Leere Form? Das Ritual in Stefan Georges "Teppich des Lebens"


Seminararbeit, 2006

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ritual – kein eindeutiger Begriff

3. Die Analogie zwischen dem Ritual und dem „Teppich des Lebens“
3.1 Die Ästhetik
3.2 Der soziale Aspekt
3.3 Die Rolle des Priesters
3.4 Die Symbolik
3.5 Die Form
3.5.1. Der Zyklus
3.5.2. Form als „gebilde“: Eine poetologische Lesart des Gedichts „Der Teppich des Lebens“
3.6 Religion als Form

4. Das Zentrum der Rituale im „Teppich des Lebens“

5. Das Ritual im Teppich des Lebens – eine notwendige, aber keine hinreichende Kategorie zum Verständnis

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Literatur zehrt vom Ritual.[1] Das ist die zentrale – und auf den ersten Blick wohl auch provokante – These Braungarts, die er besonders am Beispiel Stefan George zu belegen sucht. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich ebenfalls mit dem Ritual bei Stefan George, jedoch in einem enger umgrenzten Gebiet. Ziel der Arbeit ist es, in Georges Gedichtband „Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod × mit einem Vorspiel“ zu untersuchen, inwiefern sich darin wesentliche Elemente des Rituals finden und ob sich diese für einen Interpretationsansatz eignen. Der Forschungsgegenstand ist dabei bewußt auf diesen einen Gedichtband begrenzt. Ist man mit Georges Gestaltungs- und Ordnungswillen vertraut, so ist die Tatsache nicht uninteressant, daß es sich bei diesem im Jahre 1900 veröffentlichten Buch um das mittlere seines Werkes handelt. Die vorliegende Arbeit blendet das Gesamtwerk und die Biographie Georges zugunsten einer vor allem textimmanenten Vorgehensweise weitgehend aus.

Zunächst gilt es bei dem Vorhaben zusammenzustellen, welche Bedeutung dem Begriff Ritual zukommt. Es wird sich zeigen, daß es sich dabei um einen alles andere als eindeutigen Begriff handelt. Sodann wird an bestimmten wesentlichen Elementen und Kennzeichen des Rituals überprüft, inwiefern diese sich im ‚Teppich des Lebens’ wiederfinden. Im einzelnen sind dies die Ästhetik, das Soziale, die Rolle des Priesters, die Symbolik, die Besonderheit der Form und die Bedeutung der Religion. Dabei stellt sich heraus, daß sich die Entsprechungen in den einzelnen Aspekten von unterschiedlicher Qualität erweisen, obgleich sie nie zu leugnen sind. Eine genauere Betrachtung verdient im Anschluß die Frage, was bei Georges Ritualen Form und Inhalt ausmacht und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Eine besondere Rolle – sowohl was den Inhalt als auch die Form betrifft – spielt dabei das Religiöse. Abschließend muß die Frage aufgeworfen werden, ob es unter Umständen einen Grund gibt, warum die doch recht unterschiedlichen Phänomene wie Ritual und Literatur hier eine solche Entsprechung aufweisen.

2. Ritual – kein eindeutiger Begriff

Zu Beginn gilt es zu klären, was denn im folgenden unter Ritual verstanden werden soll, handelt es sich doch nicht um einen in erster Linie literarisch definierten Begriff. Vielmehr stellt das Ritual einen essentiellen Analysebegriff der Soziologie, Anthropologie und Ethnologie dar. Von hier ausgehend muß daher bei der Begriffsklärung angesetzt werden. In der Soziologie versteht man unter Ritual „Verknüpfungen von Symbolen und symbolischen Gesten in gleichbleibenden und vorstrukturierten Handlungsketten“[2]. Die Verhaltensweisen sind dabei in hohem Maße symbolisch aufgeladen, formalisiert und standardisiert und unterscheiden sich dadurch beispielsweise von Routinen.[3] Zudem sind sie in der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung an bestimmte Gemeinschaften oder Gruppen gebunden.[4] Ursprünglich verstand man unter Ritual immer eine religiöse oder magische Handlung. Die Rolle des Religiösen in den Gedichten des „Teppichs des Lebens“ macht dann auch einen wesentlichen Aspekt dieser Arbeit aus.

Entscheidend scheint zu sein, daß der Hauptzweck von Ritualen nicht auf ihrer inhaltlichen Dimension beruht, sondern auf ihrer formalen.[5] Es handelt sich dabei um „die symbolische Repräsentation, Gewährleistung und Aufrechterhaltung einer – wie auch immer – geordneten, gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit.“[6] In welchem Verhältnis formale und inhaltliche Seite des Rituals aber genau zueinander stehen, wird mit Blick auf George noch genauer zu klären sein. Die Ethnologin Mary Douglas sieht für ihre Zwecke einen wertneutralen Begriff am ehesten geeignet, wenn sie erklärt: „in der Anthropologie spricht man gewohnheitsmäßig von ‚Ritualen’, wenn es um bestimmte Arten von Handlungen und den Ausdruck des Glaubens an bestimmte symbolische Ordnungen geht, ohne weiter zu fragen, ob der Handelnde sich dem, was er tut, innerlich verpflichtet fühlt.“[7]

Braungart beruft sich für seine literarischen Untersuchungen auf das religiöse Ritual und stellt überblicksartig fünf Charakteristika zusammen. Ein Ritual wird demzufolge konstituiert: „a) durch die Wiederholung einer Handlung; b) durch Festlichkeit und Feierlichkeit; c) durch Selbstbezüglichkeit; d) durch Akteure und Zuschauer, die sich der Bedeutsamkeit des Rituals bewußt sind; e) durch eine ästhetisch-symbolische Ausgestaltung, die das Ritual heraushebt und unterscheidet.“[8] Es steht die soziale Funktion von Ritualen im Vordergrund, die soziale Gruppen durch ästhetische Inszenierung zu integrieren vermag.[9] Braungart hebt hier eindeutig auf einen antiritualistischen Ritualsbegriff ab. Entscheidend ist ihm zufolge, daß die Akteure und Zuschauer sich der Bedeutsamkeit des Rituals bewußt sind. Er spricht nicht explizit von der Bedeutung. Ein solches Merton’sches Verständnis vom Ritualisten lehnt Douglas zugunsten des erwähnten wertneutralen ab.[10] Ritual ist also nicht eindeutig definiert, gerade was die Beziehung zwischen Inhalt und Form und was die Bedeutung der Religiösen betrifft.

3. Die Analogie zwischen dem Ritual und dem „Teppich des Lebens“

3.1 Die Ästhetik

George postuliert eine Analogie zwischen Ritual und Literatur, im besonderen der Lyrik Stefan Georges. Und in der Tat lassen sich erstaunliche Gemeinsamkeiten finden, wenn man dieser behaupteten Gleichartigkeit nachspürt. Bei George fällt zunächst der ästhetizistische Aspekt ins Auge. Zwar mag sich das Ritual von der Literatur in ihrem Bezug zum Inhalt unterscheiden (wie noch zu zeigen sein wird), doch finden sich bei beiden eine Fülle ornamentaler Elemente, die zur Feierlichkeit und Festlichkeit beitragen. Hansjürgen Linke schlüsselt die einzelnen Aspekte des Kultischen auf. Das Kultische ist mit dem Ritual eng verwandt. Und zwar insofern, als das Ritual in der Regel eine Form der Äußerung eines Kultes ist. Unter diesen Aspekten findet sich eine Vielzahl an Elementen, die der Ausschmückung dienen:[11] Kulte finden in der Regel an bestimmten Orten statt und bedürfen eines gewissen Zubehörs, wie Tiere oder Pflanzen. Die am Kult teilnehmenden Menschen sind zumeist aufwendig geschmückt.[12] George greift derartige Motive im „Teppich des Lebens“ des öfteren auf. Gleich im ersten Gedicht (S. 172) ist ein Ort genannt, der „hort“, nach dem der Dichter forschte, um – so ist anzunehmen – dem gesuchten ‚heiligen’ zu begegnen. Als der Engel dann erscheint, bringt der Engel derartig viele Blumen mit, daß sogar von einer „last“ gesprochen wird. Doch auch der Umgang Georges, ja der Lyrik im allgemeinen, mit der Sprache ist in den meisten Epochen ein die Ästhetik betonender. Georges kunstvoll gebaute Gedichte sind ein brillantes Beispiel dafür. Dies kann hier im einzelnen nicht weiter ausgeführt werden. Jedoch verweist die Erkenntnis auf eine Funktion von Ritualen. Sie sind „Moratorien des Alltags“[13]. Das mag in etwa der Eigenschaft von Literatur entsprechen, die alltägliche Sprache in einem neuen und unerwarteten Zusammenhang mit daraus entstehenden neuen Bedeutungen zu verwenden.

3.2 Der soziale Aspekt

Die in der Regel feierlich geschmückten Menschen führen zu einer weiteren Gemeinsamkeit zwischen Ritual und Literatur. Ein Ritual ist allein nicht zu vollziehen. Es ist immer an bestimmte Gemeinschaften oder Gruppen gebunden. Die Teilnehmenden müssen wissen, welcher Sinn oder welche Bedeutung dem Ritual zukommt. Dazu findet ein Ritual, Linke spricht von Kult, meist - aber nicht notwendig -, unter Leitung eines Priesters statt.[14] Ohne die Analogie auf die kultische Inszenierung von Literatur im George-Kreis ausdehnen zu wollen,[15] spiegeln sich diese Elemente im „Teppich des Lebens“. Auf einer ganz allgemeinen Ebene läßt sich natürlich die Behauptung nicht widerlegen, daß Literatur an sich ein Kommunikationssystem zwischen Menschen darstellt und daher schon per se ein soziales Phänomen ist. Mit Blick auf den Teppich ist die These jedoch im einzelnen zu belegen. Es ist festgestellt worden , daß der erste Band, das Vorspiel, das Dramatische verkörpert,[16] was durchaus beachtenswert ist. Denn schließlich handelt es sich um einen Gedichtband, also ein in erster Linie lyrisches Werk.[17] Das Dramatische bringt nun die Kommunikation, das Soziale in das zutiefst subjektive Lyrische. Jedoch ist dieses Argument dadurch zu relativieren, daß es sich nicht um eine Kommunikation zwischen Menschen handelt. Vielmehr spricht das lyrische Ich mit dem Engel. David sieht darin lediglich Selbstgespräche,[18] doch darauf wird später noch genauer einzugehen sein. Auffällig ist auch, daß ab „Die Verrufung“ (S. 195) alle restlichen 16 Gedichte des „Teppichs“ ein „Du“ ansprechen. Zwar wechselt sowohl das lyrische Ich als auch das Du, aber der soziale Aspekt ist hier nicht zu leugnen.

[...]


[1] Braungart, 1992, S. 8

[2] Soeffner, 1989, S. 178

[3] Keller, Reiner, 2003, S. 55

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Ebd., S. 57

[7] Douglas, 1974, S. 13; Hervorhebung nicht im Original

[8] Braungart, 1992, S. 4

[9] Ebd., S. 37

[10] Douglas, 1974, S. 12; sie verweist dabei auf Merton, Robert K. (1968): Social Theory and Social Structure, London, New York. S. 131ff

[11] Linke, 1960, S. 67ff

[12] Ebd., S. 89

[13] Braungart, 1992, S. 5

[14] Linke, 1960, S. 5

[15] Dazu vgl. etwa Braungart, 1997, S. 154ff

[16] Wolters, 1930, S. 199;

[17] Der ‚Teppich des Lebens’ repräsentiert demnach die Epik und die ‚Lieder von Traum und Tod’ tragen einen lyrischen Zug. So entsprechen die drei Bände des ‚Teppich des Lebens’ den drei literarischen Gattungen.

[18] David wehrt sich auch dagegen, das Vorspiel als dramatisch anzusehen, da es mangels Handlung kein Drama darstellt. Es handele sich hier nicht um eine sich vollziehende Bekehrung durch den Engel, sondern lediglich um die Bekräftigung von etwas schon Gewußtem. Der Teil sei vielmehr lyrisch, da er die Verwandlung eines Gefühls in eine Idee beschreibe. (David, 1967, S. 176)

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Leere Form? Das Ritual in Stefan Georges "Teppich des Lebens"
Hochschule
Universität Augsburg  (Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar Stefan George
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
18
Katalognummer
V142927
ISBN (eBook)
9783640519620
ISBN (Buch)
9783640521142
Dateigröße
512 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stefan George, Der Teppich des Lebens, Ritual, Lyrik, Form, Gedicht, Literaturwissenschaft, Germanistik, Symbolismus, l'art pour l'art
Arbeit zitieren
Sebastian Fischer (Autor:in), 2006, Leere Form? Das Ritual in Stefan Georges "Teppich des Lebens", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/142927

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