13 Ersteres bedeutet, dass man sich dem Leid ergibt, keine Möglichkeit sieht sich von ihm zu befreien. Die zweite Möglichkeit besagt, dass der Leidende der Welt entfliehen will (z.B. durch Selbstmord). In der dritten Reaktion nimmt der Mensch das Leid auf sich und erträgt es wie der „Heros“. Der letzte Fall impliziert ein komplexes Glaubenssystem, dass dem Leidenden hilft mit seiner Last umzugehen.

Es ist also möglich, durch die Erfahrung des Leidens seine Existenz zu verwirklichen. Für die Jaspersche Darstellungsweise [ist es] typisch, daß er dabei stets ,eigentliche’ Haltungen, die die Existenzverwirklichung ermöglichen, mit ,uneigentlichen’ Haltungen und Reaktionen kontrastiert, die diese verhindern. […] Bezüglich der Grenzsituation des Leidens führt er im Gegensatz zu Verhaltensweisen, die Leiden verdrängen oder ihm durch ohnmächtige ,Wut im dunklen Nichtverstehen’ begegnen, eine positive Grundhaltung vor Augen, aus der man das Leiden nach Kräften bekämpfen und, wo dies nicht möglich ist, in innerer Aneignung tapfer ertragen soll. Es gilt sogar das Wagnis einzugehen, trotz des Leidens glücklich zu sein.14

2.1.2 Tod

Die nächste Grenzsituation auf die eingegangen werden soll, ist die des Todes. Dieser gehört unumgänglich zum Leben dazu, denn er steht am Ende und ist durch nichts zu umgehen. Die Grenzsituation des Todes umfasst aber nicht nur den eigenen, sondern auch den Tod der uns Nahestehenden. Dieses Erlebnis ist als Erfahrung möglicherweise noch einschneidender als die Konfrontation mit dem eigenen Tod. Denn den Tod als Vorgang gibt es nur als den des Anderen. Mein Tod ist unerfahrbar für mich, ich kann nur in Beziehung auf ihn erfahren. Körperschmerzen, Todesangst, die Situation scheinbar unvermeidlichen Todes kann ich erleben und die Gefahr überstehen: Die Unerfahrbarkeit des Todes ist unaufhebbar; sterbend erleide ich den Tod, aber ich erfahre ihn nie.15

Ähnlich ist es mit der Erfahrung die uns zuteil wird, wenn eine geliebte Person stirbt. „Der Tod des Nächsten, des geliebtesten Menschen, mit dem ich in Kommunikation stehe ist im erscheinenden Leben der tiefste Schnitt.“16 Allerdings ist auch hier der Tod durch den Menschen nicht „erfahrbar“. Der Mensch verfügt über das Wissen vom Tode seines Nächsten, vielleicht sieht er ihn sogar sterben, aber „[wir] ,erfahren’ im eigentlichen Sinn auch den Tod des Nächsten nicht. Er verläßt uns und ist doch für uns derselbe; er ist und ist nicht.“17

Der Tod - unser eigener oder der unseres Nächsten - ist aber nicht immer gleichsam auch eine Grenzsituation. Um diesen als solche zu definieren, nimmt Jaspers zunächst einige Abgrenzungen vor und stellt heraus, wann der Tod nicht als Grenzsituation zu verstehen ist.

Der Tod als objektives Faktum des Daseins ist noch nicht Grenzsituation. Für das Tier, das nichts vom Tode weiß, ist sie nicht möglich. Der Mensch, der weiß, daß er sterben wird, hat dieses Wissen als Erwartung für einen unbestimmten Zeitpunkt; aber solange der Tod für ihn keine andere Rolle spielt als nur durch die Sorge, ihn zu meiden, solange ist auch für den Menschen der Tod nicht Grenzsituation.18

An anderer Stelle führt er weiter aus, dass der Tod als Grenzsituation [nicht] in das Erleben des Menschen [getreten ist] bei primitiven Völkern (hier wird der Tod oft nicht für unvermeidlich gehalten, sondern für verursacht durch einen bösen Willen); das ist er auch nicht in gebundenen Zeiten, in denen der Mensch einfach fertige Vorstellungen von der Rolle des Todes als völlig selbstverständlich, als so gewiß wie die sinnliche Wirklichkeit traditionell übernimmt; das ist er auch nicht bei allen Versinnlichungen, Konkretisierungen des Unsterblichkeitsgedankens, die den Tod als Grenze für das Erleben aufheben.19 […] In all diesen Fällen wird die sinnliche Todesfurcht mehr oder weniger überwunden durch Vorstellungen sinnlicher Entfaltung.20

Das heißt, der Tod ist für uns als Grenzsituation nur dann erfahrbar, wenn wir direkt mit ihm konfrontiert werden und ihn nicht als etwas Abstraktes wahrnehmen. Außerdem sollte man nach Jaspers den Tod bewusst als das Ende des Daseins begreifen, hinter dem nichts anderes mehr existiert, auch kein Leben nach dem Tod.

2.1.3 Schuld

Tod und Leiden sind Grenzsituationen, die für mich auch ohne meine Mitwirkung sind. In ihnen offenbart sich ein Angesicht des Daseins, sofern ich nur hinblicke. Kampf und Schuld dagegen sind Grenzsituationen nur, indem ich mitwirkend herbeiführe; sie werden aktiv von mir getan. Aber Grenzsituationen sind sie darum, weil ich faktisch nicht sein kann, ohne sie mir zu bewirken.21

Auch wenn man sein Verschulden nicht bewusst herbeiführt, so kann man dennoch nicht Leben ohne sich jemals in Schuld zu verstricken. Laut Jaspers hat jede Handlung […] Folgen in der Welt von denen der Handelnde nicht wusste. Er erschrickt vor den Folgen seiner Tat, weil er, obgleich er nicht an sie dachte, sich doch als ihren Urheber weiß.22

Versucht man aber nun diese Folgen seiner Taten zu vermeiden, z.B. dadurch, dass man in gewissen Situationen nicht handelt, so verstrickt man sich dennoch in Schuld, denn auch „Nichthandeln“ ist für Jaspers eine Art der Schuld, denn es ist ein Unterlassen, was wiederum Folgen hat:

[…] kann ich etwas tun, und tue es nicht, so bin ich schuldig für die Folge meines Nichttuns. Also ob ich handle oder nicht handle, beides hat Folgen, in jedem Falle gerate ich unvermeidlich in Schuld.23

Schuld kann entweder als Grenzsituation erfahren werden oder man umgeht sie als solche.

So kann ich unwahrhaftig sagen: es ist nun einmal so; es ist doch nicht zu ändern; ich bin für das Dasein, wie es ist, nicht verantwortlich; wenn dieses die Schuld unvermeidbar macht, so ist das nicht meine Schuld; dann ist es gleichgültig, ob Schuld auf mich fällt da ich im Prinzip doch schuldig ohne meine Schuld bin.24

Reagiert der Mensch auf diese Weise, dann ignoriert er seine Schuld. Er nimmt sie zwar als Gegebenheit wahr, als etwas, von dem er objektiv weiß, aber er setzt sich nicht bewusst mit ihr auseinander.

Um sich selbst in der Grenzsituation Schuld zu verwirklichen, sie zu überwinden,

verlangt Jaspers, daß man im Gegensatz zu oberflächlicher Selbstrechtfertigung und zu fremder Schuldzuschreibung alle Verantwortung für Schuld, die man durch sein Handeln oder Nichthandeln notwendig auf sich lädt, bewußt auf sich nehmen müsse.25

2.1.4 Zufall

Jaspers konstatiert, dass der Welt eine „antinomische Struktur“ zugrunde liegt die darin besteht,

daß wir die Welt sowohl als notwendig und zusammenhängend (Rationalismus), wie als zufällig und chaotisch unzusammenhängend (Irrationalismus) sehen müssen; daß wir immer das eine durch das andere Extrem begrenzen, ohne je auf eine Seite treten zu können und ohne je eine ,Mittelstraße’ zu finden. Immer bleibt auch der Zufall etwas Letztes.26,27

Der Mensch lebt also in einer Welt, in der eine Wirkung auf eine Ursache folgt, gleichzeitig kann die Ursache aber zufällig sein. Man muss deshalb von einer Weltordnung ausgehen, in der es zufällige Ereignisse gibt, beziehungsweise der Zufall für eine bestimmte Ordnung verantwortlich ist.

Diesen Zufall erlebt der Einzelmensch in seinem Leben, sofern er darüber nachdenkt und den Sinn finden möchte, als unheimliche Tatsächlichkeit überall: eine Liebe […] ist an das zufällige Treffen im Leben gebunden; das eigene Dasein an den Zufall, daß die Eltern sich getroffen haben; die Lebensschicksale an zufällige Gegebenheiten: der ökonomischen Lage, der Erziehung, des Zusammentreffens mit geeignetem Milieu, des Findens der ,Aufgaben’.28

Jaspers beschreibt hier eher eine Art universellen Zufall, der schon bei der Geburt eines jeden beginnt und sich das ganze Leben lang fortsetzt. Es gibt aber auch die konkrete Situation als Zufall, die das weitere Leben radikal verändern wird, wie z.B. ein Unfall, ein Treffen mit einer bestimmten Person oder ein Ereignis, das einen daran hindert etwas so zu tun, wie man es geplant hat, wodurch sich die Zukunft anders fortsetzt. Dabei kann der Zufall sowohl positive wie auch negative Veränderungen hervorrufen: „Der Zufall gilt jeweils als Glück oder Unglück.“29

Zu den Jasperschen Grenzsituationen ist zusammenfassend zu sagen, dass sie als Grenzsituationen nur dann erfahren werden, wenn man bewusst in sie eintritt und nicht versucht sie zu ignorieren (Leiden), sie als endgültig ansieht (Tod), sie nicht versucht von sich abzuweisen (Schuld) oder sie (im besonderen Falle des Zufalls) nicht der Notwendigkeit unterordnet. „Die Grenzsituationen - Tod, Leiden, Schuld [und Zufall] […] - zeigen mir das Scheitern.“30 Denn [i]m Erleben des Scheiterns als Wissender vermag er [der Mensch] aber nun einen ,Sprung’ in ein anderes Seinsbewußtsein zu machen, denn er wird dabei auf die Möglichkeit seiner Existenz verwiesen.31

Abschließend zu dieser Einführung ist hinzuzufügen, dass die Ausführungen zu dem Begriff der Grenzsituation wie ihn Karl Jaspers versteht natürlich stark zusammengefasst und gekürzt sind. Dennoch wurden die wichtigsten Aspekte hinsichtlich des Themas dieser Arbeit herausgestellt um so eine Grundlage für die Filmanalyse zu schaffen.

2.2 Erweiternde Betrachtungen zur Grenzsituation

Nachdem wir uns damit auseinandergesetzt haben, wie Jaspers Grenzsituationen definiert, soll nun versucht werden, sein recht enges Verständnis dieser menschlichen Extremsituationen zu ergänzen. Dafür werfen wir zunächst noch einen kurzen Blick auf einen anderen Existenzphilosophen: Otto Friedrich von Bollnow. Er schließt sich in seiner Existenzphilosophie den Jasperschen Ideen an, vertritt aber grundlegend die Meinung, dass die „Erfahrung der Grenzsituation bezeichnend für die Existenzphilosophie überhaupt [ist].“32

Ein wichtiger Punkt, den Bollnow hervorhebt, ist folgender:

Daß das menschliche Dasein immer gewisse Grenzen hat, ist nicht neu und ist immer gesehen worden. Neu ist dagegen, in welcher Weise hier die Grenze als konstitutiv in das innere Wesen des Menschen selbst hineingenommen wird. Grenze ist hier nichts, was irgendwie draußen läge und von draußen her den Menschen einschränkte, sondern Grenze ist etwas, was ihn in seinem innersten Wesen bestimmt.33

Das ist entscheidend. Jeder selbst befindet sich in dieser spezifischen Situation, nur man selbst kann sie überwinden oder an ihr scheitern. Es liegt an einem allein, sein Selbst zu finden und zu verwirklichen.

Schaut man einmal über die jasperschen Grenzsituationen Leid, Tod, Schuld und Zufall hinaus, erkennt man, dass es neben diesen auch weitere Situationen gibt, in denen ein Mensch an seine Grenzen geraten kann. Heinz Jansohn und Johannes Nosbüsch führen im Heft 2 des philosophischen Forums Der Mensch in Grenzsituationen neben Leid, Tod und Schuld auch noch Angst, Scheitern, Krankheit, Einsamkeit und Verzweiflung mit auf. Sie orientieren sich ebenfalls an Jaspers Ideen, ergänzen diese aber durch Aussagen anderer Philosophen (Heidegger, Kierkegaard), Kultursoziologen (Ortega y Gasset) und auch durch biblische Gleichnisse (Ijob). Die verschiedenen Situationen werden dabei unter dem Begriff der „Grundsituation menschlicher Endlichkeit“ zusammengefasst.

Werfen wir einen kurzen Blick auf diese Grundsituationen. Die Angst zählt laut Jansohn und Nosbüsch zu den Grenzsituationen, da sie ein „tief verwurzeltes Gefühl des Ausgeliefertseins an ein Unbekanntes in einer chaotischen Welt“34 ist. Der Mensch, der sich in Angst35 befindet, ist konfrontiert mit etwas, über das er keine Kontrolle hat. Er kann sich nun, wie bei den anderen Grenzsituationen auch, dieser Angst stellen oder sich ihr ausliefern und an ihr zugrunde gehen.

Schuld und Tod sollen an dieser Stelle keine weitere Betrachtung finden (die Jasperschen Ideen werden weitestgehend aufgegriffen), wohl aber das Leid. Der Begriff des Leidens impliziert immer auch die Frage nach dem „Warum“ des Leidens. Laut Nosbüsch und Jansohn

verbindet sich diese Frage für den [gläubigen Menschen] mit der Theodizee, […] für den Ungläubigen wird sie zum Ausgangspunkt eines Beweises für die Nichtexistenz Gottes, einer Demonstration der Sinnlosigkeit des Lebens.36

[...]


1 Kurt Salumun: Karl Jaspers. Münche: C.H.Beck 1985, S. 46.

2 ebd., S. 47.

3 Karl Jaspers: Philosophie Zweiter Band: Existenzerhellung, Berlin u.a.: 1956, S. 203.

4 Jaspers: Existenzerhellung, 203.

5 ebd., S. 204.

6 ebd., S. 203.

7 ebd., S. 204.

8 Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie, München: Piper, S. 20.

9 Diese vier Grenzsituationen legt er in dem zweiten Band Existenzerhellung seiner Philosophie dar. In einem früheren Werk Psychologie der Weltanschauungen von 1919 führt er das Leiden nicht als eine der Grenzsituationen auf, sondern betrachtet es gesondert. Zudem ist in diesen Schriften eine weitere Grenzsituation aufgeführt, der Zufall, der hier im weiteren Verlauf auch Betrachtung finden soll.

10 Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin u.a.: Springer, S. 247.

11 Jaspers: Existenzerhellung, 230.

12 Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 251.

13 Vgl. ebd. S. 251.

14 Salumun: Karl Jaspers, 68f.

15 Jaspers: Existenzerhellung,. 222.

16 ebd., S. 221.

17 Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 261.

18 Jaspers: Existenzerhellung, 220.

19 Hier bezieht sich Jaspers vor allem auf die christliche Idee des Fegefeuers.

20 Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 261f.

21 Jaspers: Existenzerhellung, 233.

22 ebd., S. 246.

23 ebd., S. 247.

24 ebd., S. 248.

25 Salumun: Karl Jaspers, 69.

26 Wie schon erwähnt sind die vier Grenzsituationen, die Jaspers in seinen philosophischen Schriften der Existenzerhellung auflistet Tod, Leiden, Kampf und Schuld. Für das Thema dieser Arbeit ist es aber sinnvoll, die Grenzsituation des Kampfes nicht genauer zu betrachten, dafür soll aber der Zufall, den Jaspers in seine Psychologie der Weltanschauungen zu den Grenzsituationen zählt, hinzugenommen werden.

27 Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 271.

28 ebd.

29 Jaspers: Existenzerhellung, 217.

30 Jaspers: Einführung in die Philosophie, 20.

31 Salumun: Karl Jaspers, 67.

32 Otto Friedrich Bollnow: Existenzphilosophie, Stuttgart: Kohlhammer, S. 61.

33 ebd., 62.

34 Heinz Jahnson/Johannes Nosbüsch: Der Mensch in Grenzsituationen, München: Lurz, S. 6.

35 Nosbüsch und Jansohn unterscheiden zwischen den Begriffen Angst und Furcht, wobei letztere das „Gefühl des Bedrohtseins von bestimmten Dingen allgemein“ bezeichnet, vgl. ebd. S. 6.

36 Jahnson/Nosbüsch: Der Mensch in Grenzsituationen, 15.

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Leid, Tod, Schuld. Menschliche Grenzsituationen in Alejandro González Iñárritus Trilogie "Amores Perros", "21 Grams" und " Babel"
Hochschule
Universität Siegen
Note
gut
Autor
Jahr
2008
Seiten
42
Katalognummer
V141198
ISBN (eBook)
9783640505180
ISBN (Buch)
9783656673583
Dateigröße
629 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Film, Mexiko, Inarritu, Karl Jaspres, Episodenfilm, Existenzphilosopphie, Amores Perros, 21 Grams, Mexikanischer Film, Trilogie, Medienwissenschaften, Philosophie, Alejandro Gonzalez Inarritu, Babel
Arbeit zitieren
Daniela Hoffmann (Autor:in), 2008, Leid, Tod, Schuld. Menschliche Grenzsituationen in Alejandro González Iñárritus Trilogie "Amores Perros", "21 Grams" und " Babel", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141198

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