In der folgenden Arbeit möchte ich die novellistische Studie „Bahnwärter Thiel“, von
Gerhart Hauptmann, unter Berücksichtigung der drei Kategorien, Zeit, Modus und
Stimme analysieren und die Schwerpunkte dieser einzelnen Kategorien
anschließend als Ergebnis präsentieren.
Epochenüberblick - Naturalismus
Der Naturalismus ist eine Strömung u.a. in der Literaturgeschichte von ca. 1880 bis
1900, die auf genauer Naturbeobachtung beruht. Er bezeichnet eine Stilrichtung, bei
der die Wirklichkeit originalgetreu abgebildet und auf Beschreibungen und subjektive
Ansichten verzichtet wird. Der Naturalismus lässt sich auch als eine radikalisierende
Fortführung des Realismus beschreiben. Diese Strömung lässt sich in drei
Abschnitte, den Frühnaturalismus (1880-1889), Hochnaturalismus (1889-1895) und
Zerfall des Naturalismus (ab 1895) unterteilen, wobei diese Übergänge der einzelnen
Perioden fließend sind.
Bevorzugte Gattungen der Literaten waren u.a. epische Kleinformen, wie z.B. die
Studie und die Novelle. Der sogenannte Sekundenstil war hierbei eine völlig
neuartige Erzähltechnik der Naturalisten. Mit Hilfe dieser Technik wurden Sekunde
für Sekunde Raum und Zeit geschildert, mit dem Ziel der Widerspiegelung der
Realität.
Auch in Hauptmanns Studie „Bahnwärter Thiel“ lässt sich dieser Stil erkennen.
Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ gilt als exemplarischer naturalistischer Prosatext.
Erzählt wird hier - im mehr oder weniger nüchternen Duktus - die Geschichte des
Verfalls einer Psyche, einer Psyche, die sich unter den Einflüssen von chaotischen
Natur- und Technikbeschreibungen selbst zerstört. Sprachgewaltige
Naturbeschreibungen spiegeln in dieser berühmten Novelle die psychischen
Vorgänge des Protagonisten Thiel wider
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Fragestellung und Zielsetzung
1.2 Epochenüberblick - Naturalismus
2. Hauptteil
2.1 Organisation der Zeitstruktur. Darin:
- Ordnung
- Dauer
- Frequenz
2.2 Modus. Darin:
- Fokalisierung
- Distanz
2.3 Stimme (Erzählinstanz). Darin:
- Zeitpunkt des Erzählens
- Stellung des Erzählers zum Geschehen
- Ort des Erzählens
3. Schluss: Analyse der Verknüpfung von Psyche, Natur und Technik
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Fragestellung und Zielsetzung
In der folgenden Arbeit möchte ich die novellistische Studie „Bahnwärter Thiel“, von Gerhart Hauptmann,1 unter Berücksichtigung der drei Kategorien, Zeit, Modus und Stimme2 analysieren und die Schwerpunkte dieser einzelnen Kategorien anschließend als Ergebnis präsentieren.
1.2 Epochenüberblick - Naturalismus
Der Naturalismus ist eine Strömung u.a. in der Literaturgeschichte von ca. 1880 bis 1900, die auf genauer Naturbeobachtung beruht. Er bezeichnet eine Stilrichtung, bei der die Wirklichkeit originalgetreu abgebildet und auf Beschreibungen und subjektive Ansichten verzichtet wird. Der Naturalismus lässt sich auch als eine radikalisierende Fortführung des Realismus beschreiben. Diese Strömung lässt sich in drei Abschnitte, den Frühnaturalismus (1880-1889), Hochnaturalismus (1889-1895) und Zerfall des Naturalismus (ab 1895) unterteilen, wobei diese Übergänge der einzelnen Perioden fließend sind.
Bevorzugte Gattungen der Literaten waren u.a. epische Kleinformen, wie z.B. die Studie und die Novelle. Der sogenannte Sekundenstil war hierbei eine völlig neuartige Erzähltechnik der Naturalisten. Mit Hilfe dieser Technik wurden Sekunde für Sekunde Raum und Zeit geschildert, mit dem Ziel der Widerspiegelung der Realität.3
Auch in Hauptmanns Studie „Bahnwärter Thiel“ lässt sich dieser Stil erkennen. Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ gilt als exemplarischer naturalistischer Prosatext. Erzählt wird hier - im mehr oder weniger nüchternen Duktus - die Geschichte des Verfalls einer Psyche, einer Psyche, die sich unter den Einflüssen von chaotischen Natur- und Technikbeschreibungen selbst zerstört. Sprachgewaltige Naturbeschreibungen spiegeln in dieser berühmten Novelle die psychischen Vorgänge des Protagonisten Thiel wider.
2. Hauptteil
2.1 Frage nach der Organisation der Zeitstruktur
Zunächst ist herauszufinden, in welcher Reihenfolge das Geschehen einer Erzählung vermittelt wird. Hier stellt sich also die Frage nach der Ordnung. So ist zunächst für nahezu jeden narrativen Text ein zeitliches Nacheinander konstitutiv4. Jedoch lässt sich dieses Nacheinander durch Umstellung der Chronologie durchaus unterbrechen. Diese Unterbrechung bezeichnet Gerard Genette als eine narrative Anachronie und definiert diese als eine Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte und der Ordnung der Erzählung.5 Diese narrative Anachronie oder Zeitwidrigkeit6 kann dem Leser in Form einer Analepse, also einer nachträglichen Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat, als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat, vermittelt werden. Bei der Prolepse hingegen wird ein späteres Ereignis im voraus geschildert.7 Bezieht man diese Definitionen nun auf die Novelle von Gerhart Hauptmann, so lässt sich doch eindeutig erkennen, dass sich dieser Text ausschließlich der Analepse bedient und an keiner Stelle ein späteres Ereignis vorwegnehmend geschildert wird. Bereits auf der ersten Seite im ersten Satz von Hauptmanns Novelle weist uns der Erzähler auf ein Ereignis hin, das zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat.8 Beschrieben wird hier die Krankheitsgeschichte des Bahnwärters, durch die er weder seine wöchentlichen Kirchenbesuche antreten konnte, noch seinem Beruf nachzugehen vermochte. Da dieses Ereignis der Krankheit bei Thiel sehr selten auftritt, versetzt uns der Erzähler zur Schilderung dieser Begebenheiten sogar um zehn Jahre zurück. Die Ereignisse, die nun in diesen Jahren geschehen (Hochzeit mit Minna, Tod Minnas, Ehe mit Lene, Tobias etc.), werden im ersten Kapitel auf nur sieben Seiten beschrieben, also mit enormen Zeitsprüngen, zeitlichen Störungen und Rückwendungen geschildert. Intern jedoch, für den Protagonisten selber, ist der Ablauf natürlich chronologisch. Folgt man hier Martinez und Scheffel, wird dem Leser dieser Text zunächst in zeitraffender bzw. summarischer Erzählung präsentiert. Hier ist nun der Begriff der Dauer einer Erzählung wesentlich. In einem gleitenden Übergang umfasst die Präsentation in Form der Szene einen zunehmend größeren Zeitraum, so dass im Verlauf des Textes das Geschehen nicht mehr in einigen Jahren, sondern in einigen Tagen oder sogar Stunden beschrieben wird. So umfassen die Geschehnisse ab dem zweiten Kapitel bis zum Ende der Geschichte, also mehr als Dreiviertel des gesamten Textes, weniger als 72 Stunden, wohingegen das erste Viertel des Textes einen Zeitraum von 10 Jahren beschreibt. Dieser Wechsel von der Raffung hin zu einer Szene bzw. szenennahen Darstellung ermöglicht hier eine markante Reduktion des Erzähltempos, verbunden mit dem Eindruck einer abnehmenden Distanz zum erzählten Geschehen.9 Eine weitere Grundform des narrativen Tempos stellt eine Extremform der zeitraffenden Erzählung dar. Es handelt sich dabei um den Zeitsprung oder auch Ellipse oder Aussparung genannt.10 Diese Ellipse tritt nun ihrerseits wiederum in zwei verschiedenen Formen auf. Zum einen als bestimmte und explizite Ellipse und zum anderen als unbestimmte implizite Ellipse.11 In dem Text von Hauptmann lässt sich ausnahmslos die explizite Ellipse erkennen. Der Leser wird also immer durch mehr oder weniger konkrete Zeitangaben über die Geschehnisse und Handlungen der Geschichte und ihrer Figuren unterrichtet. So wird zum Beispiel nach einem „Sonntagmorgen“ das Geschehen mit den Zeitbegriffen „Mittags“, „Nachmittags“, „Abends“, „Nachts“, „am folgenden Morgen“ etc. fortgesetzt.12 Neben diesen finden sich auch eine Reihe an exakten Zeitangaben in dem Text, wie etwa um sechs Uhr früh oder gegen neun Uhr abends.13
Die narrative Frequenz14, das bedeutet, wie oft sich wiederholende oder sich nicht wiederholende Ereignisse in einer Erzählung dargestellt werden, bildet die letzte für die Untersuchung der besonderen Zeitverhältnisse in einer Erzählung wichtige Frage. Zu unterscheiden sind hier die drei Formen der singulativen, iterativen und repetitiven Erzählung.15 Hauptmanns Studie bedient sich hauptsächlich der singulativen Erzählung, dass heißt, es wird einmal erzählt, was sich einmal ereignet hat. Dieser Typ der Erzählung ist der Regelfall. Jedoch lässt sich auch die Form der iterativen Erzählung hier erkennen. Gleich zu Beginn des Textes stehen die Worte geschrieben: „Allsonntäglich saßBahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau[...]“16 Hier wird also, nach Genette, eine einzige narrative Aussage durch mehrere Fälle desselben Ereignisses zusammengefasst.17 Scheffel und Martinez bezeichnen diese Form als ein einmaliges Erzählen eines sich wiederholten Ereignisses.18 Zu Beginn des zweiten Absatzes19 lässt sich eine weiteres Element der iterativen Erzählform erkennen. Hier berichtet der Erzähler über den Weg, den Thiel seit fünf Jahren immerzu und allein zurücklegt. Diese und noch einige weitere Beispiele der iterativen Erzählform lassen sich in Hauptmanns Text erkennen. Auffällig ist jedoch, dass sich diese Unterschiedlichkeiten der narrativen Frequenzen zu Beginn des Textes noch sehr deutlich erkennen lassen, aber im Verlauf und gegen Ende des Textes völlig aufgehoben sind, was unter anderem mit dem rasch ansteigenden Tempo der Erzählung zusammenhängt. Diente der Beginn des Textes noch einer Art Einführung, in welcher der Leser den Thiel, dessen Umfeld und seine Gewohnheiten zunächst grob kennen lernen sollte (Exposition) und dieser Beginn, wiedergegeben durch die Form iterativer Erzählung, einhergehend mit einer starken Raffung, verbunden war, so wechselt die Erzählform bereits ab der Mitte des ersten Kapitels in den singulativen Erzähltyp. Dieser Typ der Erzählung bleibt danach dominierend.
[...]
1 Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Nachwort von Fritz Martini. Durchges. Ausgabe Stuttgart 2001.
2 Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Auflage. München 2005. S. 30.3 Vgl. Stadler, Edmund: „Naturalismus“. In: Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Zweiter Band L - O. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Zweite Auflage. Berlin 1965. S. 602ff.
4 Vgl. Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Auflage. München 2005. S. 32.
5 Gerard Genette: Die Erzählung. 2. Auflage. München 1998. S. 23.
6 Dudenredaktion (Hg.): Der Große Duden. Fremdwörterbuch. Band 5. 2. Auflage. Mannheim 1966. S. 47.
7 Vgl. Gerard Genette: Die Erzählung. 2. Auflage. München 1998. S. 25.
8 Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Nachwort von Fritz Martini. Durchges. Ausgabe Stuttgart 2001. S. 3.
9 Vgl. Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Auflage. München 2005. S. 42.
10 Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. 8. unveränderte Auflage. Stuttgart 1983. S. 100ff.
11 Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Auflage. München 2005. S. 42f.
12 Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Nachwort von Fritz Martini. Durchges. Ausgabe Stuttgart 2001. S. 10ff.
13 Ebd. S. 26f.
14 Gerard Genette: Die Erzählung. 2. Auflage. München 1998. S. 81.
15 Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Auflage. München 2005. S. 45ff.
16 Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Nachwort von Fritz Martini. Durchges. Ausgabe Stuttgart 2001. S. 3.
17 Vgl. Gerard Genette: Die Erzählung. 2. Auflage. München 1998. S. 83.
18 Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Auflage. München 2005. S. 46.
19 Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Nachwort von Fritz Martini. Durchges. Ausgabe Stuttgart 2001. S. 3.
- Arbeit zitieren
- Simon Böller (Autor:in), 2009, Erzähltextanalyse von Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143660
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