Du sollst nicht lügen - Eine empirische Studie zum Umgang mit Geheimnis und Lüge


Examensarbeit, 2009

169 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG
1.1 ZIEL DER ARBEIT
1.2 VORGEHEN

2. EXKURS: ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGIE
2.1 ENTWICKLUNG DER LÜGEN-DEFINITION
2.2 ENTWICKLUNG DER LÜGEN-BEWERTUNG
2.3 ENTWICKLUNG DER LÜGEN-MOTIVE
2.4 ENTWICKLUNG DER LÜGEN-FERTIGKEIT

3. DEFINITION DER LÜGE
3.1 VERSCHIEDENE DEFINITIONSVORSCHLÄGE
3.1.1 DER MORALISCHE ASPEKT: NEGATIVE WERTUNG VS. NEUTRALE WERTUNG
3.1.2 DAS PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHE MODELL: WAHRHEITSBEGRIFF VS. LÜGENBEGRIFF
3.2 ARBEITSDEFINITION
3.3 VERWANDTE PHÄNOMENE
3.3.1 VERSTELLUNG
3.3.2 KLATSCH
3.3.3 IRONIE
3.3.4 IRRTUM
3.3.5 SELBST- TÄUSCHUNG

4. MOTIVE DES LÜGENS
4.1 SENDER-ORIENTIERTE MOTIVE
4.2 EMPFÄNGER-ORIENTIERTE MOTIVE
4.3 BEZIEHUNGSORIENTIERTE MOTIVE

5. TECHNIKEN DES LÜGENS
5.1 ABLENKEN
5.2 ERFINDEN UND VERFÄLSCHEN
5.3 ÜBER- UND UNTERTREIBEN
5.4 VERHEIMLICHEN
5.4.1 WAS SIND GEHEIMNISSE?
5.4.2 GESCHICHTEN ÜBER GEHEIMNISSE
5.4.3 ARTEN UND MERKMALE VON GEHEIMNISSEN
5.4.3.1 Formen von Geheimhaltung nach van Manen/ Levering
5.4.3.1.1 Existentielle Geheimnisse
5.4.3.1.2 Kommunikative Geheimnisse
5.4.3.1.3 Persönliche Geheimnisse
5.4.3.2 Formen von Geheimhaltung nach Bellebaum
5.4.3.2.1 Behütete und offene Geheimnisse
5.4.3.2.2 Anvertraute und freie Geheimnisse
5.4.3.2.3 Einzel- und Gruppengeheimnisse
5.4.3.2.4 Einfache und reflexive Geheimnisse
5.4.4 WIE UND WO ERFÄHRT MAN GEHEIMNISSE?
5.4.4.1 Geheime Orte
5.4.4.2 Geheimnisinhalte
5.4.5 DIE MORALISCHE QUALITÄT VON GEHEIMNISSEN
5.4.5.1 Gute Geheimnisse
5.4.5.2 Schlechte Geheimnisse
5.4.6 GEHEIMNISSE UND IHRE EMOTIONALEN KORRELATE
5.4.6.1 Schuld
5.4.6.2 Scham
5.4.6.3 Verlegenheit
5.4.7 PRIVATHEIT UND GEHEIMNISSE
5.4.7.1 Begriffliche Klärung von Privatheit nach Rössler
5.4.7.1.1 Dezisionale Privatheit
5.4.7.1.2 Informationelle Privatheit
5.4.7.1.3 Lokale Privatheit
5.4.7.2 Geheimnisse als Unterkategorie von Privatheit
5.4.7.3 Privatheit am Beispiel STUDI-VZ
5.4.8 VERHEIMLICHEN AUF VERSCHIEDENEN ALTERSSTUFEN
5.4.8.1 Geheimnisse im Kindesalter
5.4.8.1.1 Kognitive Entwicklung: Entwicklungspsychologische und pädagogische Entwicklungsmodelle
5.4.8.1.2 Die Bedeutung von Phantasiewelten und Geheimnissen
5.4.8.2 Geheimnisse im Jugendalter
5.4.8.2.1 Tagebuchschreiben als gesellschaftlich anerkannte und verbreitete Geheimnisform
5.4.8.2.2 Geheimnisse als Freundschaftskriterium
5.4.8.2.3 Geheimnisse vor Eltern/ Erwachsenen
5.4.8.3 Geheimnisse im Erwachsenenalter
5.4.8.3.1 Geheimnisse vor den Kindern
5.4.8.3.1.1 Sexualität als gesellschaftlicher Tabu
5.4.8.3.1.2 Sucht
5.4.8.3.2 Geheimnisse in der Beziehung
5.4.8.3.3 Familiengeheimnisse
5.4.8.3.3.1 Individuelle Geheimnisse
5.4.8.3.3.2 Interne Geheimnisse
5.4.8.3.3.3 Geteilte Familiengeheimnisse
5.4.9 PÄDAGOGISCHER UMGANG MIT GEHEIMNISSEN

6. WARUM LÜGEN KINDER?
6.1 DIE ANGST VOR DER STRAFE
6.2 DER WUNSCH NACH ANERKENNUNG
6.3 VERWECHSLUNG VON PHANTASIE UND REALITÄT
6.4 ÜBERFORDERUNG
6.5 HÖFLICHKEIT ODER RÜCKSICHTSNAHME
6.7 SCHUTZ DER PRIVATSPHÄRE
6.8 MACHT
6.9 EXKURS: NOTLÜGE

7. GLAUBWÜRDIGKEITSURTEIL
7.1 OBJEKTIVE LÜGEN-INDIKATOREN
7.2 ALLTAGSTHEORIEN
7.2.1 SENDER-CHARAKTERISTIKA
7.2.2 BOTSCHAFTS-CHARAKTERISTIKA
7.2.2.1 Soziale Erwünschtheit
7.2.2.2 Plausibilität/ Häufigkeit
7.2.2.3 Emotionalität
7.2.2.4 Intimität
7.2.2.5 Verifizierbarkeit
7.2.3 DETEKTOREN-CHARAKTERISTIKA

8. LÜGEN UND IHRE EMOTIONALEN KORRELATE
8.1 VORAUSSETZUNG: VERTRAUEN
8.2 SCHULDGEFÜHL
8.3 ANGST
8.4 VERGNÜGEN

9. LÜGEN UND INTELLIGENZ

10. LÜGEN AUF VERSCHIEDENEN ALTERSTUFEN
10.1 LÜGEN IM KINDESALTER
10.1.1 ENTWICKLUNG KINDLICHEN DENKENS
10.1.1.1 Kinder als Welteroberer
10.1.1.2 Magisches Denken
10.1.1.3 Allmachtsfantasien und Egozentrik
10.1.1.4 Prälogisches Denken
10.1.1.5 Emotionales Denken
10.1.1.6 Übergang zum operationalen Denken
10.1.1.7 Traumwelt und Realität
10.1.1.8 Entwicklung der Abstraktionsfähigkeit
10.1.2 PERSONENBEZOGENE LÜGEN
10.1.2.1 Lügen unter Kindern
10.1.2.2 Lügen gegenüber Eltern/ Lehrern
10.2 ELTERLICHE LÜGEN
10.2.1 LÜGEN UNTER ERWACHSENEN
10.2.1.1 Lügen in der Beziehung
10.2.1.2 Geschlechtsunterschiede
10.2.2 LÜGEN GEGENÜBER KINDERN
10.3 PÄDAGOGISCHER UMGANG MIT LÜGEN

11. ZWISCHENRESÜMEE

12. DARSTELLUNG DER FORSCHUNGSMETHODE
12.1 QUANTITATIVE UMFRAGE
12.1.1 METHODISCHES VORGEHEN
12.1.2 DARSTELLUNG UND ANALYSE
12.1.2.1 Frage 1
12.1.2.2 Frage 2
12.1.2.3 Frage 3
12.1.2.4 Frage 4
12.1.2.5 Frage 5
12.1.2.6 Frage 6
12.1.2.7 Frage 7
12.1.2.8 Frage 8
12.1.2.9 Frage 9
12.1.2.10 Frage 10
12.1.2.11 Frage 11
12.1.2.12 Frage 12
12.1.2.13 Frage 13
10.1.2.14 Frage 14
12.1.2.15 Frage 15
12.1.2.16 Frage 16
12.1.2.17 Frage 17
12.1.2.18 Frage 18
12.2 QUALITATIVE UMFRAGE
12.2.1 METHODISCHES VORGEHEN
12.2.1.1 Das narrative Interview
12.2.1.1.1 Ablaufmodell des narrativen Interviews
12.2.1.1.2 Grenzen dieser Methode
12.2.1.2 Vorstellung der erhobenen Stichprobe
12.2.2 DARSTELLUNG UND ANALYSE
12.2.2.1 Interview 1
12.2.2.2 Interview 2
12.2.2.3 Interview 3
12.2.2.4 Interview 4
12.2.2.5 Reflexion der Interviews

13. SCHLUSSBETRACHTUNG

14. LITERATUR

1. Einleitung

1.1 Ziel der Arbeit

Du sollst nicht lügen! Ein Gebot, alt und von nahezu allen Menschen gebrochen. Polizeibeamte, Staatsanwälte und Richter müssen täglich unterscheiden: Wer lügt? Und wer sagt die Wahrheit? Aber auch im Alltag, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich, wird tagtäglich viel gelogen, worüber bei allen Wissenschaftlern, die sich mit diesem Thema befassen, wenig Dissens besteht. Von einigen Seiten wird sogar die Vermutung geäußert, dass die Täuschungsbereitschaft mehr und mehr ansteigt. Damit zusammenhängend steigt jedoch kaum die Toleranz gegenüber Täuschungen, sodass der paradoxe Zustand in der Gesellschaft entsteht, in der Lügen einerseits verbreitet sind, andererseits diejenigen, die beim Lügen erwischt werden, mit Sanktionen zu rechnen haben. Lügen gelten im Allgemeinen meist als niederträchtig, oft sogar als schwerer Verrat. Die Tatsache, dass jemand gelogen hat, wiegt in den Augen der anderen häufig schwerer als das Fehlverhalten, dass durch eine Lüge vertuscht werden soll.1 Doch warum haben Lügen einen solch schlechten Ruf? Warum gilt die Unterstellung einer Lüge als schwerwiegender moralischer Vorwurf? Die Antwort scheint einfach: da Vertrauen ein hohes Gut in unserer Gesellschaft darstellt und die Lüge das Vertrauen zwischen Menschen zerstört.2 Die Lüge wird als eine bewusste sprachliche Fälschung von Tatsachen, Emotionen und Meinungen eingesetzt, aber auch zur Unterstützung der reflexiven Geheimhaltung, wenn konkrete Nachforschungen oder unbedarfte Fragen des Ausgeschlossenen eine Reaktion erzwingen, wobei ein Ausweichen zu riskant oder unmöglich erscheint.3 An dieser Stelle wird deutlich, dass Lüge und Geheimnis eng miteinander in Verbindung stehen und nicht immer getrennt von einander betrachtet werden können. So unterscheidet auch Paul Ekman in seinem Buch „Weshalb Lügen kurze Beine haben“ (1989) zwei Arten der Lüge. Einerseits bezeichnet er die Lüge als „Verheimlichung“, wobei sie sich im passiven Verschweigen bestimmter Informationen zeigt; andererseits als „Fälschung“ und somit als die aktive Präsentation falscher Aussagen als wahr. Ziel dieser Arbeit ist es beide Phänomene aufzugreifen, zu analysieren und zu reflektieren. Dabei soll eine von mir durchgeführte Studie einen Einblick in das Lügenverhalten der Kinder, aber auch in das der Erwachsenen geben und etwaige Unterschiede feststellen. Fragen, wie „Wieso lügen Kinder und Erwachsene?“ oder „Wo liegt die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit?“ werden die folgende Arbeit bestimmen. Außerdem soll auf die zentrale Bedeutung des Geheimnisses, sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter, hingewiesen werden. Dabei gehe ich davon aus, dass Geheimnisse eine hohe Bedeutung im Lebensverlauf jedes Individuums haben und Bestandteil aller menschlichen Lebensphasen sind. In diesem Zusammenhang werde ich eine Studie durchführen, die diese These belegen soll. Im Mittelpunkt steht dabei die Beantwortung der Fragen, welcher Art die Geheimnisse der von mir interviewten Personen sind und welche individuelle Bedeutung diese für die Befragten zu diesem Zeitpunkt darstellen. Ebenfalls sollen die Zusammenhänge von Gewissen und Privatheit, als Unterkategorie des Geheimnisses, berücksichtigt werden, wobei ich mich auf die umfassende Studie „Der Wert des Privaten“ (2001) von Beate Rössler beziehen werde. In welchem Zusammenhang stehen Lüge und Geheimnis? Wie bedeutungsvoll sind Geheimnisse tatsächlich im Leben des Menschen?

1.2 Vorgehen

Die vorliegende Arbeit gliedert sich wie folgt:

In Kapitel 2 wird ein Exkurs in die Entwicklungspsychologie herbeigeführt, wobei die Entwicklung der Lügen-Definition, der Lügen-Bewertung, der LügenMotive und der Lügen-Fertigkeit im Mittelpunkt steht.

In Kapitel 3 werden die wesentlichen Begriffe eingeführt, die diese Arbeit bestimmen. Allem voran soll der Begriff der Lüge definiert werden, wobei ihr moralischer Aspekt dem philosophisch-theologischen Modell gegenüber gestellt wird. Nach der Erarbeitung einer Arbeitsdefinition werden die der Lüge verwandten Phänomene Verstellung, Klatsch, Ironie, Irrtum und Selbst- Täuschung erläutert.

Kapitel 4 geht auf die verschiedenen Motive des Lügens ein. Dabei handelt es sich um Motive, die ein Sender bei einer Lüge verfolgt, aber auch um Motive, die den Empfänger und die Beziehung der beiden Kommunikationspartner betreffen.

Kapitel 5 beschreibt die nach Schmid (2000) klassifizierten Techniken des Lügens, wobei besonderes Augenmerk auf das Verheimlichen gelegt wird. Dieser Abschnitt der Arbeit stellt eine Systematisierung des umfangreichen Spektrums der bisher in der Forschungsliteratur behandelten Geheimnisthematik dar. Dafür strukturiere ich Geheimnisse nach Arten und Merkmalen, nach ihren Inhalten, ihrer moralischen Qualität und ihren emotionalen Korrelaten. Ebenso werden Geheimnisse als Unterkategorie von Privatheit behandelt, bevor die zentrale Bedeutung des Geheimnisses im Kindes- und Erwachsenenalter herausgestellt wird.

In Kapitel 6 werden mögliche Gründe aufgezeigt, warum Kinder, aber auch Erwachsene die Lüge oft als letzten Ausweg sehen.

Kapitel 7 beschreibt objektive Lügen-Indikatoren, wozu psychologische Veränderungen, nonverbale, paraverbale, verbale oder inhaltsbezogene Hinweise zählen, die sich beispielsweise in einer erhöhten Atemfrequenz, im Vermeiden von Blickkontakt, durch häufige Versprecher oder in einer geringeren Wortvielfalt äußern. Aber auch Alltagstheorien bezüglich der Wahrhaftigkeit einer Aussage werden Berücksichtigung finden.

In Kapitel 8 wird auf die emotionalen Korrelate, wie Schuldgefühl, Angst und Vergnügen eingegangen.

In Kapitel 9 soll diskutiert werden, ob Lügen und Intelligenz im Zusammenhang stehen und in wieweit sich intelligente Kinder beim Lügen von weniger intelligenten Kindern unterscheiden.

Kapitel 10 beschreibt sowohl Lügen im Kindesalter als auch elterliche Lügen. Wobei im ersten Teil dieses Kapitels auf die Entwicklung kindlichen Denkens eingegangen wird, wird anschließend das wechselseitige Lügenverhalten, aber auch die Lüge unter altersgleichen Kommunikationspartnern, beschrieben.

In Kapitel 11 präsentiere ich den Ertrag meiner bisherigen theoretischen Überlegungen, die für den folgenden empirischen Teil von Bedeutung sind.

Kapitel 12 befasst sich mit dem empirischen Teil dieser Arbeit. Dabei führe ich sowohl eine quantitative Studie als auch eine qualitative Studie durch. Wobei erstere mit Hilfe eines Fragebogens einen Einblick in das Lügenverhalten der Kinder und in das der Erwachsenen geben und etwaige Unterschiede feststellen soll, soll die qualitative Studie meine eingangs aufgestellte Forschungsthese, dass Geheimnisse Bestandteil aller menschlichen Lebensphasen sind, überprüfen und diese verifizieren oder auch falsifizieren. Dabei werde ich mich vorerst mit dem narrativen Interview beschäftigen, bevor ich mit der Darstellung der von mir geführten Interviews beginne, die ich nach einer einleitenden Kurzbiografie in Kindheits-, Jugend- und aktuelle Geheimnisse gliedern und anschließend reflektieren werde.

Kapitel 13 fasst die wichtigsten Ergebnisse des empirischen Teils zusammen.

2. Exkurs: Entwicklungspsychologie

Möchte man pädagogische Maßnahmen zur Vermeidung des Lügens bei Kindern ergreifen, so müssen entwicklungsbedingte Voraussetzungen berücksichtigt werden.

2.1 Entwicklung der Lügen-Definition

Die Unterscheidung zwischen Ironie, Metaphern und scherzhaften Wortspielen stellt hohe Anforderungen an die kindliche Kommunikationskompetenz. Das Kind muss lernen, dass nicht alles, was nicht der Wahrheit entspricht, eine Lüge sein muss.

Dazu hat Piaget (1932) ein dreistufiges Modell entwickelt, welches aufzeigt, wie das Kind die notwendige Differenzierung erlernt. Die erste Definition, die bei Kindern um das 6. Lebensjahr zutrifft, unterscheidet nicht zwischen Lügen und Fluchen. Dabei sieht das Kind beides als Phänomene, die mittels der Sprache begangen werden, jedoch nicht differenziert werden. Auf der nächsten Stufe tritt zur bestehenden Definition das Merkmal der Unwahrheit hinzu. Das Kind versteht, dass es beim Lügen um das Aussprechen von Unwahrheiten geht ohne das Kriterium der Absicht einzubeziehen. Die letzte Stufe, die bei Kindern ab ca. 11 Jahren und bei Erwachsenen zutrifft, bezieht dieses Merkmal mit ein, sodass es sich bei einer Lüge um eine absichtlich falsche Behauptung handelt.4

2.2 Entwicklung der Lügen-Bewertung

Bezieht man sich an dieser Stelle wieder auf Piaget (1932) hat dieser drei Typen von Begründungen beschrieben, warum nicht gelogen werden sollte. Vorerst orientieren sich die Begründungen an den Sanktionen, die verhängt werden. Umso härter das Kind bestraft wird, desto schlimmer war dessen Lüge. Auf der nächsten Stufe kann bei dem Kind auf das Androhen von Sanktionen verzichtet werden, da es den negativen Wert einer Lüge erkannt hat. Auf der höchsten Stufe wird schließlich die Orientierung am Gewissen, an gegenseitigem Respekt und Vertrauen in den Mittelpunkt gerückt. Laut dieser Begründung ist es den Kindern untersagt zu lügen, da es das gegenseitige Vertrauen in einer Beziehung zerstört, andere verletzt und nicht am Wohl der Mehrheit ausgerichtet ist.5

2.3 Entwicklung der Lügen-Motive

Trotz der negativen Wertung einer Lüge haben Ford, King und Hollender (1988) herausgefunden, dass die Lüge im Kindes- und Jugendalter, aber auch im Erwachsenenalter nicht nur negativ besetzt ist, da es sich beispielsweise nicht gehört, Gefühle anderer absichtlich zu verletzen. Ein Motiv zu lügen besteht bei kleinen Kindern beispielsweise schon dann, wenn sie sich für ein Geschenk bedanken müssen, das ihnen nicht gefällt. Das häufigste Motiv einer kindlichen Lüge ist allerdings darauf ausgerichtet, einer Strafe zu entgehen.6 Wie schwer es ist die Konzepte Ehrlichkeit und Höflichkeit miteinander zu verbinden und welche Motive einer Lüge bereits im Kindesalter bestehen, wird im Laufe der Arbeit noch ausführlicher dargestellt.7

2.4 Entwicklung der Lügen-Fertigkeit

Kinder müssen eine Vorstellung von den Erwartungen ihres Gegenübers besitzen, um erfolgreich lügen zu können. Sie müssen einen Perspektivenwechsel vornehmen und sich in den anderen hineinversetzen können. Saarni und Lewis (1993) gehen beispielsweise davon aus, dass das Lügen, um Strafe zu vermeiden, etwa schon im zweiten Lebensjahr einsetzt und im vierten perfektioniert ist. Ebenso berichtet Lewis (1993), dass das Täuschungsverhalten insgesamt während der ersten sechs Lebensjahre stetig ansteigt, wobei intelligentere Kinder häufiger und geschickter täuschen würden.8 Betrachtet man die Mimik und die Gestik des Kindes, so konnten DePaulo und Jordan (1987) herausfinden, dass die Kinder diese zwischen dem fünften und zwölften Lebensjahr zunehmend besser kontrollieren können. Laut DePaulo und Jordan entwickelt sich mit der Fertigkeit zu tuscheln auch die Fertigkeit, Täuschungen zu erkennen.9

3. Definition der Lüge

Am Anfang jeder Arbeit sollte eine Definition desjenigen Phänomens stehen, das Gegenstand der Untersuchungen und Überlegungen sein soll.

3.1 Verschiedene Definitionsvorschläge

3.1.1 Der moralische Aspekt: Negative Wertung vs. Neutrale Wertung

In moralischer Hinsicht können bezüglich negativer vs. neutraler Wertung zwei verschiedene Standpunkte unterschieden werden.

Nach Bok (1978) wird die Lüge als generell negativ und ethisch schlecht bewertet. Sie sei schädlich für die Gesellschaft und kaum zu entschuldigen. Allein die Tatsache, dass die Lüge ein bewusstes und absichtliches Abweichen von der Wahrheit darstellt, mache sie ethisch falsch. In der Terminologie von Nyberg (1993) wird dies als „top-down approach“ bezeichnet; die Lüge stellt somit eine Ausnahme dar, die vor dem Hintergrund der Wahrheit gerechtfertigt werden muss. Als Ausnahmen hinsichtlich dieser rigorosen Meinung gelten sowohl bestimmte Notlügen als auch gewisse pädagogische Lügen, die den Belogenen in seinen Entscheidungen voran bringen. Auch Kant (1797) und Fichte (1798) gelten als Verfechter dieser Haltung.10

Das Gegenmodell, vertreten durch Theologen, wird von Nyberg (1993) als „bottom-up approach“ bezeichnet und beinhaltet vorerst eine neutrale Wertung. Die Lüge wird moralisch immer unter Einbezug der spezifischen Umstände bewertet. So macht Nyberg deutlich, dass das Recht auf die Wahrheit an Person und Ziele des Gegenübers gebunden ist. Hat die andere Person kein Recht auf die Wahrheit, so ist nach diesem Modell die berechtigte List akzeptiert. Was die Schädigung der Sprache anbelangt, so wurde von Meerloo (1978) die These aufgestellt, dass Täuschen und Wahrhaftigsein zur Sprache gehören, wie die beiden Seiten einer Medaille. Sprache habe auch die Funktion, Nähe zu schaffen oder für Distanz zu sorgen.11 Aus diesen beiden Ansätzen ergeben sich einige Konsequenzen für die Definition einer Lüge. Im ersten Ansatz werden Lügen als grundsätzlich verwerflich angesehen, da sie nicht der Wahrheit entsprechen und der eigentlichen Funktion der Sprache widersprechen. Eine erste wichtige Konsequenz für die Lügendefinition besteht somit in der Voraussetzung einer objektiven Wahrheit als Vergleichsmaßstab. Das Motiv der Lüge und deren Folgen spielen bei diesem Ansatz keine Rolle, da gegen das moralische Gut der Wahrheit vorgegangen wird. Ansätze, die Lügen in Ausnahmesituationen genehmigen, müssen bei dieser Definition nach der Absicht des Lügners differenziert werden. Liegt eine positive Absicht beim Lügen vor, so verengt sich die Lügendefinition. Bei dem theologischen Modell gilt dagegen für die Definition, dass weder das Motiv einer Lügenhandlung noch ihre negative Bewertung im Vorhinein festgelegt werden, wobei sich eine eher weitere Definition ergibt.12 Möchte man zu einer psychologisch umfassenden Betrachtung der Lüge gelangen, so ist vermutlich dem theologischen Standpunkt Vorzug zu geben.

3.1.2 Das philosophisch-theologische Modell: Wahrheitsbegriff vs. Lügenbegriff

Da die Lüge als Verletzung der Wahrheit betrachtet wird, stellt sich konsequenterweise vor der Frage nach der Lüge die nach der Wahrheit. Der Wahrheitsbegriff: Betrachtet man den Wahrheitsbegriff genauer, so gibt es einige philosophische Positionen, die die Lüge als Gegenteil der Wahrheit bedingen.

Wenn es keine Wahrheit gibt, existiert auch nicht ihr Gegenteil.

Kann eine eventuell existierende Wahrheit von Menschen nicht objektiv erfahren oder aber sprachlich nicht adäquat ausgedrückt werden, so ist keine Aussage wirklich wahr.

Letztendlich ergibt sich außerdem die Frage, wodurch eine Wahrheit von unterschiedlichen Personen als solche gerechtfertigt wird, beispielsweise durch Logik, empirische Befunde, dem Erfüllen einer Funktion oder vielleicht sogar aufgrund des Erfüllens eines göttlichen Willens.13

Der Lügenbegriff: In der griechischen Philosophie, bei den Vorsokratikern und vor allem bei den Stoikern besteht eine vehemente Ablehnung der Unwahrheit, gleichgültig wie diese zustande kommt. Dabei wird nicht zwischen der Wahrheit und der Lüge differenziert, sondern nur zwischen ganz und gar falsch oder wahr.14

Im Gegensatz dazu beschreibt Augustinus die Lüge als eine Aussage mit dem Ziel, Falsches auszusagen.15 Dies bedeutet, dass eine Lüge erst durch den Umstand der Absichtlichkeit und Subjektivität der Falschheit zu einer solchen wird. Entscheidend ist dabei nicht, ob die Aussage mit der Realität übereinstimmt, sondern, ob sie mit dem übereinstimmt, was die Person denkt. Nach Luther sind dagegen Not- oder Nutzlügen (mendacium officiosum) und Lügen im Scherz (mendacium iocosum) nicht sündhaft. Er vertrat auch den Standpunkt, eine Lüge sei erst dann eine solche, wenn sie bezwecke, dem anderen zu schaden.16

3.2 Arbeitsdefinition

Die folgende Arbeitsdefinition soll dieser Arbeit zugrunde liegen und ist wesentlich breiter als die zuvor geschilderten Definitionen.

Sie macht keine Angaben über den objektiven Wahrheitsgehalt der Information.

Sie liefert keine Prognosen über die tatsächlich eintretende Wirkung (Lügen-Erfolg).

Was die Mittel betrifft, sind sämtliche Zeichen, über deren Bedeutung Übereinkunft besteht, eingeschlossen, somit auch die gesamte Gruppe der nonverbalen Kommunikation.

Um Unklarheiten zu vermeiden, werden Variablen, die im Zusammenhang mit der Lüge untersucht werden können (z.B. die Bewertung der Lüge, die Motive und sprachliche Techniken), ausdrücklich aus der Definition ausgeschlossen.17

Somit bleiben als entscheidende Merkmale für die allgemeine Arbeitsdefinition: die subjektive Unwahrheit, sowie die Absicht und das Ziel einen falschen Glauben zu erzeugen.18

Die folgende Arbeitsdefinition richtet sich im Wesentlichen nach der Definition von Schmid (2000).

Definition: Eine Lüge ist der Ausdruck einer subjektiven Unwahrheit mit dem Ziel und der Intention im Gegenüber einen falschen Eindruck zu schaffen oder aufrechtzuerhalten.

3.3 Verwandte Phänomene

Im Folgenden soll auf einige, mit der Lüge verwandten Phänomene eingegangen werden, wobei diese Formen der Lüge sowie jeglicher künstlerischer Ausdruck aus der Lügendefinition ausgeschlossen werden. Auch der Begriff der Selbst- Täuschung mit seinen Folgen findet ansonsten an keiner anderen Stelle der Arbeit Beachtung und wird aus diesem Grund aus der Arbeitsdefinition ausgeschlossen. Ebenso werden ritualisierte Höflichkeitsnormen aus der Definition ausgeschlossen.

3.3.1 Verstellung

Goffman (1959) unterscheidet zwei verschiedene Arten von Zeichen, die mit dem Verhalten eines Individuums einhergehen19:

1. Die Botschaft, die direkt an den Empfänger gerichtet ist.
2. Das begleitende unkontrollierte Verhalten des Senders.

Möchte man herausfinden, ob der Kommunikationspartner die Wahrheit sagt, kann man dies oft an seinem begleitenden Verhalten überprüfen. Weicht die Nachricht dabei gezielt von der Wahrheit ab, so handelt es sich um eine Täuschung. Manipuliert derjenige, der die Unwahrheit sagt, sein Verhalten jedoch so, dass es unabsichtlich scheint, aber einen nicht wahren Eindruck vermittelt, spricht Goffman von Verstellung. Auch wenn Verstellung und Lüge häufig zusammen erlebt werden, kann jedes der beiden Phänomene auch einzeln auftreten. Bei schriftlichen Lügen beispielsweise spielt das begleitende Verhalten nur eine sehr nebensächliche Rolle. Bei der gefühlsbezogenen Verstellung dagegen, bei der durch die Mimik oder die Gestik des Senders eine Gefühlsart oder -intensität vermittelt wird, die er nicht empfindet, spielt das Begleitverhalten eine bedeutende Rolle.20

3.3.2 Klatsch

De Raad und Caljé (1990) unterscheiden drei Typen, in denen über abwesende Dritte geredet wird:

Beim Informationsaustausch wird über die Eigenschaften der abwesenden Person gesprochen und Beobachtungen miteinander verglichen, wohingegen beim Klatsch eine verschwörerische Einigung besteht, dass der Abwesende unkultiviert oder aggressiv sei. Bei der Verleumdung wird die abwesende Person von De Raad und Caljé ebenfalls als unkultiviert bezeichnet, wobei alle Gesprächspartner sich einig sind und diese Person ablehnen. Somit ist insbesondere die Verleumdung mit Falschheit in Verbindung zu bringen, während der Klatsch sowohl wahre als auch falsche Informationen enthalten kann.21

Klatsch und die Furcht vor Klatsch bilden außerdem die Grundlage für soziale Kontrolle innerhalb einer Gemeinschaft. Werden Normen und Wertvorstellungen überschritten, so entsteht Klatsch, der damit ein Mittel zur Abwicklung von Feindseligkeiten ist, ohne mit dem Betroffenen selbst konfrontiert zu sein. Eine weitere soziale Funktion, die der Klatsch erfüllt, ist die Gemeinschaftsidentität. Wer nicht mitreden kann, wird ausgegrenzt; der Klatsch übernimmt somit eine Ausgrenzungsfunktion. Oft kommt es dabei auch zur Bildung von Klatschketten, wobei indiskrete Informationen weitergereicht werden. Funktioniert diese Form der Informationsverbreitung kann es schnell dazu führen, dass eine nicht offiziell verbreitete Information innerhalb kürzester Zeit bei Freunden und Verwandten Verbreitung gefunden hat, was als „öffentliches Geheimnis“ bezeichnet wird.22

3.3.3 Ironie

Nach Freud (1958) kann Ironie als Darstellung durch das Gegenteil bezeichnet werden. Dabei hält er Ironie nur in solchen Situationen für anwendbar, wenn der Kommunikationspartner das Gegenteil zu hören erwartet und weist ausdrücklich auf begleitende Zeichen des Senders hin, die dem Gegenüber einen Widerspruch ersparen können.23 Knox (1973) ergänzt diese Definition, da Ironie für ihn nicht nur bedeutet, das Gegenteil von dem zu sagen, was gemeint ist, sondern auch tadeln durch falsches Lob und Lob durch vorgeblichen Tadel und jede Art des Sich-Lustigmachens und Spottens.24

3.3.4 Irrtum

Personen können sich selbst und andere täuschen. Dies kann bewusst geschehen mit einer Lüge oder unbewusst bei einem Irrtum. Der Irrtum bezeichnet eine falsche Annahme oder Behauptung, wobei derjenige, der den Irrtum verbreitet von der Wahrheit seiner Aussage überzeugt ist. Der Fehler entsteht somit nicht absichtlich, sondern aufgrund von Wahrnehmungs- oder Erinnerungsfehlern.25 Diese können beispielsweise entstehen, wenn die Aufnahme neuer Informationen durch frühere Informationen gestört wird oder umgekehrt, wenn neuere Informationen ältere verdrängen. Eine derartige Störung ist besonders stark, wenn sich der Inhalt der beiden Informationen ähnelt. Wahrnehmungs- oder Erinnerungsfehler können ebenfalls entstehen, wenn Erinnerungslücken im Gedächtnis aufgefüllt werden. Damit ist gemeint, dass Lücken in der Erinnerung unbewusst ergänzt und dabei mit Stereotypen, eigenen Schlussfolgerungen oder Meinungen anderer Personen aufgefüllt werden.26

3.3.5 Selbst- Täuschung

Nach Goffman (1959) kann von Selbst- Täuschung gesprochen werden, wenn sich die beiden Rollen des Spielers und des Publikums innerhalb eines Individuums vereinigen und die Person vollkommen an ihr eigenes Spiel glaubt.27 Motive für solch eine Täuschung könnten beispielsweise Wunschdenken, ein übertriebenes Selbstbewusstsein, Selbstschutz, das Bedürfnis nach einem guten Selbstbild oder das Umgehen des Gefühls der Beschämung sein. Die Tendenz sich selbst etwas vorzumachen, durchzieht die gesamte Struktur des Lebens, sodass daraus schlussgefolgert werden kann, dass ein geringes Maß an Wirklichkeitsausblendungen langfristig einen Gewinn für das Individuum darstellt.28

4. Motive des Lügens

Im Folgenden soll in einzelne Motivationsgruppen aufgegliedert werden, die sich im Wesentlichen an Schmid (2000) orientieren.29

4.1 Sender-orientierte Motive

In Studien, beispielsweise von DePaulo et al. (1996) oder Hample (1980) wurde herausgefunden, dass Lügen mehrheitlich auf das Wohl des Senders und weniger auf das des Empfängers ausgerichtet sind. Die Motive, die ein Sender mit einer Lüge verfolgt, können sehr vielfältig sein. Dabei kann die Beziehung zum Empfänger im Mittelpunkt stehen oder aber das Bild, welches der Sender gerne von sich vermitteln möchte. Ein geringer Teil der Lügen ist meist mit einem materiellen Vorteil verknüpft. Zu diesen Lügen zählen nach DePaulo et al. (1996) Lügen, die den persönlichen Gewinn maximieren, die das Leben für den Lügner einfacher und angenehmer machen, die ihm helfen seinen Willen durchzusetzen, einer Bestrafung oder Belästigungen zu entgehen oder ihn vor Positions- und Statusverlust schützen. Einige Forscher berichten, dass solche Lügen hauptsächlich an höhergestellte Personen gerichtet sind. Ein weiterer Teil der Lügen hat meist psychologische Gründe. Darunter zählen die Lügen, die das Ziel haben, den Lügner vor Peinlichkeiten zu bewahren oder ihn nicht zu verletzen. Auch wenn man annehmen könnte, dass solche Lügen auf ein wahrgenommenes Defizit zurückzuführen sein könnten, konnten Kashy und DePaulo (1996) nicht herausfinden, dass sozial ängstliche Personen oder solche mit niedriger Selbstwertschätzung häufiger lügen als starke selbstbewusste Menschen.

4.2 Empfänger-orientierte Motive

Hierunter fallen Lügen, die zum Ziel haben, den Empfänger vor der Wahrheit zu schützen. So wird argumentiert, dass diejenigen, die zu ihrem eigenen Vorteil angelogen werden, dies im Nachhinein positiv sehen würden und dankbar darüber wären. Weiterhin würden sie sehr wahrscheinlich in derselben oder einer ähnlichen Situation ebenso handeln. Dabei muss berücksichtigt werden, dass zugrunde liegende Motive mehrdimensional und komplex sein können. So kann die Lüge zwar direkt das Ziel verfolgen, einem Freund oder Verwandten Leid zu ersparen, indirekt allerdings ein eigennütziges Ziel besitzen. Dazu zählt beispielsweise, wenn die lügende Person nicht mit dem Leid der anderen Person konfrontiert werden möchte oder nicht als Überbringer von schlechten Nachrichten stehen möchte.

4.3 Beziehungsorientierte Motive

In diesen Bereich fallen Lügen, die von der Art der Beziehung zwischen Sender und Empfänger abhängen. So können Neckereien und Hänseleien beispielsweise die Distanz zum Interaktionspartner verringern, wenn schon eine freundschaftliche Beziehung besteht oder sie können dazu dienen, sich einer persönlichen Beziehung anzunähern. Man kann sagen, dass es in manchen Kulturen sogar normal ist, eine Lüge zu gebrauchen, um beispielsweise die Beziehung zum Geschäfts- oder Kommunikationspartner nicht zu gefährden. So ist es vor allem in asiatischen Kulturen enorm wichtig, sein eigenes aber auch das Gesicht des Gegenübers zu wahren. Auf eine Bitte sollte niemals mit direkter Ablehnung reagiert werden, so dass wiederum zur Lüge aus Höflichkeit gegriffen werden muss. Somit handelt es sich um eine Konflikt vermeidende Unwahrheit, welche einerseits das Ziel verfolgt, die Beziehung zwischen den zwei Verhandlungspartnern nicht zu gefährden und andererseits Belastungen zu vermeiden, die sich durch inadäquates Verhalten ergeben könnten. Weiterhin erfordern vor allem Alltagssituationen den Gebrauch von Lügen. Auf die Frage nach dem aktuellen Befinden wird beispielsweise sehr oft von der Lüge Gebrauch gemacht, da ein schlechtes Befinden nicht mit jedem Kommunikationspartner geteilt werden möchte. Dabei werden Fremde öfter mit der Unwahrheit konfrontiert als Freunde.

5. Techniken des Lügens

In dem Buch „The Varnished Truth“ hat Nyberg (1993) herausgestellt, dass es meist nur eine einzige Wahrheit gibt, jedoch nicht nur eine mögliche Lüge. Eine Lüge kann sich in vielen verschiedenen Formen äußern, beispielsweise in einer Umschreibung, einer Übertreibung oder einer Weglassung, die alle das Ziel des Täuschens verfolgen.

In der Literatur weit verbreitet, ist die Unterscheidung der folgenden Formen von Lügen30:

5.1 Ablenken

Das Ablenken während einer Kommunikation setzt eine explizite oder implizite Fragestellung voraus, deren eindeutiger Beantwortung der Befragte ausweichen möchte. Aufgrund eines solchen Vermeidungs-Konfliktes greift der Gefragte auf eine so genannte Equivocation zurück, wobei es sich um eine Botschaft mit Mehrdeutigkeiten handelt, die in ihrer Art unklar und unentscheidend ist. An dieser Stelle verschwimmen die Grenzen, wobei Bavelas und Mitarbeiter strikt zwischen Equivocations und Lügen unterscheiden. Ob es sich um eine Lüge handelt, hängt demnach davon ab, ob dem Fragenden bewusst ist, dass es sich um eine mehrdeutige Botschaft handelt. Ist dies der Fall, so kann nicht von einer Lüge gesprochen werden, besitzt er jedoch die Illusion eine eindeutige Antwort erhalten zu haben, wird dies als eine Lüge deklariert.

5.2 Erfinden und Verfälschen

Bei dieser Technik des Lügens handelt es sich um die am häufigsten in Untersuchungen erwähnte Art der Lüge. Verfälschungen sind meist eine Mischung aus Halbwahrheit und Lüge. Dabei spielt immer die Art der Information eine Rolle, wobei es sich um mehr oder weniger nachweisbare Fakten, Einstellungen oder Gefühle sich selbst oder gegenüber anderen handeln kann. Neben dem inhaltlichen Aspekt ist die täuschende Rahmenhandlung ebenfalls von Bedeutung.

5.3 Über- und Untertreiben

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass auch diese Form der Kommunikation oft Verwendung findet (DePaulo et al., 1996: 14%; Turner et al., 1975: 5%). Bezüglich der Über- und Untertreibung lassen sich nach Turner (1975) jeweils zwei Unterkategorien treffen.

Bei der Übertreibung unterscheidet er in:

Typ 1: Es wird mehr Information vermittelt, als zum Verstehen der Nachricht notwenig wäre.

Typ 2: Es werden viele Superlative in der Sprache verwendet, sodass der Sachverhalt an Bedeutung gewinnt.

Bei der Untertreibung unterscheidet er in:

Typ 1: Es wird weniger Information vermittelt, als für eine völlige Erklärung notwendig wäre, das heißt es handelt sich um Halbwahrheiten. Typ 2: Sprachliche Formen werden so gewählt, dass der Sachverhalt heruntergespielt wird.

5.4 Verheimlichen

Die letzte Form des Lügens, die Schmid unterscheidet, ist das Verheimlichen/ Weglassen. Dabei werden Informationen in einer Aussage in so hohem Maße weggelassen, dass beim Kommunikationspartner ein falscher Eindruck entsteht. Die extremste Situation ist das Verschweigen, da dem Empfänger verborgen bleibt, dass es etwas zu erfahren gäbe. Verschweigt eine Person einer anderen etwas, kann es sich sowohl lediglich um das Zurückhalten einer einzigen Information handeln, aber auch um ein komplexes Geheimnis, welches nicht preisgegeben werden möchte.

Dazu kann gesagt werden, dass nahezu alle Kinder/ Erwachsene Geheimnisse vor ihren Eltern/ Kindern oder ihren Freunden haben. Um diese Geheimnisse zu bewahren, lügen sie oft ungeniert, wobei deutlich wird, dass die Lüge und die Geheimhaltung eng zusammen gehören. Man könnte sagen, die Geheimhaltung ist eine Form des Lügens. Dabei kann eine Lüge zum Geheimnis werden und umgekehrt, kann eine Lüge ein Geheimnis provozieren.

Im Folgenden soll geklärt werden, wann es sich um ein Geheimnis handelt, wie dieses definiert wird und welche verschiedenen Formen von Geheimnissen existieren. Dabei soll aufgezeigt werden, welche Wichtigkeit Geheimnisse in der Kindheit haben, wie sie immer wieder Ansatzpunkt einer Lüge werden können und wie sich Geheimnisse im Kindes- und Jugendalter von denen Erwachsener unterscheiden.

5.4.1 Was sind Geheimnisse?

Bevor an dieser Stelle auf das Phänomen des Geheimnisses genauer eingegangen wird, soll eine allgemeine Definition stehen, die die Grundlage der Überlegungen bildet.

Definition: Als Geheimnis bezeichnet man eine Kenntnis, die auf einen bestimmten Personenkreis bezogen ist.31

Da im Folgenden immer wieder Bezug auf diese Definition genommen wird, soll sowohl der wortgeschichtliche als auch der sozialwissenschaftliche Weg aufgezeigt und geklärt werden, was Geheimnis bzw. Geheimhaltung überhaupt bedeutet und wie sich die Bedeutung dieses Phänomens über viele Jahre hinweg verändert hat.

Folgt man bezüglich der Wortgeschichte Meyers Enzyklopädischem Lexikon, Band 31 (1980), so war es Martin Luther, der erstmal das lateinische Wort „Mysterium“ mit „Geheimnis“ übersetzte. Zerlegt man das deutsche Wort „Geheimnis“ dabei in seine Morpheme, so enthält es als Kern das Wort „Heim“, was soviel bedeutet wie vertraut, zum Heim gehörend und nicht für andere bestimmt. Eine ganz andere etymologische Wurzel besitzt die englische Bezeichnung „secret“. Diese wird vom lateinischen Wort „secretum“ abgeleitet, welches von dem Verb „secernere“ abstammt und trennen, abtrennen bedeutet. Aus der griechischen Region dagegen stammen die Begriffe „arrheton“ und „aporrheton“, wobei der erstere das übernatürliche Geheimnis (Gott) und der zweite, was aufgrund eines Schweigeverbots geheim gehalten wurde, meint.32

Folgt man den sozialwissenschaftlichen Definitionen muss angemerkt werden, dass „Geheimnis“ und „Geheimhaltung“ oft synonym verwendet werden, wobei mit „Geheimhaltung“ auch die Mittel bezeichnet werden, die notwendig sind, um ein Geheimnis zu wahren. Nach Bok (1982) und Simmel (1958) wird das Geheimnis oft als ein bewusstes, absichtliches Verbergen verstanden. Bei genauerer Betrachtung treten aber doch Unterschiede im Verständnis dessen auf, was ein Geheimnis ausmacht. Warren und Laslett (1980) beschreiben es als ein Verbergen von etwas, das von den Personen, die es nicht wissen dürfen, negativ bewertet wird. Mitchell (1993) dagegen kennzeichnet es als „geleugnetes Wissen“ oder als „ein Wissen, das zwar verfügbar, aber ungleich verteilt ist“. Eine wieder andere Bestimmung findet man bei Stok (1929), der betont, dass nicht jedes Zurückhalten von Wissen als Geheimnis bezeichnet werden kann. Für ihn müssen andere Voraussetzungen erfüllt sein, dass von einem Geheimnis gesprochen werden darf. Bei seiner Definition spielen soziale Beziehungen eine große Rolle. Dabei macht er das Vorliegen eines Geheimnisses davon abhängig, ob es für die Beziehung relevant ist oder nicht.33

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Geheimnisse einige allgemeine Charakteristika34 besitzen, die im Folgenden dargestellt werden sollen:

Geheimnisse und Geheimhaltung sind ubiquitär, was bedeutet, dass Geheimnisse überall vertreten sind und die meisten Menschen Geheimnisse besitzen.

Geheimnisse sind anthropologische und soziale Universale, womit gemeint ist, dass diese zu allen Zeiten und in den meisten bekannten Kulturen und Gesellschaften existieren.

Geheimnisse haben relationale Bedeutung, da zu ihrem Verständnis nicht nur der Geheimhaltende und der Geheimnisinhalt von Bedeutung sind, sondern auch, dass eine bestimmte Person oder mehrere Personen von der zu geheim haltenden Information nichts erfahren dürfen.

Geheimnisse zu bewahren, ist an Sprache, Intelligenz, Bewusstsein und Absichtsbildung gebunden.

Geheimnisse besitzen eine Verlaufsstruktur, deren Eckpunkte die Entscheidung für die Geheimhaltung und die spätere Lüftung des Geheimnisses bilden, wenn es nicht lebenslang andauert.

5.4.2 Geschichten über Geheimnisse

„ Fast jeden Abend vor dem Einschlafen schreibt Jane in ein Notizbuch, das ihr als „ Geheimes Tagebuch “ dient. Sie würde den Inhalt weder ihren Freunden noch ihren Eltern erzählen, denn keiner darf ihn erfahren - er ist geheim. “ 35

„ Manchmal auf dem Weg zur Schule spielt Joey ein seltsames Spiel mit sich. Gestern durfte er auf keine Risse und Spalten im Bürgersteig treten. Heute muss er alle Bäume am Stra ß enrand anfassen. Als er sich dabei ertappt, dass er einen Baum am Anfang der Stra ß e ausgelassen hat, will er zuerst schleunigst seinen Weg fortsetzen, da der Unterricht gleich beginnt. Aber dann wird ihm leicht unbehaglich. Er rennt zurück und berührt schnell den übergangenen Baum. Aus einiger Entfernung beobachtet ein Lehrer Joeys sonderbares Verhalten. Aber Joey erzählt niemandem von seinen rätselhaften Spielen. “ 36

„ Schlafenszeit. „ Ich hoffe, du hast dir die Zähne geputzt?! “ ermahnt die Mutter, als sie das Kinderzimmer betritt. Das Kind spürt den nörgelnden Tonfall und antwortet mit leichtem Unbehagen: „ Ja. “ Aber sofort hat die Tochter heftige Gewissensbisse, weil sie das Zähneputzen versäumt hat. Sie bleibt ruhelos. Auch nach einer Stunde ist sie immer noch nicht eingeschlafen, deshalb schlüpft sie leise aus dem Bett und putzt sich die Zähne. Wieder zurück im Bett schläft sie sofort ein. “ 37

Obwohl sich diese Geschichten sehr voneinander unterscheiden, haben alle drei etwas gemeinsam. Sie beschäftigen sich mit Geheimnissen von Kindern. Kinder machen früh ihre Erfahrungen, wobei das Erleben einer eigenen privaten Welt, das Wissen etwas verbergen, verstecken oder verheimlichen zu können, nicht fehlen darf.38 Deutlich wird bei diesen drei Beispielen auch, dass es sich in allen drei Fällen um Individualgeheimnisse handelt, worauf im Folgenden genauer eingegangen werden soll. Außerdem wird deutlich, dass Geheimnisse und Geheimhaltung im Leben der Kinder unterschiedlichste Formen annehmen und Kinder sowohl Eltern, Lehrern als auch Freunden bestimmte Umstände oder Informationen verheimlichen.

5.4.3 Arten und Merkmale von Geheimnissen

Möchte man Geheimnisse kategorisieren, so können zunächst einmal, wie zuvor schon erwähnt, die Individualgeheimnisse genannt werden, womit gemeint ist, dass die betroffene Person Umstände und Inhalte für sich behält und mit keiner anderen Person teilt. Eine andere Form sind die interpersonell geteilten Geheimnisse, wobei die beiden Personen eine Dyade bilden und Dritte nicht an ihrem Geheimnis teilhaben lassen. Außerdem existieren noch die Geheimnisse innerhalb einer Gruppe, wie beispielsweise unter Freunden oder der Familie.39 Die letzte Gruppe bilden die intrapsychischen Geheimnisse, die man zwar in sich verborgen trägt, die allerdings einem selbst nicht zugänglich sind.40

5.4.3.1 Formen von Geheimhaltung nach van Manen/ Levering

Van Manen und Levering (2000) beschreiben verschiedene Inszenierungsformen des Geheimnisses und unterscheiden dabei drei Kategorien41:

5.4.3.1.1 Existentielle Geheimnisse

Diese Form des Geheimnisses macht die Tiefendimension menschlicher Beziehungen aus.42 Darunter wird verstanden, dass jede Person ein Geheimnis für sich ist. Obwohl eine tiefe Verbundenheit zwischen Eltern und Kindern besteht, lebt das Kind „unabhängig“ von diesen. Auch wenn die Eltern ihr Kind sehr gut kennen und mit diesem enger verbunden sind als mit jedem anderen, existiert das Kind getrennt von den Eltern und kann zu einem Geheimnis werden, da es niemals vollständig erfahrbar sein wird.

5.4.3.1.2 Kommunikative Geheimnisse

Im Zusammenhang mit den existentiellen Geheimnissen stehen die kommunikativen. Nach diesem Ansatz wird ein Kind als Geheimnis erfahren, da es noch nicht in der Lage ist, über sich selbst und seine Gefühle zu sprechen. Diese Art des Geheimnisses betrifft keineswegs nur Kinder, sondern auch Erwachsene, die nicht über bestimmte Dinge sprechen können, selbst wenn sie es gerne wollten. So werden diese Geheimnisse als gefühlsbeladen und hochkomplex bezeichnet, die schwer oder gar nicht versprachlicht werden können.43

5.4.3.1.3 Persönliche Geheimnisse

Als persönliches Geheimnis bezeichnet man Geheimnisse, die eine Person als ihre eigenen betrachtet und die sie anderen vorenthalten will oder nicht bereit ist, darüber zu sprechen. Persönliche Geheimnisse haben somit Konsequenzen für zwischenmenschliche Beziehungen, da sie verhindern können, dass die Beziehung weniger offen, weniger intim und spontan wird. Teilt man dagegen Geheimnisse, kann dies die Beziehung noch intimer und enger werden lassen.

5.4.3.2 Formen von Geheimhaltung nach Bellebaum

Im Gegensatz zu Van Manen und Levering kategorisiert Bellebaum in acht Arten von Geheimnissen, bei denen sich immer jeweils zwei gegenüberstehen44:

5.4.3.2.1 Behütete und offene Geheimnisse

Unter behüteten Geheimnissen werden solche verstanden, die erfolgreich geheim gehalten werden konnten, wohingegen offene Geheimnisse diejenigen darstellen, die versehentlich an die Öffentlichkeit gelangt sind. Als Beispiel nennt Bellebaum (1992) einen alkoholkranken Menschen, der versucht seine Abhängigkeit vor der Umwelt zu verbergen, was ihm allerdings auf Dauer nicht gelingt.45 Als offen wird das Geheimnis bezeichnet, sobald es öffentlich gewusst und beredet wird.

5.4.3.2.2 Anvertraute und freie Geheimnisse

Unter anvertrauten Geheimnissen versteht Keller solche, die anderen Personen unter dem Gebot der Verschwiegenheit erzählt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Geheimnis der erzählenden Person oder um ein Geheimnis eines Dritten handelt. Freie Geheimnisse sind dagegen Geheimnisse, die eine Person an eine andere weitergibt, ohne von einer dritten Person dafür bestraft zu werden. Dies wäre nach Keller beispielsweise der Fall, wenn ein Mitarbeiter aus einem bestimmten Grund dem Vorgesetzten von der Alkoholkrankheit seines Kollegen erzählt.

5.4.3.2.3 Einzel- und Gruppengeheimnisse

Wie die Begriffe schon sagen, handelt es sich bei Einzelgeheimnissen um Geheimnisse, die eine Person vor allen anderen geheim hält, wohingegen Gruppengeheimnisse in einer Gruppe von allen Gruppenmitgliedern gewahrt werden.

5.4.3.2.4 Einfache und reflexive Geheimnisse

Einfache Geheimnisse sind solche, bei denen der Geheimnisinhalt anderen Menschen verschwiegen wird, allerdings nicht das Geheimnis an sich. Bei reflexiven Geheimnissen dagegen, wird nicht nur der Geheimnisinhalt, sondern die gesamte Geheimhaltung verschwiegen.

5.4.4 Wie und wo erfährt man Geheimnisse?

Geheimnisse finden sich nicht nur bei zwischenmenschlichen Beziehungen wieder, sondern können sich auch durch die dingliche oder räumliche Umgebung vermitteln.46 Besonders Kinder suchen gerne geheime Rückzugsmöglichkeiten für sich oder bestimmte Gegenstände auf. So verstecken sie sich häufig in Höhlen oder nutzen geheime Schubladen, Schränke oder Kisten.

5.4.4.1 Geheime Orte

Das Versteck ist ein besonderer Typ und wahrscheinlich das einfachste Beispiel für das Phänomen der Geheimhaltung. Obwohl es vorrangig dazu dient, jemanden oder etwas zu verbergen, schafft es auch einen Ort des Schutzes und der Sicherheit, an den man sich zurückziehen kann. Man kann sich quasi vor den Blicken der anderen unsichtbar machen, weshalb man sich dort sicher glaubt und ein Gefühl der Intimität empfindet. Dabei muss allerdings Berücksichtigung finden, dass ein Versteck immer nur so lange zu gebrauchen ist, solange sein Ort ein Geheimnis zwischen denen bleibt, die es entdeckt haben und es nutzen. Von einem Versteck kann sowohl bei geheimen Schlupfwinkeln und Rückzugsorten gesprochen werden, als auch bei geheimen Fächern, Schubladen, Kisten und Schränken. Der geheime Rückzugsort ist ein Ort, an dem man sein eigenes geheimes Ich erlebt. An solchen Plätzen fühlt man sich behütet und geborgen. Dieser Ort schafft Alleinsein, sodass die Möglichkeit besteht zu sich selbst zu finden. Solche Orte können für das Kind beispielsweise das eigene Zimmer oder ein anderer geeigneter Ort im Haus sein. In Schubladen, Fächern oder Kisten können Kinder nicht nur ihre Habseligkeiten sammeln oder ordnen, vielmehr vermitteln diese auch das Gefühl, einen intimen Raum zu besitzen, der nicht für jeden zugänglich ist. Für ein kleines Kind können diese Fächer und Schubladen familiäre Vertrautheit verkörpern, wenn sie beispielsweise Erinnerungen an den Großvater, die Großmutter oder andere Verwandte darin aufbewahren. Kleider- und Wandschränke sind ebenfalls geeignete Orte, um Geheimnisse aufzubewahren oder sich Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen. Nach van Manen und Levering vermitteln Kleiderschränke etwas sehr Wesentliches, da man dort dem eigentlichen Phänomen des Raumes begegnet. Der Innenraum eines Kleiderschrankes bietet einerseits Intimität, andererseits denken viele kleine Kinder, dass beispielsweise Kleiderschränke oder Kisten und Truhen Zugänge zu anderen Welten oder anderen Zeiten eröffnen.47

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass überall Geheimnisvolles erlebt werden kann, sei es in Gegenständen, in Höhlen und Kammern, in Bildern der Traumwelt und in Geschichten und Begegnungen anderer Menschen.

5.4.4.2 Geheimnisinhalte

Eigentlich kann alles zum Gegenstand eines Geheimnisses gemacht werden, was geheim bleiben und somit nicht an andere weitergegeben oder weitererzählt werden soll. Dabei kann der Träger des Geheimnisses entscheiden, wen er in das Geheimnis einweiht und wen er davon ausschließt. Er verfügt über die Macht den Gegenstand des Geheimnisses als geheim zu bewahren oder ihn öffentlich zu machen. „ Der vom Wissen Ausgeschlossene ist konstitutives Element der Geheimnisbeziehung. “ 48 Dabei handelt es sich oftmals um nahe stehende oder dem Träger des Geheimnisses wichtige Personen, wie beispielsweise Freunde, Partner oder Eltern. Fremden gegenüber hat der Geheimnisträger in der Regel weniger Hemmungen bestimmte Informationen zu berichten, im Gegensatz zu Personen des näheren Umfelds.49 Dies liegt daran, dass schlechte Geheimnisse50 mit Gefühlen wie Schuld, Scham oder Angst vor negativen Sanktionen verbunden sind.51

Nach Spitznagel verfügen Geheimnisse über eine komplexe Struktur, da der Geheimnisträger meist zwischen der Wahrung und dem Verrat des Geheimnisses schwankt.52 Gründe, die für die Wahrung eines solchen sprechen, sind meist Scham, Schuldgefühle, Reue oder Angst. Gründe für den Verrat eines Geheimnisses können dagegen der Wunsch nach Erleichterung, nach Anerkennung, aber auch das Ausräumen eines Missverständnisses sein, welches durch das Erfahren eines Geheimnisses entstanden sein kann.53

5.4.5 Die moralische Qualität von Geheimnissen

Der Ausdruck Moral stammt von dem lateinischen Wort „mos“, was mit Sitte, Brauch oder Gewohnheit übersetzt werden kann und bezeichnet das, was als richtiges Handeln angesehen wird, sei es von einem Individuum, einer Gruppe oder einer ganzen Kultur.54 Dabei werden Geheimnisse nach negativem und positivem Inhalt unterschieden und können somit in gute und schlechte Geheimnisse eingeteilt werden, je nach dem moralischen Empfinden einer Person. So können Menschen unterschiedlich über ein und dasselbe Geheimnis denken. Doch auch Geheimnisse selbst sind in ihrer Bedeutung positiv oder negativ besetzt.

[...]


1 Vgl. Dietz, 2003, S.7

2 Vgl. ebd. S.7.

3 Vgl. Schirrmeister, 2004, S.69.

4 Vgl. Schmid, 2000, S.23.

5 Vgl. ebd., S.24.

6 Vgl. ebd., S.25.

7 Vgl. die ausführliche Darstellung Kapitel 6

8 Vgl. ausführliche Darstellung Kapitel 9

9 Vgl. Schmid, 2000, S.26.

10 Vgl. ebd., S.46.

11 Vgl. ebd., S.47.

12 Vgl. ebd., S.48.

13 Vgl. ebd., S.81.

14 Vgl. ebd., S.83.

15 Augustinus bezeichnete die Lüge als die magna quaestio.

16 Vgl. Schmid, 2000, S.84.

17 Der Ausschluss der Variablen hat nicht nur methodische Gründe, sondern dient auch der Vermeidung unangemessener Einschränkungen des Untersuchungsfeldes.

18 Vgl. Schmid, 2000, S.100.

19 Vgl. ebd., S.91.

20 Vgl. ebd., S.91.

21 Vgl. ebd., S.92.

22 Vgl. Bergmann, 1987, S.210/211.

23 Vgl. Schmid, 2000, S.93.

24 Vgl. Groeben/ Scheele, 1984, S.3.

25 Vgl. Hermanutz/ Litzcke, 2006, S.17ff.

26 Vgl. Füllgrabe, 1995, S.17.

27 Vgl. Schmid, 2000, S.94.

28 Vgl. Goleman, 1998, S.263ff.

29 Vgl. Schmid, 2000, S.137ff.

30 Vgl. Schmid, 2000, S.117ff.

31 Vgl. http://lexikon.meyers.de/wissen/Geheimnis+(Sachartikel)+%C3%96ffentliches+Recht

32 Vgl. Spitznagel, 1998, S.26ff.

33 Vgl. ebd., S.27.

34 Vgl. ebd., S.28ff.

35 Van Manen/ Levering, 2000, S.11.

36 Ebd., S.11.

37 Ebd., S.12.

38 Vgl. ebd., S.13.

39 Vgl. die ausführliche Darstellung Kapitel 5.4.8.3.3

40 Vgl. Keller, 2007, S.59.

41 Vgl. van Manen/ Levering, 2000, S.22ff.

42 Vgl. Keller, 2007, S.59ff.

43 Vgl. ebd., S.59.

44 Vgl. ebd., S.60.

45 Vgl. Bellebaum, 1992, S.93.

46 Vgl. van Manen/ Levering, 2000, S.32.

47 Vgl. ebd., S.32ff.

48 Spitznagel, 1998, S.29.

49 Vgl. van Manen/ Levering, S.77.

50 Vgl. die ausführliche Darstellung Kapitel 5.4.5.2

51 Vgl. Keller, 2007, S.62.

52 Vgl. Spitznagel, 1998, S.31.

53 Vgl. Keller, 2007, S.62.

54 Vgl. http://lexikon.meyers.de/wissen/Moral

Ende der Leseprobe aus 169 Seiten

Details

Titel
Du sollst nicht lügen - Eine empirische Studie zum Umgang mit Geheimnis und Lüge
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
169
Katalognummer
V143586
ISBN (eBook)
9783640541225
Dateigröße
1053 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Eine, Studie, Umgang, Geheimnis, Lüge
Arbeit zitieren
Sabrina Spahr (Autor:in), 2009, Du sollst nicht lügen - Eine empirische Studie zum Umgang mit Geheimnis und Lüge, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143586

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Du sollst nicht lügen - Eine empirische Studie zum Umgang mit Geheimnis und Lüge



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden