Der im Titel dieser Untersuchung avisierte Zusammenschluß zwischen dem humanistischen Kulturphilosophen avant la lettre und dem zeitgenössischen Begründer der philosophischen Hermeneutik ergibt sich aus einem simplen Umstand: Ihrer vergleichbaren epistemologischen Frontstellung gegen die Dominanz eines einseitig rationalistisch geprägten Wahrheits- und Erkenntnisideals. Im Gegensatz hierzu verstehen sie ihre eigene Philosophie als Programm zur Rehabilitierung eines alternativen, komplementären Erkenntnisanspruchs, welcher sich jenseits der methodischen Leitvorstellungen von Reflexion und Abstraktion, deduktivem Urteil und prinzipieller Notwendigkeit konstituiert.- Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung möchte ich mich um eine Vermittlung von Humanismus und Hermeneutik bemühen: Anhand einer textnahen Interpretation sollen Giambattista Vicos (1668 - 1744)und Hans-Georg Gadamers (1900 - 2002) Versuche einer (Neu-)Begründung der Kulturwissenschaften dargestellt und in ihren jeweiligen Affinitäten und Differenzen zueinander beleuchtet werden. In Hinblick auf Vico möchte ich zunächst im Zuge einer Analyse seiner VII. Inaugural-Rede "De nostri temporis studiorum ratione" (1709) seine Position gegenüber dem Cartesianismus hervorheben und seine Idee eines didaktischen Primats des Gemeinsinns bzw. der Topik vor der Kritik referieren. Anschließend soll Vicos epistemologische Fundierung der Humaniora in seinem späteren Hauptwerk, der "Scienza Nuova" (1744), durch den nunmehr als metaphysisches Konvergenz- bzw. Korrespondenzprinzip gefaßten sensus communis näher erläutert werden. In Hinblick auf Gadamer möchte ich auf dessen hermeneutisch motivierte Rekonstruktion Vichianischer Topoi in "Wahrheit und Methode" (1960) eingehen. Wie gezeigt werden soll, orientiert sich Gadamers Interpretation Vicos ganz an dessen frühen Schriften und vermeidet jeden affirmativen Bezug auf die spätere Transformation des Gemeinsinns zum universalen Prinzip. Zum Abschluß möchte ich die kritisch anknüpfende Frage stellen, inwiefern Vico ebenso wie Gadamer in seinem opus magnum eine Selbsttransparenz des historischen Bewußtseins in Zweifel zieht und welche Auswege sich für beide Autoren aus dem hierdurch drohenden Problem einer Selbstrelativierung des eigenen philosophischen Standpunktes ergeben.
Inhalt
Einleitung: Wahrheit jenseits der Methode? - Zum Projekt von Humanismus und Hermeneutik
1. Zwischen Rhetorik und Neuer Wissenschaft: Die Kulturphilosophie Giambattista Vicos (1668 - 1744)
1.1. Die Rehabilitation der Topik gegenüber der Kritik: De nostri temporis studiorum ratione
1.2. Gemeinsinn als Konvergenzprinzip: Die ‚prästabilierte Harmonie‘ von Metaphysik und Kultur in der Scienza Nuova
2. Die Rekonstruktion Vicos im Zeichen der Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer (1900 - 2002)
2.1. Fundierung der Humaniora im Rekurs auf den Humanismus
2.2. Urteil, Reflexion, Universalität
3. Die Endlichkeit des Verstehens im Lichte ihrer Überwindung:
Zur Ambivalenz von Geschichte und Wahrheit bei Vico und Gadamer
Siglen / Bibliographie
Einleitung: Wahrheit jenseits der Methode? - Zum Projekt von Humanismus und Hermeneutik
Vico und Gadamer - der im Titel dieser Untersuchung avisierte Zusammenschluß zwischen dem humanistischen Kulturphilosophen avant la lettre und dem zeitgenössischen Begründer der philosophischen Hermeneutik ergibt sich aus einem simplen Umstand: Ihrer vergleich- baren epistemologischen Frontstellung gegen die Dominanz eines einseitig rationalistisch geprägten, methodisch ‚gegängelten‘ Wahrheits- und Erkenntnisideals. Beide kritisieren eine Auffassung von Wahrheit, welche dieselbe allein im Sinne logisch transparenter, propositional faßbarer Aussagestrukturen begreifen will. Im Gegensatz hierzu verstehen sie ihre eigene Philosophie als Programm zur Rehabilitierung eines alternativen, komplement ä ren Erkenntnisanspruchs, welcher sich jenseits der methodischen Leitvorstellungen von Reflexion und Abstraktion, deduktivem Urteil und prinzipieller Notwendigkeit konstituiert. Dieser Erkenntnisanspruch, der vom analytisch-wissenschaftlichen Denken in der Regel als ‚obskur‘ ignoriert oder verworfen wird, umfaßt - emphatisch gesprochen - die Welt der Praxis, d.h. die Sphären von Gesellschaft, Politik und Kultur; und die verschiedenen historischen Versuche, auf diesem Gebiet irgendeine Form theoretischen Wissens zu etablieren, lassen sich in die Tradition der Humaniora einordnen. Insofern jene Disziplinen sich sowohl im Hinblick auf ihre epistemo- logische Verfahrensweise als auch bezüglich ihres Gegenstandsbereichs vom ratio studiorum der Naturwissenschaft abheben, ist es nur folgerichtig, daß sowohl Vico als auch Gadamer für ihr Projekt einer Grundlegung der Kulturwissenschaften die - konstruktive, bisweilen polemische
- Auseinandersetzung mit ihnen suchen.
Für Vico zunächst steht das Aufbegehren gegen die uniforme Wahrheit der Logik ganz im Zeichen eines Protests gegen das in der Frühen Neuzeit von René Descartes (im Sinne einer ‚Generalüberholung‘ wissenschaftlicher Studienmethoden) entworfene Verständnis der Philo- sophie als einer ‚geometrisch‘ operierenden ars critica. Um die Vorstellung zu entkräften, Wahr- heit verdanke sich allein der streng methodisch vorgehenden Wissenskritik eines meditativen, singulären Bewußtseinssubjekts, greift Vico auf die aus der römischen Antike (insbesondere von Cicero) herstammende Tradition der Rhetorik zurück. Hierdurch gelingt es ihm, die soziale, politische und kulturelle Bedingtheit aller methodischen Reflexion aufzuzeigen und zugleich die Dürftigkeit einer Philosophie, welche letztere bereits als zureichende Basis aller Erkenntnisbemühungen ansieht. Vom bloßen Widerspruch gegen die unzulässige Verabsolutierung des logischen Wahrheitsideals gelangt Vico dann in seinem reifen Werk zum Pionierversuch einer positiven epistemologischen Fundierung der praktischen Realität in Gestalt einer ‚Neuen Wissenschaft‘.
Für Gadamer zeigt sich die Konfrontation mit dem rationalistischen Erkenntnisbegriff als Teil einer ‚Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften‘. Wesentliches Ziel einer solchen ist es, die spezifische Art und Weise, auf welche ‚Wahrheit‘ in den Humaniora zum Ausdruck kommt, näher zu bestimmen. In diesem Zusammenhang kritisiert Gadamer, daß die bisherige, im 19. Jahrhundert einsetzende Selbstreflexion der (seitdem so geheißenen) Geisteswissen- schaften stets in Angleichung an die erkenntnistheoretischen Standards der Naturwissenschaft erfolgt sei. Der Grund hierfür liege in einer sukzessiven historischen Verdrängung huma- nistischer Leitgedanken durch die - von Descartes über Gottfried Wilhelm Leibniz bis zu Immanuel Kant reichende - rationalistisch-aufklärerische Tradition. Indem die rationalistische Metaphysik (zumal in ihrer letzten, ,transzendentalkritischen‘ Variante) alle Wahrheitsmög- lichkeiten jenseits der theoretischen Naturerkenntnis diskreditierte, war den ,Wissenschaften vom Menschen‘ fortan jeglicher philosophischer Legitimationsboden entzogen. Um diesen Mangel zu überwinden und die genuine Eigenart geisteswissenschaftlicher Erkenntnis wieder freizulegen, beruft sich Gadamer auf die ideengeschichtlich marginalisierte Tradition des rhetorischen Humanismus - die ihren letzten, unzeitgemäßen Vertreter in Giambattista Vico fand.
Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung möchte ich mich um einen Vergleich bzw. eine Vermittlung von Humanismus und Hermeneutik bemühen: Anhand einer textnahen Interpre- tation soll Vicos bzw. Gadamers Versuch einer (Neu-)Begründung der Kulturwissenschaften dargestellt und beide in ihren jeweiligen Affinitäten und Differenzen zueinander beleuchtet werden. In Hinblick auf Vico (Kapitel 1) möchte ich dabei zunächst (1.1.) im Zuge einer Analyse der VII. Inaugural-Rede De nostri temporis studiorum ratione seine Position gegenüber dem Cartesianismus hervorheben und seine Idee eines didaktischen Primats des Gemeinsinns bzw. der Topik vor der Kritik referieren. Anschließend (1.2.) soll Vicos epistemologische Fundierung der Humaniora in seinem späteren Hauptwerk, der Scienza Nuova, durch den nun- mehr als metaphysisches Konvergenz- bzw. Korrespondenzprinzip gefaßten sensus communis näher erläutert werden. - In Hinblick auf Gadamer (Kapitel 2) möchte ich nach einem knappen historischen Vorlauf (2.1.) auf dessen hermeneutisch motivierte Rekonstruktion Vichianischer Topoi in Wahrheit und Methode eingehen (2.2.). Wie gezeigt werden soll, orientiert sich Gadamers Interpretation Vicos - obgleich sein Projekt bei oberflächlicher Hinsicht der Scienza Nuova am verwandtesten scheint - ganz an dessen frühen Schriften (insbesondere De ratione) und vermeidet jeden affirmativen Bezug auf die spätere Transformation des Gemein- sinns zum universalen Prinzip. - Zum Abschluß (Kapitel 3) möchte ich die kritisch anknüp- fende Frage stellen, inwiefern Vico - ebenso wie Gadamer - in seinem opus magnum eine Selbsttransparenz des historischen Bewußtseins in Zweifel zieht und welche Auswege sich für beide Autoren aus dem hierdurch drohenden Problem einer Selbstrelativierung des eigenen philosophischen Standpunktes ergeben.
1. Zwischen Rhetorik und Neuer Wissenschaft: Die Kulturphilosophie Giambattista Vicos (1668 - 1744)
1.1. Die Rehabilitation der Topik gegenüber der Kritik: De nostri temporis studiorum ratione
Als erste Stellungnahme Vicos zur Methodenfrage der Frühen Neuzeit gilt seine 1708 an der Universität von Neapel gehaltene (und im folgenden Jahr publizierte) Inaugural-Rede De nostri temporis studiorum ratione.[1] Darin liefert Vico eine vergleichende Analyse antiker und moderner Studienart - zwischen der (vom Humanismus neu aufgenommenen) Tradition der Rhetorik sowie der „geometrischen Methode“ (DR, 21) seiner eigenen Epoche. Ziel dieser Untersuchung sei es, herauszufinden, „[w]elche Art der Studien richtiger und besser [ist], die unsere oder die der Alten“ (DR, 15; Kursivierungen getilgt). Während Vico die durch logische Analysis vollbrachten Errungenschaften in Wissenschaft und Technik durchaus zu würdigen weiß (vgl. DR, 23 f.), läßt sich sein Vortrag insgesamt als glühendes Plädoyer für eine Rückbesinnung auf das antike Ideal der Topik, der „geschmückten und groß angelegten Rede“ (DR, 73) verstehen. Verbunden damit ist eine Wiederentdeckung des sensus communis, der für Vico eine, wie ich zeigen möchte, zweifache Begründungsfunktion einnimmt und damit zur didaktisch unverzichtbaren Voraussetzung humaner Erkenntnisbemühungen avanciert.
Vico eröffnet seine Kritik am cartesischen Methodenideal mit einem Einwand gegen die epistemologische Trennung von Wahrem (verum) und Wahrscheinlichem (verisimilia) (vgl. DR, 27 ff.). Innerhalb der ‚geometrischen Methode‘ bestehe ein prinzipieller Gegensatz zwischen dem durch rat]ionale Schlußfolgerung und systematische Zweifelsexperimente gewonnenen „ersten Wahren“ (DR, 21) der Theorie und der bloß gemeinhin angenommenen Pluralität der Wahrscheinlichkeiten, die als traditionell unterstellter Konsens die ‚selbstverständlichen‘ Grundlagen des alltäglichen Lebens bilden (vgl. DR, 27, 35). Diese ausschließliche Fixierung auf logische Evidenzwahrheit führe nämlich dazu, daß jene Gemeinplätze und Überliefe- rungen, die als Orientierungswissen das ,Rückgrat‘ lebensweltlicher Sinnzusammenhänge darstellen, „genau so wie das Falsche aus dem Denken entfernt“ (DR, 27) werden. Während die am mathematischen Erkenntnisideal orientierte rationalistische Metaphysik somit allein Reflexionswissen als Wahrheit anerkennt, wird umgekehrt jede Art vermeintlicher Gewißheit, welche nicht durch ebenjenes kritische Bewußtsein hindurchgegangen ist, als Unwahrheit verworfen. - Wie Vico anmerkt, führt diese Verabsolutierung der cartesianischen Methode in didaktisch-pädagogischer Hinsicht dazu, den Studenten die unmittelbare Ausübung der ars judicandi - anstelle einer im Rhetorikstudium üblichen vorangehenden Kultivierung der ars inveniendi - zu empfehlen; denn „wenn die jungen Menschen nur einmal geschulte Kritiker sind, dann braucht man sie nur über eine Sache in Kenntnis zu setzen, und sie werden finden, was an ihr Wahres ist“ (DR, 27 f.).
Gegen diese ‚moderne‘ Vorstellung einer singulären Wahrheit, welche als reflexiv erschlos- sene, ‚klare und deutliche Idee‘ (Descartes) das Fundament bilde, von dem jene weitere Erkenntnis deduktiv zu erschließen sei, stellt Vico seine Rehabilitation des Wahrscheinlichen. Diese speist sich insbesondere aus seinem Interesse an einer Erforschung des menschlichen Lebens in seiner politischen, sozialen und kulturellen Dimension (vgl. DR, 59). Denn anders als die Kausalmechanismen der Natur „lassen sich die Handlungen der Menschen nicht mit dem geradlinigen Lineal des Verstandes, das starr ist, messen, sondern müssen mit der geschmei- digen Norm der Lesbier geprüft werden, die die Körper nicht an sich anpaßt, sondern sich an die Körper anschmiegt“ (DR, 61). Vico akzeptiert somit, daß das Wahrscheinliche dem episte- mologischen Kriterium der rationalen Analysis nicht entsprechen kann, weil es den immer schon vorkritisch ,hingenommenen‘ Kontext jener Reflexionsbemühungen darstellt. Diese Begleitumstände aber, welche den Cartesianern als bloße ‚Störfaktoren‘ am Rande logischer Operationen galten, werden nun in ihrem epistemischen Eigenwert erkannt: Sie bilden den „natürlichen Allgemeinsinn“ - den sensus communis (vgl. DR, 27, 63) -, der dank seines inhalt- lichen Facettenreichtums und seiner perspektivischen Fülle von Vico nunmehr in den Rang einer - noch genauer zu bestimmenden - Voraussetzung aller kritischen Urteilsmöglichkeit gehoben wird.
Die nähere Erläuterung dieser erkenntnistheoretischen Begründungsfunktion liefert Vico im Rahmen seiner anschließenden Kritik am rationalistischen Erkenntnisbegriff. Hier werden die verschiedenen Funktionen des soeben eingeführten sensus communis differenziert und dessen zentrale Rolle für Bildungsgewinn und Erkenntniskonstitution verdeutlicht. Wie Vico bemerkt, hätte das Absehen von jeglichem Gemeinsinn zunächst (1) Auswirkungen auf die Beredsamkeit, insofern der Erfolg jeder rhetorischen Vermittlung von Wahrheit davon abhängt, inwiefern der Redner durch Rückgriff auf allgemein akzeptierte Wahrscheinlich- keiten den in Frage stehenden Sachverhalt plausibel illustrieren kann (vgl. DR, 27). Damit einher ginge (2), daß der ‚natürliche Allgemeinsinn‘ als „Norm aller praktischen Klugheit“ (ibd.) zur Orientierung in der Sphäre von Politik und Gesellschaft schlechthin unabdinglich sei. Ferner wäre (3) von einer Mißachtung der „anschaulichen Bilder“ (ibd.) des Gemeinsinns auch die Ausbildung von Gedächtnis und Phantasie betroffen - zweier Geistesvermögen, die als „glücklichste Zeichen künftiger Begabung“ (DR, 29) grundlegend für so verschiedene öffentliche Tätigkeitsfelder wie Kunst, Rhetorik und Jurisprudenz sind. Schließlich nennt Vico (4) die Unabdinglichkeit einer philosophischen Topik als wesentlichen Grund dafür, am Gemeinsinn festzuhalten (vgl. DR, 29 ff.). Denn obschon die analytische Methode als ars judicandi unentbehrlich ist, um wahrheitsfähige Urteile zu erzielen, operiert diese selbst, wie bereits erwähnt, keinesfalls voraussetzungslos. Vielmehr bedarf es zu ihrem erfolgreichen Einsatz einer sie ergänzenden Topik, welche als ars inveniendi zunächst das gesamte Spektrum der für ein Urteil relevanten inhaltlichen Aspekte sowie der formal-argumentativen Zugriffsmöglichkeiten auf einen bestimmten Gegenstand entfaltet. Diese Topik aber entwickelt sich aus dem Gemeinsinn, insofern sie die spezifischen Gehalte, welche sie rhetorisch aufbereitet, erst den ‚lebensklugen‘ Wahrscheinlichkeiten desselben verdankt.
Im Folgenden etabliert Vico die Topik als erkenntnislogisch notwendiges Komplement zur analytischen Kritik: „Die Kritik ist die Kunst der Wahren, die Topik aber die der reichhaltigen Rede“ (DR, 31). Isoliert voneinander müßten beide unweigerlich fehlgehen, weil letztere zu „oft nach dem Falschen greif[t]“, erstere dagegen „auch das Wahrscheinliche nicht auf[nimmt]“ (DR, 35). Indes betont Vico, daß - über eine bloße Komplementaritätsbeziehung hinaus - „die Auffindung der allgemeinen Beweisgründe naturgemäß früher ist als das Urteil über ihre Wahrheit“ (DR, 29). Der hier offenkundig postulierte Vorrang der Topik vor der Kritik bleibt im Rahmen von Vicos früher Inaugural-Rede freilich vage und schwer zu interpretieren: Deutlich wird, daß jene nicht bloß ein hilfreiches Supplement, sondern in unbestimmter Weise überhaupt erst die Grundlage jeglichen Reflexionswissens darstellt. Bedeutet dies aber eine Aufwertung im streng epistemologischen Sinn, dergestalt daß die topischen Gewißheiten des Gemeinsinns gleichsam zur ‚transzendentalen Bedingung der Möglichkeit’ kritischer Erkennt- nis avancieren? Von einer solchen Intention scheint der allgemeine Tenor von De ratione doch allzu weit entfernt. Viel eher scheint es hier um einen Primat der Topik in didaktischer Hinsicht gehen.[2] Dies wird durch Vicos wiederholte Illustration des Verhältnisses von Topik und Kritik durch Bildungsmethoden und ‚Studienarten‘ nahegelegt: Man solle „die jungen Leute in allen Wissenschaften und Künsten ohne ihrem Urteil vorzugreifen, unterrichten, so daß sie für die Gemeinplätze der Topik reichen Gehalt gewinnen können und inzwischen durch den Allgemeinsinn zur Klugheit und zur Redekunst heranreifen [...], dann erst sollen sie damit anfangen, über das, was man sie gelehrt hat, selbständig zu urteilen. Auf diese Weise wäre dafür gesorgt, daß sie nicht übermütig würden, wie diejenigen, die über die Dinge schon beim erlernen disputieren, und nicht übergewissenhaft, wie Schüler, die nur das für wahr halten, was der Lehrer vorsagt“ (DR, 37).
Diese Beispiele konkreter Nutzanwendung erlauben auch, die Implikationen von Vicos Rehabilitation des Wahrscheinlichen, des Gemeinsinns und der Topik konziser zu fassen. So scheint seine Aufwertung des rhetorischen Erbes grundsätzlich eine doppelte, theoretische wie praktische Begr ü ndungsfunktion zu verfolgen:[3] Einerseits ist Vico daran interessiert, (1) den methodischen Solipsismus der rationalen Analysis, die ein sozial isoliertes, sprachfreies Denksubjekt als Träger logischer Erkenntnisprozesse postuliert, zu überbieten. Durch Rekurs auf die Tradition des rhetorischen Humanismus gelingt es ihm, die intersubjektiv-kommunikative Dimension von Erkenntnis für die Wissenschaft wiederzugewinnen. Im Gemeinsinn artikuliert sich nämlich dasjenige Wissen, welches sich allein im Rahmen gemeinschaftlicher Ausein- andersetzungen und Argumentationsvorgänge als glaubwürdig erweisen konnte.[4] Zu dieser sprachlich-öffentlichen Verfaßtheit des Denkens, die sich im synchronen Konsens verschie- dener Dialogstimmen ausdrückt, tritt m. E. die unleugbare Geschichtlichkeit desselben, welche durch die Vorstellung vom sensus communis als Resultat einer diachronen Überlieferung historisch selektierter Gewißheiten verbürgt wird.[5] - Über die Integration der theoretischen Vernunft in einen sprachlichen, gesellschaftlichen und historischen Kontext hinaus hat Vicos neuerliche Mobilisierung rhetorischer Topoi jedoch ebenso (2) Konsequenzen für die Praxis des ö ffentlichen Lebens. Statt indes (wie im Falle der Theorie) bloß das fehlende Fundament zu einem schon vorhandenen Erkenntnisverfahren (der rationalen Wissenskritik) bereitzustellen, markiert die Überführung des Gemeinsinns auf das Gebiet der Praxis tatsächlich einen innovativen Neubeginn: Denn ein Reflexionswissen vom Menschen und seinen Handlungen ist hier nicht möglich. Gäbe es allein die deduktive Prinzipienwahrheit des Cartesianismus, so müßte der Mensch innerhalb der ethisch-politischen Dimension des Lebens epistemisch ‚blindgehen‘. Dies verhindert Vico, indem er den sensus communis zugleich als praktische Klug- heit (phronesis bzw. prudentia) ausweist, die als präreflexives, nicht aus Prinzipien abgeleitetes Orientierungswissen die Voraussetzung für Sinnzusammenhänge innerhalb der Sphäre der Praxis bildet (vgl. DR, 63).[6]
Wie sich somit zeigt, liefert Vico in De ratione eine didaktisch-pädagogisch motivierte Apologie humanistischer Studienmethoden, welche die Idee eines sprachgebundenen, gesell- schaftlich und historisch informierten Gemeinsinns ‚topischer Gewißheiten‘ als Grundlage theoretischer Reflexion und praktischer Lebensvollzüge identifiziert und die möglichst frühe Ausbildung desselben im Rahmen akademischer Bildungsprozesse anempfiehlt. - Indem sich Vico in seiner Inaugural-Rede allerdings wesentlich auf den universitären Radius des Studiums beschränkt, entgeht ihm offenbar, daß der hier geleistete Ansatz noch eine weitaus größere erkenntnistheoretische Stoßkraft hätte entfalten können.[7] Tatsächlich, so wird im Rückblick deutlich, enthält Vicos nuancenreiche, aber nichtsdestotrotz regionale Verteidigung humani- stischer Ideen den Keim zu einer umfassenden Renovation zeitgenössischer epistemologischer Konstellationen. Eine solche gelingt Vico erst in seinem über Jahrzehnte hin ausgearbeiteten philosophisch-philologischen Hauptwerk, der Scienza Nuova, welche die bis dato vorgestellten Konzepte zu einer prinzipiell-metaphysischen Grundlegung der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ weiterentwickelt.
[...]
[1] Im Folgenden zitiere ich die lat.-dt. Ausgabe: Vico, Gian Battista: De nostri temporis studiorum ratione / Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung (Darmstadt 1963). Die Zitation erfolgt im fortlaufenden Text unter der Sigle DR. Bei De ratione handelt es sich um die letztevon insgesamt sieben zwischen 1699 und 1708 gehaltenen Inaugural- Vorlesungen.
[2] Zu dieser Interpretation des Verhältnisses von Topik und Kritik vgl. Apel, Karl-Otto: „Giambattista Vicos Anticartesianismus und sein Programm einer Neuen Wissenschaft“, in: Zeitspr ü nge. Forschungen zur Fr ü hen Neuzeit, Band 3, Heft 1/2 (1999), S. 212 ff.
[3] Zum folgenden Resumé vgl. Damiani, Alberto M.: „Humanismo civil y hermenéutica filosófica. Gadamer lector de Vico“, in: Cuadernos sobre Vico 15 - 16 (2003), S. 35. - Diese Differenzierung entspricht Vicos Vorstellung des Gemeinsinns als Bedingung der Möglichkeit einer Verknüpfung von sapientia, eloquentia und prudentia; vgl. hierzu Verene, Donald P.: „Gadamer and Vico on sensus communis and the Tradition of Humane Knowledge“, in: Hahn, Lewis E. (Hrsg.): The Philosophy of Hans-Georg Gadamer (Chicago 1997), S. 140.
[4] Vgl. Damiani, a.a.O., S. 35; Apel, a.a.O., S. 211 sowie Schaeffer, John, D.: Sensus communis. Vico, Rhetoric and the Limits of Relativism (Durham/London 1990), S. 78 f.
[5] Die Unterscheidung von synchronem und diachronem Aspekt des Gemeinsinns ist meine eigene (vgl. jedoch Schaeffer, a.a.O., S. 78: „The sensus communis keeps the individual rooted in the community and the community’s past as well“).
[6] Vgl. Damiani, a.a.O., S. 35 f. - Schaeffer nennt zwar Vicos generelle Abgrenzung vom cartesischen Erkenntnisideal eine ethische Entscheidung „based on a difference of value“ (a.a.O., 78 f.), unterscheidet aber nicht zwischen theoretischem und praktischem Moment innerhalb von Vicos Rede. Als explizit moralische bzw. rechtliche Instanz - nämlich als Reflexionsbasis für die konkret-positive Anwendung des jus gentium - wird der Gemeinsinn von Vico erst im Diritto Universale sowie in der Scienza Nuova etabliert.
[7] Vgl. Apel, a.a.O., S. 211 f.
- Arbeit zitieren
- M.A. Björn David Herzig (Autor:in), 2005, Geschichte und Wahrheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141823