Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Die Zeit der Barockmystik
II. Begriffsdefinition: Barockmystik
III Klangliche und formale Aspekte unter Berücksichtigung stilistischer Mittel
IV. Embleme
V. Geistlicher Petrarkismus
VI. Kontrafaktur
VII. Geistliche Osculologie
VIII. Brautmystik
IX. Schluss
Literaturverzeichnis
I. Die Zeit der Barockmystik
Das 17. Jahrhundert war geprägt insbesondere durch den dreißigjährigen Krieg und den damit verbundenen Erlebnissen von Pest, Mord, Hunger und Plünderei aber auch von Glaubensspaltungen und Gegenreformation. Viele Autoren dieser Zeit verarbeiteten in ihren Texten daher tiefsinnige, antithetische Inhalte: Tod und Leben, Ewigkeit und Vergänglichkeit, Freuden des Diesseits und Sehnsucht nach dem Jenseits, Genuss der Welt und Askese, das Sein und der Schein.
Von der Literaturgeschichte der Germanistik werden diese Werke oft der Epochengattung des Barocks zugewiesen. Einige wichtige und die Epoche prägende Hauptvertreter waren unter anderem Andreas Gryphius, Martin Optiz, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Caspar von Lohenstein, aber auch Johann Scheffler (1624 – 1677), ferner bekannt als Schlesischer Bote, Christianus Conscientiosus oder auch Angelus Silesius.
Der zuletzt genannte war deutscher Lyriker, Arzt und Theologe. Aufgrund der Thematik, die in seinen publizierten Arbeiten hervortritt, wird Angelus Silesius neben Jakob Böhme als herausragender Vertreter der Barockmystik, einer Untergattung des Barocks, gehandelt. Bekannt wurde Angelus Silesius nicht nur wegen seinen erbauenden Epigramme aus dem Werk „Cherubinischer Wandersmann oder Geist-Reiche Sinn- und Schluss-Reime zur Göttlichen beschauligkeit anleitende“ sondern auch wegen den in seiner Liedersammlung „Heilige Seelen-Lust. Oder Geistliche Hirten-Lieder der in ihren Jesum verliebten Psyche“ veröffentlichten Liedgedichten, die teilweise heute noch in der römisch-katholischen Kirche Verwendung als Kirchenlieder finden. Das behandelte Liedgedicht „Sie schreyet nach dem Kusse seines Mundes“ wurde 1657 in Breslau als eines von insgesamt 205 Liedern in der oben genannten Liedersammlung veröffentlicht. Das Lied bietet sich aufgrund verschiedener Interpretationsansätze zur Analyse an.
Ziel dieser Arbeit ist es, Angelus Silesius´ Liedgedicht „Sie schreyet nach dem Kusse seines Mundes“ hinsichtlich gattungsspezifischer Merkmale zu untersuchen und die in diesem Zusammenhang angewandten religiösen Motive, sowie die dabei verwendeten Embleme bezüglich zu der Barockmystik herauszustellen und zu interpretieren.
II. Begriffsdefinition: Barockmystik
Der Ausdruck Mystik stammt aus dem Griechischen (μυστικός = mystikós) und bedeutet eigentlich „geheimnisvoll“. Heute versteht man allgemein darunter, ein tief greifendes, inneres Erleben einer übernatürlichen Sache. Das Erleben dieser Erfahrung folgt zu einer Art von Erleuchtung. Ein aus dieser Erleuchtung heraus entstehendes Glücksgefühl wird auch mit der Gnosis, also einer Erkenntnis, gleichgesetzt. Die Wege zur Gnosis und das Erfahren derselben entstehen durch Enthaltsamkeit (Askese), dem Nachdenken und Nachsinnen (Meditation) und der daraus folgenden Erkenntnis (Kontemplation). Mystik findet sich heutzutage in allen höheren Religionen wieder.1
Hinter der christlichen Religionsmystik steht der Gedanke, dass man Gott in sich verinnerlicht bzw. eine mystische Vereinigung mit Gott vollzieht. Der geläufige lateinische Begriff hierfür ist Unio mystica. Jene höchste Stufe der Gotteserkenntnis erfährt der Gläubige durch die tiefsinnige Ausübung der drei oben genannten Mittel. Angelus Silesius, wie viele andere Gelehrte auch, ging davon aus, dass man die Unio mystica durch das Praktizieren von Gebeten, geistlichen Gesängen, von der Art wie er sie auch in seiner Liedersammlung publizierte, oder auch über die Meditation von erbauenden Epigramme, wie sie im Cherubinischen Wandersmann vorzufinden sind, erfahren kann.
Ein weiterer Begriff, Cognitio Dei experimentalis, verweist auf die Erkenntnis von Gott durch Erfahren, Praktizieren oder Ausüben christlicher Dogmen.2
III Klangliche und formale Aspekte unter Berücksichtigung stilistischer Mittel
Angelus Silesius verfasste dieses Lied nicht gemäß den formalen Empfehlungen des Martin Opitz. Alle vier Strophen bestehen aus Schweifreimstrophen (a-a-b-c-c-b). Die bei vielen Barockliedern und -gedichten angewandte Sonettform, also Quartette und Terzette verwendet Angelus nicht, keine Anwendung finde ebenso der von Opitz empfohlene Alexandriner. Als ein Sonett im klassischen Stil ist das Lied nicht einzuordnen, dennoch wurde bei dem Klang des Liedes sehr bedacht konstruiert; so verwendet Silesius gleich klingende Kadenzen an den Versenden 1\2 und 3\6 und 4\5 jeder Strophe, was vermutlich eine akustisch reizvollere Wirkung beim Rezipienten hervorruft als unreine Reime. Die Kombination der sprachlich schwer artikulierbaren Wörter „Dürst [...] lächtzt, / seufftzt […] ächtzt“ (V.10/11) sollen ebenfalls akustisch die Leiden und Schmerzen der verliebten Psyche hervorheben. Die Besonderheit des Metrons ist der Rhythmuswechsel von Jambus, der in den ersten beiden Versen jeder Strophe Anwendung findet, zu Trochäus. Die Jamben sind jeweils pentámetrisch angewandt. Die Trochäenverse, die in dem vierten und fünften Vers zweihebig und in dem dritten und sechsten Vers vierhebig sind, enden meist mit einer stumpfen, betonten Kadenz, da die letzte Senkung sprachlich ausbleibt; diese Technik der frühzeitigen Beendigung des Metrums ist aus der Antike stammend. Jene sogenannte Katalexe - also der Wegfall der letzten unbetonten Hebung (in Vers drei, vier und fünf) - lässt an den Versgrenzen zwei Hebungen aufeinander treffen, was die am Versanfang einsetzende Betonung eindrucksvoll intensiviert und die Gründlichkeit der konstruierten Klangmittel nochmals unterstreicht.
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