Die begriffsgeschichtliche Entwicklung der Zivilgesellschaft in der Tschechischen Republik


Masterarbeit, 2007

63 Seiten


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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Geschichte des Begriffs Zivilgesellschaft
2.1 Methodik derBegriffsgeschichte
2.2 Der Begriff der Zivilgesellschaft im geschichtlichen Verlauf
2.3 Der Begriff der Zivilgesellschaft im aktuellen Diskurs
2.4 Fazit

3 Die Zivilgesellschaft in derTschechoslowakei vor 1989
3.1 Zivilgesellschaftliche Entwicklungen bis 1968
3.2 Das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft im Realsozialismus
3.3 Zivilgesellschaftliches Denken in derZeit der Normalisierung
3.3.1 Die moralische Krise dertschechischen Nation
3.3.2 Die Wiedergeburt derZivilgesellschaft
3.3.3 Zivilgesellschaft als politische Oppositionsstrategie
3.4 Die Charta 77 als zivilgesellschaftliche Oppositionsbewegung
3.5 Fazit

4 Die Zivilgesellschaft in der Tschechischen Republik nach 1989
4.1 Die Transformation derZivilgesellschaft
4.1.1 Revolution der Moral - Zivilgesellschaft in der Zeit der Liberalisierung
4.1.2 Aufstieg und Niedergang des Bürgerforums in der Zeit der Institutionalisierung
4.1.3 Zivilgesellschaft im Wandel zur Zeit der Konsolidierung
4.1.3.1 Dualismus derKonzepte
4.1.3.1.1 Václav Havels Moralismus
4.1.3.1.2 Václav Klaus' Pragmatismus
4.1.3.2 Zivilgesellschaftliche Entwicklungen im Dritten Sektor
4.1.3.3 Zivilgesellschaft und Politische Kultur
4.2 Fazit

5 Resümee

6 Literatur

1 Einleitung

Seit den achtziger Jahren erlebt der Begriff der Zivilgesellschaft eine Renaissance. In Ost­mitteleuropa diente er den Dissidenten als Leitbegriff der demokratischen Oppositionsbewe­gungen und trug erheblich zur Delegitimierung derdortigen kommunistischen Regime bei. In den demokratischen Ländern Westeuropas erweist sich der Begriff Zivilgesellschaft als „Re­flexionsbegriff“[1] der Demokratie, mithilfe dessen das Augenmerk auf systemimmanente Pro­bleme liberaler Demokratien gerichtet wird. Dementsprechend wird der Begriff Zivilgesell­schaft von vielen Forschungsgebieten aufgegriffen, von der politischen Philosophie und Ide­engeschichte, der Demokratietheorie und Transformationsforschung ebenso wie von der Dritte-Sektor und Politische-Kultur-Forschung. Klaus von Beyme merkt an, dass heute kaum ein Projektantrag ohne Bezug zur Zivilgesellschaft bewilligt werden würde und charakteri­siert die Revitalisierung des Konzepts der Zivilgesellschaft als die letzte Ideologie des 20. Jahrhunderts[2]. Die „Beschwörung der Zivilgesellschaft“[3] vermag somit Menschen und Grup­pen verschiedenster Hintergründe zu begeistern, vom Wissenschaftler bis hin zum Globali­sierungsgegner. Dies lässt bereits erahnen, dass sich hinter dem Terminus Zivilgesellschaft ein sehr vielschichtiger Begriff verbirgt, der oftmals zur Projektion populistischer Rhetorik oder utopisch-normativer Hoffnungen wurde.

Um die vielfältigen Essenzen des Begriffs aufzuspüren, versucht diese Arbeit Zivilgesell­schaft begriffsgeschichtlich zu rekonstruieren. Dabei orientiert sie sich an der begriffsge­schichtlichen Methodik von Reinhart Koselleck. Prämisse der Arbeit ist, dass sich im Begriff der Zivilgesellschaft historisch-gesellschaftliche Veränderungen widerspiegeln, so dass der Begriff zum Indikator des historischen Wandels wird. Darüber hinaus ist der Begriff der Zivil­gesellschaft durch eine normativ-utopische Ausrichtung gekennzeichnet und fungiert oftmals als positiv konnotierter Zukunftsentwurf und/oder politisches Programm. In dieser Funktion tritt die Zivilgesellschaft somit auch als Faktor eines soziopolitischen Wandels auf.

Diese Aussagen werden am Beispiel der Tschechoslowakei bzw. Tschechischen Republik vor und nach 1989 untersucht. Der Begriff der Zivilgesellschaft wandelte sich in diesem Zeit­rahmen von einem stark moralisch fundierten Begriff, der als politische Oppositionsstrategie und angestrebter Zukunftsentwurf gleichermaßen diente, zu einem eher strukturell und funk­tional verstandenen Begriff, dessen Kerninhalte schrittweise verwirklicht werden. In dieser historischen Skizze tritt die Zivilgesellschaft zum einen als Faktor von Veränderung auf, z.B. beim Systemumbruch, und zeichnet sich zum anderen als Indikator des Wandels während der Systemtransformation aus.

Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der diachronen Analyse des Begriffs der Zivilge­sellschaft. Zunächst wird die der Arbeit zugrunde liegende Methodik der Begriffsgeschichte vorgestellt. Ausgehend von der auf Aristoteles zurückgehenden, griechischen koinonia poli- tike werden die wichtigsten Entwicklungsstränge des Begriffs Zivilgesellschaft erörtert, an­hand prägender Autoren vorgestellt und anschließend im Kontext der aktuellen Diskussion zusammengeführt.

Die im ersten Teil gewonnenen Erkenntnisse dienen im Anschluss als Grundlage einer syn­chronen begriffsgeschichtlichen Betrachtung der Zivilgesellschaft am Beispiel der Tschecho­slowakei bzw. Tschechischen Republik in einem Zeitrahmen von 1968 bis heute. Der zweite Teil widmet sich der Begriffssemantik von Zivilgesellschaft als Leitbegriff der tschechoslowa­kischen Opposition vor 1989. Das Konzept der Zivilgesellschaft vor 1989 definiert sich stark über die soziopolitischen Gegebenheiten dieser Zeit. Aus diesem Grunde ist eine historische Hinführung zum Thema unerlässlich. Das Zivilgesellschaftskonzept wird am Beispiel des Denkens und Schreibens von Václav Havel vorgestellt, dessen Schriften die Idee der Zivil­gesellschaft als Oppositionsstrategie in der Tschechoslowakei maßgeblich beeinflussten. Havels Schriften schaffen somit das Fundament für die Einbeziehung inhaltlicher Nuancen anderer Autoren, um das Konzept der Zivilgesellschaft als Oppositionsstrategie in einem breiteren Kontext einzubetten. Als realpolitisches Beispiel einer zivilgesellschaftlichen Oppo­sitionsstrategie wird letztlich das Beispiel der Charta 77 in der Tschechoslowakei beschrie­ben, deren Aktionen durch die Gedanken und das Wirken Havels beeinflusst wurden.

Der dritte Teil untersucht, inwiefern sich die Semantik von Zivilgesellschaft im Rahmen der Systemtransformation gewandelt hat. Um dies aufzuzeigen, werden drei Phasen der Trans­formation zivilgesellschaflicher Entwicklung näher beleuchtet: die Rolle der Zivilgesellschaft beim Systemumsturz, in der Übergangsphase und in der Konsolidierungsphase. Die seman­tische Veränderung der nachrevolutionären Zivilgesellschaft wird anhand des öffentlich-poli­tischen Diskurses über die Bedeutung der Zivilgesellschaft im Staat zwischen Präsident Ha­vel und Premier Klaus, der Entwicklung des Dritten Sektors sowie anhand von Merkmalen der Politischen Kultur untersucht. Der Umfang dieser Arbeit erlaubt es, nur einige Aspekte der begriffsgeschichtlichen Entwicklung auf dem Gebiet der Tschechischen Republik darzu­stellen, die deswegen nur bestimmte Tendenzen erfassen, die tschechische Begriffsge­schichte derZivilgesellschaft jedoch nicht in Gänze beschreiben.

2 Die Geschichte des Begriffs Zivilgesellschaft

2.1 Methodik der Begriffsgeschichte

Gegenstand der Begriffsgeschichte ist die diachrone und synchrone Analyse von Wörtern, deren besondere Funktion es ist, Leitbegriffe geschichtlicher Bewegungen zu sein. Struktu­ren und Ereigniszusammenhänge der Geschichte werden durch das Prisma des Begriffs im jeweils spezifischen sozialen und politischen Kontext gelesen. Die Begriffsgeschichte richtet sich daher gegen eine abstrakte Ideengeschichte. Dank der diachronen Methode in Hinsicht auf Dauer und Wandel eines Begriffs können sozialhistorisch relevante Erkenntnisse gewon­nen werden, die unter anderem dazu beitragen, chaotisch gewordenen Fachwortgebrauch zu stabilisieren. Auf diese Weise können Begriffsinhalte der Vergangenheit durch die jeweili­gen synchronen Begriffsanalysen zur Geschichte des Begriffs summiert und in unser heuti­ges Sprachverständnis übersetzt werden. Die Begriffsgeschichte untersucht somit die ge­genseitige Beeinflussung von Sprache und politisch-sozialerWirklichkeit.[4]

Begriffe unterscheiden sich darin vom Wort, dass sie „Konzentrate vieler Bedeutungsgehal­te“[5] sind. Der Begriff beansprucht allgemein zu sein, aber gleichzeitig vieldeutige politisch­soziale Bedeutungszusammenhänge zu erfassen, wohingegen ein Wort eindeutig ist. Derart semantisch aufgeladene Begriffe sind nicht nur Indikatoren geschichtlicher Zusammenhän­ge, sondern können auch deren Faktoren sein. Es geht somit auch um die Frage der sozia­len Reichweite von Begriffen und darum, wie soziale Gruppen durch die bindende, bildende und prägende Kraft von Begriffen entstehen und im öffentlichen Raum agieren.[6]

Insbesondere Mitte des 18. Jahrhunderts, der so genannten Sattelzeit, stellt Koselleck sub­stantielle Veränderungen klassischer Begriffsbedeutungen fest. Im Zuge der Demokratisie­rungsprozesse dehnt sich der potentielle Anwendungsbereich der Begriffe aus. Gesell­schaftliche Grundbegriffe werden breiteren gesellschaftlichen Schichten zugänglich und ver­ändern somit ihren sozialen Stellenwert. Es kommt fernerhin zu einer Verzeitlichung der Be­griffe, d.h. Begriffe werden zunehmend mit gesellschaftlichen Erwartungen und Zielsetzun­gen aufgeladen und verlieren ihren systematischen Anspruch. Das Ansteigen des Abstrakti­onsgrades vieler Begriffe leistet Mehrdeutigkeiten und beliebig besetzbarer Semantik Vor­schub. Oftmals werden Begriffe in die politische Programmatik eingebunden, so dass es zu einer Verkehrung des Verhältnisses von Begriff und Begriffenem kommt, indem der Begriff zu einem sprachlichen Vorgriff mit zukunftsprägendem Potential wird.[7]

Der Bedeutungswandel des Begriffs der societas civilis, der in verschiedene, semantisch teilweise differierende Begriffe wie bürgerliche Gesellschaft, Bürgergesellschaft, civil society oder Zivilgesellschaft übersetzt wurde, von einer politisch verfassten Gesellschaft zu einer eigenständigen, von Staat und Wirtschaft unabhängigen Sphäre, lässt sich besonders gut mithilfe der Begriffsgeschichte festmachen.

Obwohl es verschiedene Begriffe dafür gibt, was das Phänomen der societas civilis be­schreibt, werde ich in dieser Arbeit durchweg den Begriff der Zivilgesellschaft verwenden, sofern es sich nicht um die spezifische Verwendung des Begriffs durch einen bestimmten Autor handelt. Die Entscheidung für den Begriff Zivilgesellschaft hat mehrere Gründe. Zum einen assoziiert man im Deutschen mit dem Begriff des Zivilen eine Art Oppositionshaltung zum Militärischen und zur Gewalt. Fernerhin wird der Bezug zur Zivilisation als Gegensatz zur Barbarei hergestellt, der das Konzept der Zivilgesellschaft somit in den kulturellen Ent­wicklungsprozess moderner Gesellschaften integriert. Am Wichtigsten erscheint mir aber die Abgrenzung zu einer rein besitzindividualistisch gedeuteten Lesart durch den Liberalismus und vor allem aber zu der Marxschen Begriffsverwendung, in der die bürgerliche Gesell­schaft mit der Wirtschaftsgesellschaft der Bourgeoisie gleichgesetzt wird. Klein betont, dass der Begriff der Zivilgesellschaft eine begriffliche Modifikation vornimmt, indem er den Hegel- schen Dualismus zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft zugunsten eines Tripartis­mus von Staat, Markt und Zivilgesellschaft aufhebt.[8]

2.2 Der Begriff der Zivilgesellschaft im geschichtlichen Verlauf

Ideengeschichtlich lässt sich der Begriff der Zivilgesellschaft bis zu Aristoteles zurückverfol­gen. Die griechische koinonia politike verkörperte eine politisch konstituierte Gesellschaft freier und gleicher Bürger, deren Handlungen durch das Prinzip der Gerechtigkeit unter Ebenbürtigen bestimmt wurden, als Gemeinschaft von Bürgern, die der Zweck des guten, d.h. tugendhaften und glücklichen Lebens einte. In dieser klassischen Denktradition war der Staat (Polis) mit der bürgerlichen Gesellschaft (koinonia politike) identisch.[9]

Dieser ideengeschichtliche Bedeutungsursprung wurde Koselleck und Kocka zufolge kei­neswegs in Gänze eliminiert. Rein wortgeschichtlich sind Bedeutungsgehalte der koinonia politike oder societas civilis, wie die politische Selbstbestimmung und die Herrschaft der Ge­setze, bis heute abrufbar.[10] Trotz der Kontinuität wesentlicher Bedeutungsgehalte bezog sich der Begriff immer wieder auf einmalige historische Situationen und politische Kontexte, an die ersemantisch angepasst wurde, um etwas Neues sprachlich zu erfassen.

Koselleck stellt diachron drei epochale Schübe fest, die die Semantik des Begriffes der Zivil­gesellschaft weg von der ursprünglichen Bedeutung der Stadtgemeinde hin zu einem Ver­ständnis von Zivilgesellschaft als eigenständige gesellschaftliche Sphäre prägten. Zum einen wurde im 1. Jahrhundert das römische Stadtbürgerrecht auf die Mitgliedschaft in ei­nem politischen Großverband, dem römischen Imperium, ausgeweitet.[11] Mit dem Auftauchen der Augustinischen Lehre der zwei civitates wandelte sich der Begriff erneut: Die Menschen waren demzufolge in zwei Gesellschaften zugleich organisiert, einer zeitlichen und einer spi­rituellen, in der als Civitas Dei jeder Mensch erfasst wurde, ungeachtet seiner irdischen so­zialen und rechtlichen Lage. Das frühe Mittelalter definierte Gesellschaft zudem nicht mehr in Begriffen ihrer politischen Organisationen, wie es noch in der Antike der Fall war. Das Aufkommen absolutistischer Monarchien in der Neuzeit veränderte die Struktur der mittelal­terlichen Ständegesellschaften und somit auch die mittelalterlichen Vorstellungen von Ge­sellschaft. Die Gesellschaft wurde wieder ausschließlich über ihre politische Organisation definiert. Die Herrschaftsstände verloren politisch und rechtlich betrachtet an Einfluss ge­genüber dem Staat. Der Bürger wurde nunmehr als Untertan und Subjekt definiert.[12]

Drei entscheidende Entwicklungen der Neuzeit evozierten die ideengeschichtliche Trennung von Staat und Gesellschaft. Im Einklang mit der aufkeimenden Industrialisierung entwickelte sich der Bereich der Ökonomie immer mehr zu einem theoriefähigen, eigenständigen Kom­plex, der sich auf anwachsende Bedürfnisvernetzungen bezieht. Arbeit und die damit ver- bundeneAkkumulation von Eigentum wurden zurVoraussetzung politischen Einflusses. Den Bürgern der „modernen“ Zivilgesellschaft ging es nicht darum, politische Herrschaft an sich auszuüben, sondern vor allem um Teilhabe an der Staatsgewalt, um ihre wirtschaftlichen In­teressen rechtlich und politisch abzusichern.[13] Simultan entwickelte sich, forciert durch die vermehrte Verbreitung gedruckter Medien, eine autonome Öffentlichkeit mit eigener Mei­nung. Außerhalb der Kanäle des politischen und des privaten Umfeldes bildete sich ein durch öffentliche Debatten geformter neuer öffentlicher Raum heraus. Die sich selbst regu­lierende Ökonomie sowie diese neue Öffentlichkeit verliehen der Gesellschaft eine eigene Identität, die sich zwar außerhalb der politischen Dimension befand, sich aber auf diese be­zog.[14] Erst mit der Wiederherstellung der Monarchien und der Konzentration der Herrscher­gewalt in den Händen eines absolutistischen Herrschers erschien zudem die Gegenüber­stellung von Staat und Gesellschaft sinnvoll. Im Zuge dessen fungierte der Begriff der Zivil­gesellschaft zunehmend als Leitbegriff anti-absolutistischer Lehren, charakterisiert sowohl durch traditionskritische als auch normativ-utopische Attribute.[15]

Im 18. und 19. Jahrhundert sind drei Hauptpositionen hinsichtlich der Begriffsinterpretation der Zivilgesellschaft erkennbar. In der ersten unterscheidet John Locke, der Vater des politi­schen Liberalismus, zwischen dem Naturzustand, einer vorpolitischen Gemeinschaft, und der Zivilgesellschaft, die aus dem Zusammenschluss der einzelnen Individuen in einem Ge­sellschaftsvertrag hervorgegangen ist. Die Regierung steht in einer „treuhänderischen Be- Ziehung“[16] zur Gesellschaft, indem sie nur dann legitim ist, wenn sie im Dienste der Gesell­schaft handelt. Auch wenn Locke den Begriff der Zivilgesellschaft noch bedeutungsgleich mit dem der politischen Gesellschaft gebraucht, bereitet er dennoch der zukünftigen Dicho­tomie von Gesellschaft und Staat den Boden. Seine Kritik am Absolutismus leitet er aus der Prämisse einer vorpolitischen Identität der Gesellschaft ab, welche dem Handlungsmonopol der Regierung rechtliche Grenzen auferlegt. Ausgestattet mit natürlichen, vom Staat unab­hängigen Rechten bildet die Gesellschaft einen eigenen sozialen Schwerpunkt außerhalb der politischen Realität. Locke hebt somit die protektive Funktion einer sich speziell im öko­nomischen Sinne selbst organisierenden Gesellschaft gegenüber dem Staat hervor. Seine Konzeption übte unter anderem großen Einfluss auf Thomas Paine sowie die Denker der schottischen Moralphilosophie wie Adam Smith, David Hume und Adam Ferguson aus.[17]

Eine gleichfalls gegen den absolutistischen Staat gerichtete Auffassung von Zivilgesellschaft formulierte Baron de Montesquieu. Im Gegensatz zu Locke fokussierte er nicht die Autono­mie der Gesellschaft gegenüber dem Staat, sondern die Zivilgesellschaft als integrativen Be­standteil des politischen Systems und Summe der intermediären Instanzen, die zwischen unpolitischer und politischer Sphäre vermitteln. In Montesquieus System der Gewaltentren­nung und -verschränkung kommt den rechtlich geschützten, aber von staatlichen Stellen un­abhängigen Assoziationen die Aufgabe zu, die Herrschaft der Gesetze und damit die gesell­schaftliche Freiheit dauerhaft zu sichern. Zwar geht Montesquieu immer noch von der anti­ken Identität von Gesellschaft und Staat aus, verleiht aber der Gesellschaft als Vermittlungs­instanz zwischen der Zentralgewalt und den Gesetzen dennoch ein eigenes Schwerge­wicht.[18] Der in der republikanischen Tradition Montesquieus stehende Alexis de Tocqueville greift die von Montesquieu erörterte Vermittlungsfunktion gesellschaftlicher Assoziationen auf und attestiert diesen zusätzlich normatives und politisch-partizipatorisches Potential, welches grundlegend für die Stärkung der Demokratie und die Immunisierung der Gesell­schaft gegen jegliche Form des Despotismus ist. Kommunale Selbstverwaltung und ein frei­es, gedeihendes Assoziationswesen sind Tocqueville zufolge Schulen der Demokratie, not­wendig für die Wertebildung und Werteverankerung demokratischer Bürgertugenden. Das Netzwerk intermediärer Organisationen stellt gleichzeitig die Rekrutierungsbasis der zukünf­tigen demokratischen Elite dar.[19]

Im 19. Jahrhundert war Hegel dann der Erste, der die klassische Trennung von Staat und Gesellschaft aufhob und durch die Trias Familie, Bürgerliche Gesellschaft und Staat ersetz­te. Indem Hegel die politische Sphäre des Staates von der nunmehr bürgerlichen Gesell­schaft trennt, wird die bürgerliche Gesellschaft zwar auf eine sozial-ökonomische Sphäre zu­rückverwiesen, gewinnt aber durch ihre Abgrenzung zum politisch absoluten Staat einen ei­genen, nämlich bürgerlichen Schwerpunkt.[20] Der Bürger wird nun vor allem als Bourgeois begriffen, derseine eigenen Bedürfnisse innerhalb eines Systems derarbeitsteiligen und un­regulierten Wirtschaft zu befriedigen sucht. Dennoch glaubt Hegel nicht ohne Einschränkung an die wohltuende Wirkung einer deregulierten Wirtschaft, sondern befürchtet die massen­hafte Verarmung.[21] Dieser Einsicht folgend kombiniert Hegel Elemente der Ansätze von Lo­cke und Montesquieu und setzt der modernen, deregulierten und fragmentierten Gesell­schaft vergemeinschaftende, intermediäre Elemente entgegen, zum einen die Polizei als staatliche Verwaltung, zum anderen die Korporationen als aus der Gesellschaft hervorge­hende intermediäre Assoziationen.[22] Sie integrieren die bürgerliche Gesellschaft politisch in den Staat und helfen, dieselbige sittlich zusammenzuhalten.[23] Mit der konzeptionellen Tren­nung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft reflektiert Hegel einerseits die neue Rolle ei­ner sozioökonomisch strukturierten Gesellschaft, anderseits das wechselseitige, sich gegen­seitig bedingende Verhältnis von Staat und Gesellschaft.

Von Hegel beeinflusst, deutet auch Karl Marx das Entstehen einer modernen Gesellschaft und Wirtschaft an, reduziert aber den durch Hegel geprägten Begriff der bürgerlichen Ge­sellschaft auf eine kapitalistische Klassengesellschaft. Der Staat ist vor diesem Hintergrund nichts anderes als die organisierte Macht der Bourgeois und übernimmt somit die Rolle der politischen Gesellschaft der Zivilgesellschaft. Marx stellt auf diese Weise begriffsgeschicht­lich die Identität von Staat, als der politische Ausdruck der Zivilgesellschaft (Überbau), und Zivilgesellschaft (Basis) wieder her.[24]

Marx Verkürzung von Hegels Begriff der Zivilgesellschaft hat gleichsam dazu beigetragen, dass der Begriff im Westen lange Zeit negativ konnotiert war.

2.3 Der Begriff der Zivilgesellschaft im aktuellen Diskurs

Die negative Konnotation des Begriffs Zivilgesellschaft (bzw. bürgerliche Gesellschaft) be­wirkte, dass der Begriff Zivilgesellschaft lange Zeit keine Rolle mehr spielte. Erst mit dem Auftreten zivilgesellschaftlicher Oppositionsbewegungen in Ostmitteleuropa gegen Ende der siebziger Jahre wurde Zivilgesellschaft erneut sowohl als politischer Programmbegriff ge­deutet als auch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.

Die Wiedergeburt der Zivilgesellschaft in Osteuropa sowie die friedlichen Revolutionen von 1989 inspirierten darüber hinaus die Zivilgesellschaftsdebatte im Westen. Die gegenwärtige Hochkonjunktur des Begriffs ist gleichzeitig Ausdruck eines tiefgreifenden Utopieverlusts nach dem Zusammenbruch des Kommunismus als einzige Systemalternative zur liberalen Demokratie.[25] Während in Osteuropa hauptsächlich die Trennung von Zivilgesellschaft und

Staat thematisiert wurde, ist das Konzept der Zivilgesellschaft in der aktuellen westlichen Diskussion vor allem Mittel der Kritik an der westlichen Ausprägung der Demokratie. Erst­mals wurde das Augenmerk auf systemimmanente Probleme westlicher Demokratien ge­richtet: auf die zunehmende Überforderung des Sozialstaates, die Legitimitätsprobleme des politischen Systems, die korporative Abdichtung der öffentlichen Sphäre, die Defragmentie- rung und Anonymisierung der Gesellschaft, den Rückzug des Bürgers aus der Politik sowie die zügellose Globalisierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems.[26]

Angesichts dieser gesellschaftlich-politischen Probleme beinhaltet der Diskurs über Zivilge­sellschaft vor allem einen Demokratisierungsanspruch, der seinen Ausdruck in einer bürger­schaftszentrierten Politik findet. Die Zivilgesellschaft, welche sich als „Reflexionsbegriff der liberalen Demokratien“[27] erweist, soll Wege und Möglichkeiten aufzeigen, die zu einer Stär­kung der bestehenden Demokratien führen, ohnejedoch die Freiheitsräume individueller Au­tonomie aufs Spiel zu setzen.[28] Der westliche Zivilgesellschaftsdiskurs bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen liberalen und republikanischen Demokratietheorien und bemüht sich daher, Fragen der bürgerschaftlichen Partizipation und politischen Kultur mit Fragen der institutionellen Verfasstheit repräsentativer Demokratien zu verknüpfen. Zivilgesellschaft wird hier als ein Gefüge von Öffentlichkeiten und Assoziationen verstanden, das einen Bei­trag zur politischen Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft leisten kann. Sie ist einer­seits Ort politischer Lernprozesse, andererseits Voraussetzung einer Demokratisierung und gesellschaftlichen Öffnung der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung.[29] Im Rahmen dieses Grundkonsenses gibt es dennoch verschiedene Positionen, von denen drei vorgestellt werden sollen.

Der Liberalismus, der in der Tradition Lockes steht, basiert auf dem Wert der autonomen Selbstbestimmung des Individuums, das seine Interessen im Rahmen einer kapitalistischen Marktwirtschaft zu maximieren sucht. Der Staat ist Garant negativer Freiheiten und ist kon­zeptionell von der Gesellschaft getrennt, wodurch ein Raum des Privaten geschaffen wird, in dem der Bürger von der Sorge um das politische Gemeinwesen zunächst entlastet ist. Markt, rechtsstaatlicher Konstitutionalismus sowie die bürgerliche Öffentlichkeit sichern die­ser Theorie zufolge die Rationalität der Interessenverfolgung und damit langfristig das Wohl­fahrtsniveau der Gesellschaft.[30] Vertreter des neuen Kontraktualismus [31] befreiten den Libe­ralismus von der klassisch-utilitaristischen Konnotation und erkannten an, dass die Garantie negativer Freiheiten noch keine ausreichende Bedingung für eine gerechte Gesellschaft ist.[32] Kernstück einer liberal geprägten Vorstellung von Zivilgesellschaft ist die Existenz auto­nomer, nicht-staatlicher Organisationen, welche die Vielfalt individueller Interessenverfol­gung verkörpern. Die Zivilgesellschaft dient somit eher vorpolitischen, individuellen als kol­lektiven Zwecken, überwacht gleichzeitig aber die Unverletzlichkeit des privaten Freiraums und die Rechtmäßigkeit des Staatshandelns. Die politische Funktion des Bürger beschränkt sich demgemäß auf die kritische Überprüfung des vom Staat gewährten Rechtssystems.[33]

Im Gegensatz zum liberalistischen Diskurs bemüht die republikanische Begriffsverwendung von Zivilgesellschaft die Tugenden des Bürgers und stellt sie in den Mittelpunkt einer poli­tisch gedachten Gesellschaft. Wichtiger als die private Autonomie des Individuums ist die Selbsterhaltung der Gemeinschaft. Im Zentrum republikanischer Theorien steht die positive Freiheit des Bürgers, an politischen Angelegenheiten teilzuhaben. Durch die Fokussierung demokratischer Selbstregierung werden bürgerschaftliches Engagement und Bürgersinn als unerlässliche Größen des politischen Systems thematisiert. Die Neglektion institutioneller und rechtlicher Fixierung von Menschen- und Bürgerrechten birgt allerdings die Gefahr von Illiberalität und Despotismus in sich.[34] Die in den siebziger Jahren aufgekommene Kommu- nitarismusdebatte [35] stellt den abstrakten Gerechtigkeitsprinzipien und Prozeduren politischer Willensbildung einer liberalen Demokratie eine durch Werte des guten Lebens integrierte Zi­vilgesellschaft entgegen, die der Reproduktion gesellschaftlich zentraler Werte und staats­bürgerlicherTugenden im Sinne Tocquevilles dient. Eine solche Zivilgesellschaft vermag ge­sellschaftliche Konflikte zu überbrücken sowie Sozialkapital und Vertrauen in einer fragmen­tierten Gesellschaft aufzubauen.[36] Zunehmend wird jedoch auch unter den Vertretern des Kommunitarismus die Ansicht vertreten, dass der Kommunitarismus eher eine notwendige Ergänzung des Liberalismus darstellt. Charles Taylor wie auch Michael Walzer haben je­weils die Eindimensionalität beider Konzepte kritisiert und eine Verschränkung der Errun­genschaften des liberalen Rechtsstaates und einer republikanisch gearteten Zivilgesellschaft gefordert.[37]

Anhänger der deliberativen Demokratie [38] vertreten die Ansicht, dass das liberale System subjektiver Rechte und die kommunitaristisch-republikanische Idee der Volkssouveränität sich gegenseitig voraussetzen. Indem Bürger im Liberalismus nur als Adressaten und nicht als Autoren betrachtet werden, ist das Recht der autonomen Selbstbestimmung gefährdet und muss durch die republikanische Idee der Bürgerpartizipation erweitert werden.[39] Die De- liberalisten betonen den moralischen Universalismus und die kognitive Rationalität delibera- tiver Öffentlichkeiten, durch die die Zivilgesellschaft zum Rückhalt und Korrektiv demokrati­scher Systeme wird. Zivilgesellschaft ist somit ein Raum der Kommunikation, in dem auch im politischen Prozess schwer organisierbare gesellschaftliche Anliegen die Möglichkeit ha­ben, sich öffentlich zu gruppieren und zu artikulieren. Die Institutionen und gewählten Akteu­re des politischen Systems stehen weiterhin im Zentrum des politischen Geschehens. Der Zivilgesellschaft obliegt es, aus ihrer peripheren Position heraus, beratend und kritisierend Einfluss auf die Politik des Staates zu nehmen, aber nur innerhalb der institutionellen und rechtlichen Vorgaben. Sie ist somit ein tendenziell vorpolitischer Raum der Kommunikation, die in unseren komplex organisierten Gesellschaften nur für einen Teil des politischen Pro­zesses zuständig ist.[40]

2.4 Fazit

Der kurz dargestellte, diachrone Überblick über die Begriffsgeschichte der Zivilgesellschaft bestätigt, dass dieser Begriff vielfältige Bedeutungsgehalte aufweist, die eine allgemeingülti­ge Definition erschweren. Trotz der semantischen Breite des Begriffs, dessen Inhalt sich im­mer wieder dem Wandel der soziopolitischen Umwelt anpasste, sind einige Grundcharakte­ristika erkennbar.

Kocka konzeptualisiert Zivilgesellschaft auf drei Ebenen: auf einer bereichslogischen und ei­ner handlungslogischen Ebene sowie als demokratietheoretischer Entwurf mit utopischen Zügen.[41] Zu Beginn war die Zivilgesellschaft ein Synonym für die gesamte Gesellschaft und gleichbedeutend mit ihrer politischen Organisation. Erst infolge des Aufkommens von Ge­sellschaften mit moderner Ökonomie und autarken Öffentlichkeiten erhielt die Gesellschaft einen eigenen Schwerpunkt, auf den erstmals Hegel hinwies, indem er die bürgerliche Ge­sellschaft vom Bereich des Privaten und des Staates trennte. In der neueren Debatte ist die Zivilgesellschaft obendrein vom Bereich der Wirtschaft geschieden. Auch wenn diese Berei­che nicht immer klar zu trennen sind und die Zivilgesellschaft in einem Wechselverhältnis mit den anderen Bereichen steht, umschreibt der Begriff der Zivilgesellschaft heutzutage meist Bürgerpartizipation in nicht institutionalisierter sowie institutionalisierter Form, vor al­lem durch Vereine und Assoziationen im Sinne Tocquevilles, die sich nicht aus der Logik der anderen Bereiche ableiten lässt. Dabei steht die Zivilgesellschaft in einem ambivalenten Wechselverhältnis zum Staat: Einerseits erweist sie sich als Kooperationspartner, als Ver­mittler zwischen Staat und Gesellschaft (Montesquieu, Tocqueville, Hegel) und ist auf den Schutz des Staates angewiesen, andererseits steht sie dem Staat als kritisches Korrektiv und Schutzpatron gesellschaftlicher Interessen gegenüber (Locke).

Als Typus des sozialen Handelns werden der Zivilgesellschaft verschiedene Eigenschaften zugeordnet. Im Kern geht es meist um Handeln im öffentlichen Raum, das durch Selbstorga­nisation von Individuen und Gruppen, Ausrichtung am allgemeinen Wohl, Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit gekennzeichnet ist sowie fernerhin die Verschiedenartigkeit von gesell­schaftlichen Interessen anerkennt und zwischen diesen vermittelt. Zivilgesellschaft kann folglich ein Raum sein, in dem gesellschaftliche Interessen öffentlich kommuniziert (Haber- mas) und den staatlichen Institutionen übermittelt (Montesquieu) werden. Durch die Ausrich­tung am öffentlichen Leben und die Betonung bürgerschaftlicher Partizipation reproduziert die Zivilgesellschaft außerdem demokratiestützende Tugenden und Werte und verleiht ei­nem demokratischen System daher Stabilität (Tocqueville).

Nicht zuletzt verdeutlicht die Begriffsgeschichte, dass Zivilgesellschaft nicht selten ein uto­pisch-normativ konnotiertes Projekt mit uneingelösten Versprechungen war. Es fungierte oft­mals als ein positiv aufgeladener Zukunftsentwurf, der die gegenwärtige soziopolitische Si­tuation kritisierte.[42] In diesem Zusammenhang wurde Zivilgesellschaft häufig als ein Instru­ment zur Verwirklichung bzw. Vertiefung demokratischer Gesellschaftsformen betrachtet. Als Bestandteil politischer Programmatik und zukunftsträchtiger Entwürfe war der Begriff also nicht nur Indikator, sondern auch Faktor des soziopolitischen Wandels. Kocka betont, dass Zivilgesellschaft niemals rein deskriptiv ist, sondern immer normative Züge trägt, daher nicht ganz identisch mit den real existierenden Gesellschaften ist.[43]

Diese aus der Begriffsgeschichte abstrahierten Charakteristika der Zivilgesellschaft sind in ihrer spezifischen Gewichtung selbstverständlich abhängig von der gegebenen historischen Situation, den soziopolitischen Bedingungen und dem Regimekontext. Überdies stehen sie in Korrelation mit dem vorherrschenden Demokratieverständnis.

3 Die Zivilgesellschaft in der Tschechoslowakei vor 1989

3.1 Zivilgesellschaftliche Entwicklungen bis 1968

Das Konzept von Zivilgesellschaft, das in der Tschechoslowakei vor 1989 entsteht, geht aus den Gegebenheiten des soziopolitischen Kontextes hervor und rekurriert auf demokratische Erfahrungen aus der Vorkriegszeit. Daher erscheint eine historische Einleitung sinnvoll. Strukturen der Zivilgesellschaft entwickelten sich auf dem Gebiet der heutigen Tschechi­schen Republik in ähnlicherWeise wie in westlichen Regionen. Erst im 19. Jahrhundert wur­de die Zivilgesellschaft ideengeschichtlich als eigenständig abgegrenzte Sphäre zum Staat begriffen.[44] In Böhmen und Mähren lassen sich jedoch einige Unterschiede feststellen. In Westeuropa vollzog sich das Entstehen zivilgesellschaftlicher Strukturen oftmals im Rahmen eines ethnisch homogen geprägten Nationalstaates und war untrennbar mit dem Bürgertum verbunden. In Böhmen und Mähren entwickelten sich diese Strukturen vor dem Hintergrund von Fremdherrschaft und einem Konglomerat verschiedenster Ethnien vereint in einem Viel­völkerstaat.[45] Die Bedingungen für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen waren dabei in Böhmen und Mähren vergleichsweise günstig, da das ökonomische wie auch kultu­relle Entwicklungsniveau relativ hoch war, und die Habsburger Monarchie den Tschechen einen relativ großen politischen und kulturellen Spielraum gewährte.[46] Symptomatisch für jene Periode war, dass die Deutschböhmen die kulturelle Elite, die Tschechen jedoch das „Bauernvolk“ repräsentierten, so dass, im Zuge der tschechischen nationalen Wiedergeburt, die modernen sozialen und politischen Strukturen hauptsächlich von unten, als Gegensatz zur politischen Macht erwuchsen.[47]

Die zivilgesellschaftliche Entwicklung wurde mit der Gründung der ersten Tschechoslowaki­schen Republik nach dem 1. Weltkrieg nicht unterbrochen. Mit der Einführung der republika­nischen Staatsform und einer politischen Kultur, die in hohem Maße demokratisch und zivil war, entwickelte sich der zivilgesellschaftliche Sektor ungebremst. Die Erste Republik und die demokratietheoretischen Vorstellungen des Präsidenten Masaryks trugen zur Veranke­rung republikanisch-demokratischen Gedankenguts in der Bevölkerung bei und waren eine wichtige Grundlage für das Entstehen einer demokratisch gesinnten Opposition während des Kommunismus.[48] Der Entwicklung der Demokratie und der Zivilgesellschaft wurde mit derAnnexion durch das Dritte Reich ein jähes Ende bereitet.

Die kommunistische Machtübernahme nach dem Zweiten Weltkrieg verlief in der Tschecho­slowakei relativ unspektakulär. Eine Regierungskrise ausnutzend, eroberten die Kommunis­ten im Jahre 1948 die staatliche Macht (Februarcoup) und führten in den nächsten Jahren ein verschärftes kommunistisches Programm durch: Abschaffung des Pluralismus, Verstaat­lichung der Industrie und des Handels sowie die komplette Einbindung des Landes in die so­wjetische Blockpolitik, Kollektivierung der Landwirtschaft, Unterdrückung der katholischen Kirche und Säuberung der Armee und Verwaltung von subversiven Elementen. Innerhalb kürzester Zeit wurde aus dem einstmals freiem Land eine rigide Diktatur, die im Vergleich zu den Nachbarstaaten „nicht einmal rudimentäre Ansätze eines gesellschaftlichen Pluralismus mit 'von unten' entstandenen Organisationen [hatte], die sich gegen oder auch nur unab­hängig von dem vom Staat kontrollierten Strukturen entwickeln konnten“[49].[50] Mit der rasant um sich greifenden Wirtschaftskrise Anfang der sechziger Jahre wurden Unzufriedenheit und Reformforderungen jedoch immer lauter. Als der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Antonín Novotný dem Liberalisierungsdruck nicht mehr gerecht werden konnte, wurde er durch den slowakischen Politiker Alexander Dubček abgelöst. Die daraufhin eingeleiteten wirtschaftlichen Reformen hin zu einer sozialistischen Marktwirtschaft, die Abschaffung der Pressezensur sowie die weitgehende kulturelle Liberalisierung schufen ein Klima des Auf­bruchs - den Prager Frühling. Hoffnungen auf einen dritten Weg, auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, auf eine Reformierung der Partei von oben keimten auf. Die Sowjetu­nion sowie die Staatsführungen der kommunistischen Nachbarländer sahen im Prager Früh­ling eine Bedrohung für ihre eigene Machtbasis, weshalb am 20. August 1968 in Prag Trup­pen des Warschauer Pakts einmarschierten. Dubček wurde seines Amtes enthoben und aus der Partei ausgeschlossen. Der Eiserne Vorhang verdichtete sich.[51]

Dubčeks Nachfolger Gustáv Husák leitete eine Zeit der Normalisierung ein, die charakteri­siertwar durch bescheidenen, aber kontinuierlichen Konsumzuwachs bei gleichzeitiger Tole­rierung einer unpolitischen Privatsphäre. Im Gegensatz zu Ungarn und Polen war der politi­sche Kurs ausgesprochen konservativ und repressiv, die Westöffnung wesentlich geringer.[52] Dem enthusiastischen Gefühl des Prager Frühlings folgte eine Zeit der tiefen gesellschaftli­chen Frustration und Depression, eine „Ära derApathie und umfangreichen Demoralisierung [...], die Ära der grauen, totalitär-konsumorientierten Alltäglichkeit“[53]. Die Zeit der Normalisie­rung wird oftmals mit einem Gesellschaftsvertrag zwischen Herrschern und Beherrschten verglichen: Der Staat sichert den Bürgern ein gewisses Maß an Privatsphäre sowie ein ak­zeptables materielles Auskommen zu, und im Gegenzug enthalten diese sich jeglicher Form des politischen Einmischens.[54] Obwohl diese Vertragstheorie unangemessen ist, da es sich gerade nicht um eine freiwillige Übereinkunft zwischen Staat und Gesellschaft handelte, spiegelt sie dennoch eine von der Partei gewollte und geförderte Entideologisierung und Entpolitisierung der Bevölkerung wider.[55] In diese Zeit der Zuspitzung der „sozialen Schizo- phrenie“[56] fällt auch die Gründung der Charta 77 im Jahr 1977, deren erster Sprecher, ge­meinsam mit Jirí Hájek und Jan Patocka[57], Václav Havel wurde.

3.2 Das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft im Realsozialismus

In der ČSSR wurde der sozialistische, als totalitär empfundene Staat zum Bezugspunkt jed­weder Kritik und zum antagonistischen Gegenentwurf der Zivilgesellschaft. Daher ist es not­wendig, den realsozialistischen Staates näher zu charakterisieren. Der Staat im Realsozia­lismus war ein ideologisch untermauerter Einparteienstaat, der unter Berufung auf die mar­xistisch-leninistische Ideologie das Machtmonopol über gesamtgesellschaftliche Steue­rungsprozesse für sich beanspruchte. Gemäß ideologischer Vorgaben ist der marxistisch-le­ninistische Staat ein aus dem Klassenkampf hervorgegangenes Steuerungselement der Ar­beiterklasse, dessen Aufgabe es ist, den Prozess der Enteignung der Produktionsmittel durchzusetzen sowie den Prozess der Produktion zu überwachen. Dabei hat er jedoch nur transitorischen Charakter und stirbt nach Erfüllung seiner Aufgabe ab. Eine klassenlose und deswegen freie Gesellschaft entsteht.[58]

Der Ideologie zuwider ereignete sich in den sozialistischen Ländern jedoch das Gegenteil. Die für die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft notwendige straffe Organisation so­wie die Niederstreckung politischer Gegner machten einen starken, zentral gelenkten Staat erforderlich, der im Rahmen des so genannten Demokratischen Zentralismus immer mehr Machtfülle in den Händen der aufgeblähten Parteibürokratie konzentrierte. Um die Macht langfristig in den Kreisen der Staatspartei zu sichern, wurde das Kaderprinzip eingeführt. Die kommunistischen Kader ließen eine neue Klasse der Herrscher entstehen und bildeten eine geschlossene Gesellschaft, die gesellschaftlichen Innovationen und Initiativen feindlich ge­genüber stand.[59] Der realsozialistische Staat war vom „Absterben“ weit entfernt.

[...]


[1] KLEIN 2001,S.26.

[2] Vgl. BEYME 1994, S. 100.

[3] TAYLOR 1991,S.52.

[4] Vgl. KOSELLECK 1979, S. 9, 24ff.; KOSELLECK 1972, S. 13ff.; SCHULTZ 1979, S. 44-47; BÖDEKER 2002, S. 119; LÜB­BE 1975, S. 13f.

[5] KOSELLECK 1972, S.22.

[6] Vgl. KOSELLECK 1979, S. 27ff.; SCHULTZ 1979, S. 45.

[7] Vgl. KOSELLECK 1972, S. 15-18.

[8] Vgl. KLEIN 2001, S. 20-24.

[9] Vgl. zu Aristoteles: RIEDEL 1969, S. 143f., THAA1996, S. 174.

[10] Vgl. KOSELLECK 1991, S. 118f.; KOCKA o.J.: http://www.kuwi.euv-frankfurt-o.de/~w3pus/doc/Zivilgesellschaft.doc. 31.5.2007.

[11] Vgl. KOSELLECK 1991, S. 120.

[12] Vgl. KOSELLECK 1991, S. 120f.; TAYLOR 1991, S. 61ff.

[13] Vgl. KOSELLECK 1991, S. 119-123.

[14] Vgl. TAYLOR 1991, S. 69ff.

[15] Vgl. TAYLOR 1991, S. 64; LEE 1994, S. 77; BEYME 2000, S. 55; KOCKAo.J.: http://www.kuwi.euv-frankfurt- o.de/~w3pus/doc/Zivilgesellschaft.doc. 31.5.2007.

[16] TAYLOR 1991,S.65.

[17] Vgl. zu John Locke TAYLOR1991, S. 64-67; KOSELLECK 1991, S. 119; BEYME 2000, S. 52f.; MERKEL 2000, S. 11;

LOHMANN 2003, S. 14; FREISE 2004; S. 46.

[18] Vgl. zu Montesquieu TAYLOR 1991, S. 65ff.; LOHMANN 2003, S. 14; FREISE 2004, S. 46f.; MERKEL 2000, S. 12.

[19] Vgl. zu Tocqueville THAA 1996, S. 187; REICHARDT 2004, S. 38; FREISE 2004, S. 47; LOHMANN 2003, S. 14; MERKEL

2000, S. 12.

[20] Vgl. RIEDEL 1969, S. 139-147; BEYME 2000, S. 56.

[21] Vgl. HEGEL 1967, §245, S. 201f.

[22] Vgl. HEGEL 1967, §188, S. 169; HORSTMANN 1997, S. 209-215.

[23] Vgl. HEGEL 1967, §230-259, S. 195-213; HORSTMANN 1997, S. 209; RIEDEL 1969, S. 163f.; TAYLOR 1991, S. 77.

[24] Vgl. LEE 1994, S. 88-91; THAA1996, S. 175; REICHARDT 2004, S. 40.

[25] Vgl. KLEIN 2001, S. 26; FREISE 2004, S. 49.

[26] Vgl. BRINK 1995, S. 9; KOCKA 2000, S. 19; KLEIN 2001, S. 27ff.; FREISE 2004, S. 49ff.; RITTER 2004, S. 1362; KOCKA o.J.: http://www.kuwi.euv-frankfurt-o.de/~w3pus/doc/Zivilgesellschaft.doc. 31.5.2007.

[27] KLEIN 2001,S.26.

[28] Vgl. KLEIN 2001, S. 28f. und 378; RITTER 2004, S. 1362.

[29] Vgl. KLEIN 2001, S. 270 ,S.311 und 380.

[30] Vgl. BRINK 1995, S. 8; KLEIN 2001, S. 274-284.

[31] Vertreter u.a. John Rawls

[32] Vgl. BRINK 1995, S. 12-15.

[33] Vgl. BRINK 1995, S. 15; REICHARDT 2004, S. 44.

[34] Vgl. KLEIN 2001, S. 274, 282-285.

[35] Vertreter u.a. Michael J. Sandel, Charles Taylor, Benjamin R. Barber

[36] Vgl. BRINK 1995, S. 15ff.; MERKEL 2000, S. 13; REICHARDT 2004, S. 43.

[37] Vgl. die Aufsätze von TAYLOR 1991, S. 52-84; TAYLOR 1995, S. 73-106 und WALZER 1995, S. 44-72.

[38] Vertreter u.a. Jürgen Habermas

[39] Vgl. BRINK 1995, S. 19ff.: REICHARDT 2004, S. 46.

[40] Vgl. BRINK 1995, S. 20f.; MERKEL 2000, S. 14; KLEIN 2001, S. 276, 314, 380; REICHARDT 2004, S. 45f.; RITTER 2004, S. 1362; FREISE 2004, S. 47

[41] KOCKA Q.J.: http://www.kuwi.euv-frankfurt-o.de/~w3pus/doc/Zivilgesellschaft.doc. 31.5.2007.

[42] z.B. die absolutistischen Monarchien

[43] Vgl. KOCKA o.J.: http://www.kuwi.euv-frankfurt-o.de/~w3pus/doc/Zivilgesellschaft.doc. 31.5.2007.

[44] Vgl. FREISE 2004, S. 73f.; REICHARDT 2004, S. 38.

[45] Vgl. FREISE 2004, S. 74; REICHART 2004, S. 38.

[46] Vgl. FREISE 2004, S. 75; KŔEN 2000, S. 179ff.

[47] Vgl.KŔEN 2000, S.179f.

[48] Vgl. KŔEN 2000, S. 180-184, 194f.; FREISE 2004, S. 76; REICHARDT 2004, S. 39.

[49] MANSFELDOVA/SZÀBO 2000, S. 97.

[50] Vgl. JUCHLER 1994, S. 317; SEGERT 2002, S. 14ff.

[51] Vgl. JUCHLER 1994, S. 318; SEGERT 2002, S. 16f.

[52] Vgl. JUCHLER 1994, S. 319.

[53] HAVEL 1990, S.145.

[54] Vgl. BUGAJSKI 1987, S. 5f.; THAA 1996, S. 154.

[55] Vgl. SCHMIDT 2001, S. 91.

[56] THAA2004, S.202.

[57] Jan Patocka war einer der bedeutendsten tschechischen Philosophen, dessen Philosophie wesentlichen Einfluss auf Václav Havel hatte.

[58] Vgl.LEE 1994, S.59-65.

[59] Vgl.LEE 1994, S.66-74.

Ende der Leseprobe aus 63 Seiten

Details

Titel
Die begriffsgeschichtliche Entwicklung der Zivilgesellschaft in der Tschechischen Republik
Hochschule
Universität Regensburg
Autor
Jahr
2007
Seiten
63
Katalognummer
V143468
ISBN (eBook)
9783668014282
ISBN (Buch)
9783668014299
Dateigröße
693 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
entwicklung, zivilgesellschaft, tschechischen, republik
Arbeit zitieren
M.A. Anett Browarzik (Autor:in), 2007, Die begriffsgeschichtliche Entwicklung der Zivilgesellschaft in der Tschechischen Republik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143468

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