Goethes Werther und sein Verhältnis zur Natur


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

19 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Formen der Naturbeschreibung
2.1 Schwärmerisch-pantheistische Naturbeschreibungen
2.2 Negative Naturbeschreibungen

3. Ansätze der Interpretation
3.1 Illustrationstheorie
3.2 Natur als Oppositionskategorie
3.3 Natur im Beziehungsgefüge des Romans
3.4 Interpretation im Detail: Der Pflug und die Nussbäume

4. Schluss

5. Literaturverzeichnis
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur

1. Einleitung

„[…] hab’ ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der Natur […] selbst ergetzt?“[1]

Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe ist auch Jahrhunderte nach seiner Veröffentlichung im Jahre 1774 ein Roman, der aus dem Literaturunterricht der Schulen beziehungsweise der Universitäten nicht mehr wegzudenken ist.

Doch dass sein Roman über einen jungen Mann, „[…] der mit einer tiefen reinen Empfindung […] sich in schwärmende Träume verliert, […] biss er zuletzt durch dazutretende unglückliche Leidenschafften, besonders eine endlose Liebe […], sich eine Kugel vor den Kopf schiesst“[2], einer der erfolgreichsten Romane der Literaturgeschichte werden sollte, konnte der junge Goethe zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, zumal das Buch unmittelbar nach seiner Veröffentlichung nicht nur sehr zahlreich euphorische Zustimmung, sondern ebenso viel Ablehnung erfahren hat.[3]

Hauptsächlich aufgrund des Selbstmordes des Protagonisten bewegt der Briefmonolog bis heute Generationen. Dies wiederum führte zu einer nahezu unüberblickbaren Anzahl an Sekundärtexten, welche sich mit den verschiedenen Aspekten des Romans befassen und so teilweise verschiedene Interpretationsansätze liefern.

Thema der nachfolgenden Arbeit soll nun - wie das einleitende Zitat bereits andeutet - die Bedeutung der Natur und Werthers Verhältnis mit derselben sein.

Einführend werden die Naturbeschreibungen des Romans in zwei Gruppen eingeteilt und näher betrachtet.

Anschließend soll die Bedeutung der Natur innerhalb des Romangeschehens herausgearbeitet werden, was anhand verschiedener Interpretationsansätze geschehen soll.

Als Abschluss werden die Ergebnisse der vorangegangen Kapitel noch einmal zusammenfassend dargestellt und es soll schließlich die Frage des Eingangszitats aus Werthers erstem Brief an seinen Freund Wilhelm geklärt werden, ob Werther sich tatsächlich an den „ganz wahren Ausdrücken der Natur […] selbst“ ergötzt hat, oder ob es sich bei seinem Bild von der Natur nicht vielmehr um ein Trugbild handelt.

2. Formen der Naturbeschreibung

Man kann die Naturschilderungen in Werthers Briefen grob in zwei Gruppen einteilen: Erstens in die schwärmerisch-pantheistischen Beschreibungen der Natur, welche größtenteils zu Beginn des Romans zu finden sind, sowie zweitens in die negativen Naturbeschreibungen. Diese setzen mit dem Brief des achtzehnten August 1771 ungefähr drei Wochen nach der Ankunft von Lottes Verlobtem Albert ein.

2.1 Schwärmerisch-pantheistische Naturbeschreibungen

In den Briefen zu Romanbeginn (z.B. 4./10. und 12. Mai 1771) genießt Werther die Natur. Sie hat eine befreiende Wirkung auf ihn und er fühlt sich in der ländlichen Umgebung von Wahlheim wohl („Übrigens befinde ich mich hier gar wohl.“[4]).

Werther ist froh, endlich die Stadt verlassen zu haben („Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur.“[5]), da sie für ihn „Sinnbild der verhassten Gesellschaft“[6] ist, in welcher Gesetze und Konventionen eingehalten werden müssen.

Die Natur verspricht ihm das Gegenteil, denn sie diktiert keine Regeln und zwingt keine Gesetze auf. Dies bestärkt ihn darin, sich „künftig allein an die Natur zu halten“[7], was seine künstlerischen Tätigkeiten angeht, denn „(s)ie allein ist unendlich reich, und sie allein bildet den großen Künstler“[8].

Die Natur scheint für Werther also das beste Mittel zu sein, sich selbst zu finden.

Werthers Naturgenuss zeigt sich beispielhaft im Brief vom zehnten Mai 1771. Hier kreiert er einen klassischen locus amoenus[9]:

„Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten […]“[10]

Werthers ganze Seele ist von einer „wunderbare(n) Heiterkeit“[11] eingenommen.

Dieser Ausschnitt zeigt auch die pantheistische Beschreibung der Natur: Werther fühlt in der Natur die „Gegenwart des Allmächtigen“[12].

Werther möchte eins mit dieser Natur werden, er legt sich deshalb ins Gras, um jede Regung der Natur sinnlich zu erfahren.

Doch bereits in diesem Brief wird am Ende deutlich, dass Werther nicht in der Lage ist, den Überreichtum all dieser Eindrücke sinnstiftend zu kanalisieren. Er ist unfähig, die Natur zu zeichnen („Ich bin so glücklich […], daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich[…].“[13]) und kann seine Eindrücke auch nicht schriftlich artikulieren[14]:

„Ach, könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, dass es würde der Spiegel deiner Seele […]. Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.“[15]

Werther ist nicht nur unfähig, seine Erfahrungen distanzierend zu objektivieren, „vielmehr intensiviert er im erinnernden Nachvollzug seiner Erlebnisse (durch das Schreiben der Briefe) noch bis zur Unerträglichkeit.“[16]

Werther ahnt bereits sehr früh, dass er die Einheit zwischen Ich und Natur nicht realisieren kann. Auch formal wird diese Unmöglichkeit durch den Aufbau des Landschaftsbildes in der Form einer langen Wenn-Dann-Periode deutlich.[17] Wenn er die herrliche Natur über mehrere Zeilen hinweg nahezu hymnisch lobpreist, überrascht Werther den Leser dann ganz plötzlich mit der nüchternen und knappen Feststellung, dass eine Vereinigung unmöglich ist.

Auch der Brief vom zwölften Mai 1771 zeigt eine idyllische Darstellung der Natur, einen locus amoenus mit dem typischen Inventar: Mädchen, die Wasser holen, Bäume, die einen Platz umschließen, eine Quelle.[18]

„Das ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern.- Du gehst einen kleinen Hügel hinunter und findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, […] die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, […] das alles hat so was Anzügliches, was Schauerliches […]. Da kommen dann die Mädchen aus der Stadt und holen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nötigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie, alle die Altväter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und wie um die Brunnen und Quellen wohltätige Geister schweben.“[19]

Werther erlebt diesen Brunnen hauptsächlich in literarischen Dimensionen. Ihm eröffnet sich der Schauplatz und er sieht biblische Patriarchen vor sich, welche nach langer Reise an den Brunnen in der Fremde ihr Glück finden. Um es diesen Patriarchen gleichzutun, macht Werther selbst wenig später Bekanntschaft am Brunnen, indem er einem der wasserholenden Mädchen seine Hilfe anbietet. Doch hierin erschöpft sich die gegenseitige Verbindlichkeit auch bereits wieder. Zur Gesellschaft reicht die Dienstmagd Werther nicht. Es handelt sich ja nicht, wie bei den Altvätern, um die Tochter eines Königs.[20]

Darüber hinaus erscheint der Brunnen in Werthers literarisch inspirierter Vorstellung von Anfang an nicht nur als ein Ort glücklicher Begegnungen. Die biblischen Assoziationen der Brautwerbung am Brunnen werden durch das zuvor ins Gedächtnis gerufene Schicksal Melusines ausbalanciert.

Durch Melusine und ihre Schwestern, die an den Brunnen gebannt sind, knüpft Werther an die unheilvolle Geschichte der Königstochter des Volksbuches[21] an, für die der Brunnen Anfang und Ende einer enttäuschten Liebe bezeichnet.[22]

So machen die widerstreitenden literarischen Vorbilder den Brunnen zu einem „Schauplatz, wo Geselligkeit und Isolation einhergeht“[23], wo „Anzügliches“[24] und Schauerliches“[25] sich die Waage halten.

Somit entpuppt sich auch diese Naturschilderung Werthers als Trugbild, denn es ist nur die „warme himmlische Phantasie[26] “ in Werthers Herzen, welche ihm „alles rings umher so paradiesisch macht“[27].

Werther sehnt sich also im ersten Buch nach natürlich-idyllischen Lebensformen. Diese erweisen sich jedoch als unrealistisch und halten der normalen Alltagswelt nicht stand, wie sich im zweiten Buch zeigt.[28]

[...]


[1] Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des Jungen Werther, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München 2007, S.7/24ff.

[2] Eibl, Karl/ Jannidis, Fotis/ Willems, Marianne (Hrsg.): Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte, Bd.1, Suhrkamp Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1998, S.672.

[3] Leis, Mario: Johann Wolfgang Goethe. Die Leiden des jungen Werther. Lektüreschlüssel für Schüler, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2006, S.5.

[4] Goethe, S.8/20.

[5] Ebd., S.8/27f.

[6] Leis, S.35.

[7] Goethe, S.15/19.

[8] Ebd., S.15/19f.

[9] Ein locus amoenus (lat. „lieblicher Ort“, „Lustort“) bezeichnet eine fiktive Landschaft mit bestimmten stereotypen Elementen (Hain, Quelle usw.). Der locus amoenus gelangte aus antiker und spätlat. Dichtung in die mhd. Literatur (Minnesang, insbes. Pastorelle, aber auch Epik, vgl. Minnegrotte im „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg) und v. a. barocke Literatur (arkad. Poesie); konnte auch christl. als Paradieslandschaft umgedeutet werden, wobei die Vorstellung des „entlegenen Gartens“ hereinspielt. Vgl. Schweikle, Günther (Hrsg.): Metzler-Literatur-Lexikon. Stichwörter zur Weltliteratur. Metzler Verlag, Stuttgart 1984, S.284.

[10] Goethe, S.10/1ff.

[11] Ebd., S.10/1.

[12] Ebd.,S.10/19.

[13] Ebd., S.10/6ff.

[14] Vgl. Leis, S. 36.

[15] Goethe, S.10/25ff.

[16] Müller-Salget, Klaus: Zur Struktur von Goethes „Werther“, in: Herrmann, Hans Peter (Hrsg.): Goethes „Werther“. Kritik und Forschung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, S.324.

[17] Vgl. Herrmann, Hans Peter: Landschaft in Goethes „Werther“, in: Ders. (Hrsg.): Goethes „Werther“. Kritik und Forschung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, S.363ff.

[18] Vgl. Goethe, S9f.

[19] Ebd., S.9/35ff.

[20] Vgl. Marx, Friedhelm: Erlesene Helden. Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur, Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1995, S.122.

[21] Vgl. Geschichte der edlen und schönen Melusina, welche Tochter des Königs Helmas und ein Meerwunder gewesen ist, in: Simrock, Karl (Hrsg.): Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt, Bd. 4. Olms Verlag. Hildesheim, New York 1974, S.1-120.

[22] Vgl. Marx, S.123.

[23] Ebd., S.123.

[24] Goethe, S.10/4.

[25] Ebd., S.10/5.

[26] Goethe, S.9/33f.

[27] Ebd., S.9/34f.

[28] Vgl. Leis, S.25.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Goethes Werther und sein Verhältnis zur Natur
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Veranstaltung
Hauptseminar: Suizid in der Dichtung
Note
2,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
19
Katalognummer
V141554
ISBN (eBook)
9783640510498
ISBN (Buch)
9783640510672
Dateigröße
523 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Werther, Natur, Naturbegriff, Naturdarstellung
Arbeit zitieren
Nadine Heinkel (Autor:in), 2008, Goethes Werther und sein Verhältnis zur Natur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141554

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