Die Berliner Performance/Theater-Gruppe Nico and The Navigators: Werkzyklus 'Menschenbilder'- Auf der Suche nach der verlorenen Identität


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

41 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsangabe

1. Arbeitsthese: Werkzyklus lesbar als Reflexion postmoderner Identitätsproblematik?

2. Theoretischer Hintergrund: Reflexiv-SozialpsychologischeTheoriebildungen zur postmodernen / nachmodernen Identität
2. 1. Patchwork-Identität (Keupp)
2. 2. Individuum - ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste (Bilden)
2. 3. Neurotische Störungen in der Nach- / Postmoderne (Hohl)

3. Der Werkzyklus ‚Menschenbilder‘ und seine Themenkreise:
3. 1. Arbeit – Abschied – Dinge – Familie: Lebenswelten im sozio-kulturellen Kontext einer instabilen postmodernen Gesellschaft
3. 1. 1. ‚Eggs on earth‘: Arbeitswelt: das Subjekt zwischen Selbst-Verleugnung und Authentizität
3. 1. 2. ‚Lucky Days, Fremder‘: Abschied vs Neubeginn: Identitätssuche in der Klammer von Bruch und Diskontinuität
3. 1. 3. ‚Lilli in putgarden‘: Die belebte Dingwelt und das Individuum: von Konsum bis Fetischismus – Design bestimmt das Sein
3. 1. 4. (‚Titel noch unbekannt?‘): Familie: Schauplatz der Verhandlungen

4. Im Focus: ‚Lilli in putgarden‘- Inszenierung eines Spiels mit und über Dinge und Menschen
4. 1. Die Macht der Dinge: Vom herrschsüchtigen Eigenleben der Alltagsgegenstände - das unterworfene Subjekt
4. 2. Die Video-Clips: Präsentation verlebendigter Dinge – im poetischen Tanz der Verführung
4. 3. Zwischen Objekt-Liebe und mittelbaren Subjektbeziehungen: die neue Einsamkeit des Individuums – auf verlorenem Posten in einer Waren-Welt

5. Conclusio: Auf der Suche nach der verlorenen Identität?

6. Literaturangabe +

Anhang (Kritik ‚Lilli in putgarden‘)

1. Arbeitsthese: Werkzyklus lesbar als Reflexion postmoderner Identitätsproblematik?

Ich möchte im Rahmen dieser Arbeit den Versuch unternehmen, den Werkzyklus ‚Menschenbilder‘ der Berliner Gruppe Nico and the Navigators auf der Folie der Reflexion einer postmodernen Identitätsproblematik zu lesen.

Schon der Titel ‚Menschenbilder‘ verweist auf die Möglichkeit dieser Themenstellung und als ‚Bilder-Theater‘ inszenieren Nico and the Navigators dann auch verschiedene Aspekte heutiger Lebenswelten, innerhalb derer irritiert blickende, abwesend wirkende Figuren umherwandeln wie Fremde in einer entfremdeten Welt. Sie visualisieren „die existentielle Verunsicherung des Einzelnen, der an der Schnittstelle zwischen Sein und Design das Bewusstsein von sich selbst verliert[1].

Die Regisseurin Nicola Hümpel benennt hier grundlegende Gefühle der Verunsicherung und der Selbstentfremdung des ‚postmodernen‘ Menschen und schlägt damit den Bogen zu einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie und ob ein Individuum heute eine Identität bilden kann.

Die Suche nach Identität und deren Konstituierung innerhalb der heutigen (westlich-spätkapitalistischen) Gesellschaftsformen weist einige spezifische Probleme aber auch Möglichkeiten auf. Dass in der gegenwärtigen - postmodernen - Gesellschaft „das ‚Menschliche‘ zunehmend auf biologische Prozesse reduziert (wird), was die Vorstellung des Menschen von sich selbst rationalisiert und seine Gefühlswelt kompliziert und verelenden läßt“[2], konstatiert auch Nicola Hümpel.

Der traditionell ‚ganzheitliche‘ Identitätsbegriff der Moderne greift nicht mehr, aber es lassen sich besonders in der reflexiven Sozialpsychologie Theoriebildungen ausmachen, die sich mit der Konstruktion neuer ‚offenerer‘ Identitätsbegriffe vor dem sozio-kulturellen Hintergrund der Postmoderne beschäftigen.

Zu Anfang meiner Arbeit möchte ich in Kapitel zwei auf ein zwei dieser aktuellen Identitäts-Konzepte näher eingehen und dabei die realen Risiken und Problematiken einer Identitätbildung für das ‚postmoderne‘ Individuum erläutern. Anschliessend umreisse ich kurz ‚typische‘ nachmoderne Störungsformen, die die ‚intakte‘ Identität des Individuums heute vermehrt zu beeinträchtigen scheinen.

In Kapitel drei versuche ich dann, innerhalb der Themenkreise der vier einzelnen Inszenierungen: Arbeit – Abschied – Dinge – Familie die thematischen Bezugsetzungen zum Subjekt und die Querverbindungen zur postmodernen Identitätsproblematik aufzuzeigen.

Im vierten Kapitel möchte ich dann mittels einzelner Szenenausschnitte des dritten Stückes des Werkzyklus, ‚Lilli in Putgarden‘, versuchen, Aspekte des Themas der bedrohten Identität des Subjekts in einer ‚Warenwelt‘ herauszuarbeiten und dabei einige Spezifika der Theatersprache der Gruppe in der Inszenierung zu verorten.

Im Conclusio folgt dann eine kurze persönliche Stellungnahme, bezugnehmend auf den Wunsch Nicola Hümpels, der Zyklus ‚Menschenbilder‘ solle mittels seiner spezifischen Theatersprache den Rezipienten / die Rezipientin anregen, „sich und seine (/ ihre) eigene Welt in dem jeweiligen Themenkontext schärfer zu erkennen und zu reflektieren[3].

2. Theoretischer Hintergrund: Eine Reflexiv-SozialpsychologischeTheorie zur postmodernen / nachmodernen Identität

Nico and the Navigators versuchen im Zyklus ‚Menschenbilder‘ Individuen in Interaktion mit einer „von Menschen erfundenen und empfundenen Welt[4] zu zeigen. Die Figuren wirken allerdings vielmehr wie verunsicherte, „entseelte“ Wesen, ihrer selbst und ihrem Agieren und Re-agieren weitgehend entfremdet. Sie erscheinen als Zerrbilder des an seiner Lebenswelt gescheiterten, postmodernen Menschen, der „unausweichlichen Einsamkeit im alltäglichen Miteinander“ ausgeliefert.

Innerhalb meiner Arbeit möchte ich die ‚Menschenbilder‘ unter die Lupe nehmen, die im Werkzyklus ‚erschaffen‘ wurden und zu klären versuchen, ob, wie und in welchen thematischen Kontexten deren Identitätsproblematik inszeniert wurde und wie sich dies letztendlich auf ihr Verhalten auswirkt.

Um handlungsfähig zu sein, benötigt das Subjekt ein Verständnis ‚seiner Selbst‘, die Idee einer Identität. Diese Identität entwickelt sich jedoch immer vor dem sozio-kulturellen Hintergrund der jeweiligen Lebenswelt, die das Subjekt umgibt.

Ich werde nun zwei reflexiv-sozialpsychologischen Theorien zur post- / nachmodernen Identität des Individuums beschreiben, die unsere postmoderne Gesellschaft(en) als identitätsstiftend miteinbeziehen. Beide Theorien betonen unterschiedliche Aspekte eines ähnlichen Grundansatzes: Heiner Keupp gestaltet seinen Ansatz eher „überblickartig“ und anschaulich, Helga Bilden präzisiert ihre Perspektive, arbeitet sie differenziert und vielschichtig aus. Daher möchte ich beide Theorien in meine Arbeit einbeziehen, auch wenn sich dadurch der Theoriekomplex etwas erweitert. Danach werde ich kurz anhand einer These psycho-therapeutischer Provenienz von Joachim Hohl spezifische Erscheinungsformen ‚nachmoderner‘ neurotischen Störungen beschreiben, die die ‚intakte‘ Identität des Individuums heute oftmals gefährden und darüber hinaus die Lebens- und Erlebens-Qualität des Einzelnen massiv einschränken.

Ich beziehe mich im folgenden auf Veröffentlichungen von Lehrenden des Münchner Institutes für reflexive Sozialpsychologie und des Institutes für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität.

2. 1. Patchwork-Identität (Keupp)

Heiner Keupp definiert seinen aktuellen Begriff von Identität folgendermaßen:

Identität ist ein Projekt, das zum Ziel hat, ein individuell gewünschtes oder notwendiges ‚Gefühl von Identität‘ zu erzeugen. Basale Voraussetzungen für dieses Gefühl sind soziale Anerkennung und Zugehörigkeit. Auf dem Hintergrund von Pluralisierungs-, Individualisierungs- und Entstandardisierungsprozessen ist das Inventar übernehmbarer Identitätsmuster ausgezehrt. Alltägliche Identitätsarbeit hat die Aufgabe, die Passungen und die Verknüpfungen unterschiedlicher Teilidentitäten vorzunehmen. Qualität und Ergebnis dieser Arbeit findet in einem machtbestimmten Raum statt, der schon immer aus dem Potential möglicher Identitätsentwürfe bestimmte behindert beziehungsweise andere favorisiert, nahelegt oder gar aufzwingt. Qualität und Ergebnis der Identitätsarbeit hängen von den Ressourcen einer Person ab, von individuell-biographisch fundierten Kompetenzen über die kommunikativ vermittelten Netzwerkressourcen bis hin zu gesellschaftlich-institutionell vermittelten Ideologien und Strukturvorgaben. Das Identitätsprojekt muss nicht von einem Wunsch nach einem kohärenten Sinnganzen bestimmt sein, wird aber von Bedürfnissen geleitet, die aus der persönlichen und gesellschaftlichen Lebenssituation gespeist sind. Insofern konstruieren sich Subjekte ihre Identität nicht in beliebiger und jederzeit revidierbarer Weise, sondern versuchen sich in dem, was ich Gefühl von Identität genannt habe, in ein ‚imaginäres Verhältnis zu ihren wirklichen Lebensbedingungen‘ zu setzen. Beim Herstellen dieser Identitätskonstruktionen werden zumindest ‚Normalformtypisierungen‘ benötigt (Identifikationen), Normalitätshülsen oder Symbolisierungen von alternativen Optionen, Möglichkeitsräumen oder Utopien.[5]

Keupps Verständnis von Identität hat sich auf der Folie der gesellschaftlichen Problemstellungen der Postmoderne entwickelt.

Sehr vereinfacht kann die Postmoderne auf sozio-kultureller Ebene als eine spezifische gesellschaftliche Umbruchsperiode beschrieben werden, innerhalb derer sich die Beziehung von Individuum und Gesellschaft neu formt. Indem sich die gesellschaftlichen Lebensformen verändern, entstehen qualitativ neue Idividualisierungs-Schübe:

Weitreichende ökonomische und technologische Umgestaltungen der spätkapitalistischen Gesellschaften haben zu einer konsequenzenreichen ‚Freisetzung‘ (des Subjekts) aus festgefügten Lebensformen und Sinnzusammenhängen geführt. Das zeitgenössische Subjekt erlebt einen Verlust von Kontexten, in denen die Koordinaten für einen Lebensentwurf und für eine Bewältigung von Alltagssituationen relativ stabil vorgegeben waren.[6]

Aufgrund postmoderner gesellschaftlicher Umbrüche werden der „Status Quo der Moderne“ und damit die für den Alltag gesicherten, weil genormten „Orientierungsleitfäden“ zunehmend fragwürdig.

Der Soziologe Ulrich Beck benennt einen weiteren problematischen Aspekt der postmodernen Gesellschaft für das Subjekt:

In den enttraditionalisierten Lebensformen entsteht eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch sehr bedingt und vermittelt wahrgenommen werden können.[7]

Das Subjekt bleibt auch in unmittelbarer Reaktion auf gesellschaftlich bedingte Krisensituationen „auf sich selbst zurückgeworfen“.

Neben diesen gravierenden Konsequenzen für das Individuum bieten sich ihm aber auch neue Chancen der Verwirklichung der eigenen Lebenswünsche. Denn das Individuum ist aufgrund seiner Individualisierung und Freisetzung aus gesellschaftlichen Kontexten zunehmend allein verantwortlich für Planung und Organisation des eigenen Lebens.

Die Biographie in eigener Regie zu gestalten ist wiederum mit einigen Schwierigkeiten verbunden, da:

„in diesen (postmodernen) Erosionsprozessen die großen religiösen, philosophischen, kulturellen und politischen Deutungsmuster und Formationen ihre Konstruktionskraft (verlieren). Auf sie kann der (die) einzelne seiner (ihrer) eigenen Biographiebastelei und Identitätsarbeit immer weniger als ordnenden Rahmen zurückgreifen. Er (Sie) sieht sich mit den Bruchstücken jenes zerfallenen ‚Gehäuses der Hörigkeit‘ konfrontiert. Nun besteht die Aufforderung darin, sich seine Behausung selbst zu konstruieren und zu bauen. Die eigene Lebenssituation spiegelt sich in einer Art ‚Zerbrochenem Hohlspiegel‘. Es liefert kein widerspruchsfreies, sondern ein hochfragmentiertes Puzzle.“[8]

Hierauf bezieht sich Keupp, wenn er seine Idee der ‚Patchworkidentität‘ entwickelt. Er betrachtet die postmodernen Menschen als ProduzentInnen ‚individueller Lebens-Collagen‘. Sie konstruieren aus der Pluralität der gesellschaftlich bestehenden Lebensstile und Sinnelemente eine eigene Identität.

Keupp formuliert die Metapher des Patchworks für die postmoderne Identitätsbildung. Mittels dieser Metapher lässt sich einerseits die Identitätsbildung in der Postmoderne mit der klassisch-modernen Identitäts-Vorstellung vergleichen, bzw. sich von ihr unterscheiden, zum anderen lässt sich anhand des Entwurfes und der Verwirklichung eines Patchworkproduktes der Prozess der postmodernen Identitätsbildung bildhaft verdeutlichen.

Hier (bei einem Patchwork) bedarf es der Idee und der Realisierung einer ganzheitlichen Gestalt, der Abstimmung von Farben und Mustern, der Verwendung von geeigneten Stoffen. (...)

Die klassischen Patchworkmuster entsprechen dem klassischen (modernen) Identitätsbegriff. Da sind geometrische Muster in einer sich wiederholenden Gleichförmigkeit geschaffen worden. Sie gewinnen eine Geschlossenheit in diesem Moment der durchstrukturierten Harmonie, in einem Gleichgewichtszustand von Form- und Farbelementen. Der ‚Crazy Quilt‘ hingegen lebt von seiner überraschenden, oft wilden Verknüpfung von Formen und Farben, zielt selten auf bekannte Symbole und Gegenstände. Gerade in dem Entwurf und der Durchführung eines solchen ‚Fleckerlteppichs‘ kann sich eine beeindruckende schöpferische Potenz ausdrücken.

Wieder zurückübersetzt in identitätstheoretische Überlegungen lässt sich sagen, dass Identitätsbildung unter Bedingungen der Gegenwart etwas von diesem ‚Crazy Quilt‘ hat.[9]

Auch die postmoderne Identitätsbildung ist ungleichförmig, widersprüchlich und bildet kein harmonisch-ausgewogenes Gesamt-Ich. Die postmoderne Identität schöpft ihr kreatives Potential vielmehr aus Diskontinuität und Uneinheitlichkeit.

Keupp betont weiterhin, dass die Patchworkidentität durchaus innere Kohärenz besitzt, was letztendlich die entscheidende Bedingung für psychische wie physische Gesundheit sei. Das Individuum benötigt für ein stabilisierendes Kohärenzgefühl kein starres Koordinatensystem von Normen und Sinnorientierungen, es kann vielmehr diese Kohärenz in einem „kreativen Prozess der Selbstorganisation“ der Identitätsarbeit (im Sinne der Bildung einer Patchworkidentität) konstruieren. Allerdings benötigt das Subjekt spezifische Ressourcen und Kompetenzen, um aus Fragmenten ein Identitätsmuster wie das des Patchworks gestalten zu können. Als Ressourcen nennt Keupp zum einen materielle Ressourcen, die in unserer spätkapitalistischen Gesellschaft zunehmend ungleich verteilt sind. Zum anderen nennt er soziale Ressourcen, also spezifische Fähigkeiten, die eigenen sozialen Lebenswelten und sozialen Netzwerke aufeinander zu beziehen und miteinander zu verknüpfen. Ausserdem ist die Fähigkeit zum Aushandeln notwendig, um die Regeln, Normen, Ziele und Wege beständig neu verhandeln zu können und mit unserem Umfeld abzustimmen.Ebenso notwendig ist eine individuelle Gestaltungskompetenz, die die selbstständige Verknüpfung und Kombination multipler Realitäten erleichtert.

Im Rahmen der ökologischen Lebensbedingungen in einer postmodernen Gesellschaft mit ihren spezifischen Problemstellungen (wie spätkapitalistisches Wirtschaftssystem, Wettbewerbs- und Konsumorientierung, Medialisierung, Fragmentierung und Zersplitterung, Pluralisierung, Individualisierung etc.) kann es dem Subjekt leicht an einem „Urvertrauen zum Leben und seinen ökologischen Voraussetzungen“ mangeln. Aber die „genannten psychischen, sozialen und materiellen Ressourcen und Kompetenzen haben besonders ein Gefühl des Vertrauens in die Kontinuität des Lebens zur Bedingung“[10].

Folglich konstatiert Keupp, dass das postmoderne Subjekt in erhöhtem Maße Risiken und Krisen wie dem Gefühl des Identitätsverlustes, der Selbstentfremdung, der Demoralisierung ausgesetzt ist. Damit sind seine realen Möglichkeiten zur Identitätsbildung eingeschränkt. Das Individuum läuft Gefahr, die Hoffnung aufzugeben, in der eigenen Lebenswelt etwas sinnvoll gestalten zu können.

Die Welt wird als nicht mehr lenkbar erlebt, als ein sich hochtourig bewegendes Rennauto, indem die Insassen nicht wissen, ob es eine Lenkung besitzt und wie diese zu betätigen wäre.[11]

Es können sich beim Subjekt also ‚kafkaeske‘ Gefühle der Machtlosigkeit und Handlungsunfähigkeit gegenüber einer sinnlich und rational nicht mehr fassbaren, ‚dezentrierten‘ Welt einstellen. Aufgrund des daraus resultierenden Verlustes der Sinnhaftigkeit des Lebens an sich kann das Subjekt sein Selbst, also seine ‚intakte‘ Identität, in absoluter Verunsicherung und diffusen Ängsten verlieren. Genau diese Problematik, aber auch den Versuch, die Welt doch noch sinnhaft erfassen zu können, denke ich, bietet der Werkzyklus ‚Menschenbilder‘ als Lesemöglichkeit an.

2. 2. Individuum – ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste (Bilden)

Helga Bilden formuliert ein Konzept, das ähnlich angelegt ist wie Keupps Entwurf einer Patchwork-Identität. Auch sie plädiert für einen ‚freieren‘ Identitätsbegriff, der eine Vielzahl möglicher Teil-Identitäten impliziert. Da Frau Bilden einige Aspekte eines solchen ‚dynamischen‘ Identitätssystems akzentuiert und ausdifferenziert, die Heiner Keupp eher unberücksichtigt bzw. inkonkret belässt und die mir aber (nicht nur) im Kontext dieser Arbeit als interessant und wichtig erscheinen, gehe ich an dieser Stelle kurz auf ihren Ansatz eines neuen Identitätsverständnisses ein.

Bilden definiert die Identität eines Individuums als ein „dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste“[12] und betont, dass ihr Modell für Subjektsein „in sich vielfältig und dynamisch veränderungsfähig ist“[13]. Sie möchte in ihren Ausführungen generell „einen erweiterten Denkrahmen liefern, wie wir uns erstens eine Vielzahl von Individualitätsformen und zweitens Vielfalt und Beweglichkeit innerhalb des Individuums, der Person, vorstellen könnten“[14].

In ihrem ersten Punkt stellt sie sich (als eine Vertreterin der feministischen Perspektive der Sozialpsychologie) gegen das – noch in der Moderne dominante - androzentrische Verständnis von Identität als ein rein männliches, einheitliches und autonomes Selbst. Sie verweist auf den postmodernen Diskurs über den ‚Tod des Individuums‘ und das ‚Ende des Subjekts‘, in dem sie den androzentrischen Identitäts-Begriff (in positivem Sinn) verabschiedet sieht.

Ihrer Ansicht nach entspricht die ‚Dezentrierung‘ des Subjekts der Dezentrierung der Weltsichten, die wir erleben und der Vielzahl von Wahrheiten und Lebensformen, die heute ‚gleichberechtigt‘ nebeneinander existieren. Bilden plädiert für eine Akzeptanz einer Vielzahl von Formen des Individuum-Seins, als Voraussetzung dafür, mit der Pluralität der postmodernen Gesellschaftsformen „leben zu können, ohne rigide unterordnen und ausgrenzen zu müssen“[15]. ‚Tod dem Subjekt‘ also, ‚es lebe die Vielzahl neuer Identitätsformen‘. In ihrem - postmodernen - Identitäts-Konzept wendet Bilden sich gegen „unbedingte Einheit und Eindeutigkeit (des Subjekts) durch Unterdrücken ungeliebter Seiten“[16] und gegen Identität als Substanz und Festigkeit. Sie betont hingegen die Beweglichkeit und den prozesshaften Charakter ihres Modells. Im folgenden umreisse ich kurz Helga Bildens Konzept des Individuums als eines dynamischen Systems vielfältiger Teil-Selbste anhand von fünf wichtigen Aspekten:

Erstens, „Individuen sind als offene Systeme zu verstehen, die sich im Austausch mit der Umwelt entwickeln und erhalten“[17]. Individuen sind einerseits – bedingt – autonom und autopoietisch, da sie sich selbst und ihre Welt immer wieder ‚hervorbringen‘, andererseits können sie weder psychisch noch sozial ohne Austausch und Verbindung leben. Bilden bezeichnet dieses „Wechselspiel von Verbundenheit und Autonomie, (dieses) um Sich-Abgrenzen und Fließen bzw. Aufnehmen“[18] als ‚dynamische Autonomie des Selbst‘.

Zweitens, das Individuum ist ein offener Prozess, ist Werden.

Bilden konstatiert, dass lebenslange, bewusste Entwicklung ihrer selbst für die Subjekte notwendig ist:

Um bei sprunghafter Veränderung der materiellen und symbolischen Lebensbedingungen nicht nur Objekte der sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern wenigstens teilweise Akteure und Akteurinnen, Regisseure und Regisseurinnen des eigenen Lebens zu bleiben, müssen die einzelnen ihr Selbstverständnis und ihre Lebensentwürfe immer wieder überprüfen und vielleicht ändern.[19]

Dies bedeutet eine Korrektur des Denkens: weg von der traditionellen Kategorie des Seins, hin zu Kategorien der Selbst-Vorstellung als Prozess, Werden, als ‚Sich-Selbst-immer-wieder-Zusammensetzen‘.

Drittens, ist das Individuum als ein System von Teil-Selbsten zu denken, wobei diese Teil-Selbste verschiedene Selbst-Kategorien umfassen: Zum einen benennt Bilden hier „die Vielzahl der eigenen Selbste im Lauf der Biographie oder im ‚Strom des Bewusstseins‘ (Henri Bergson) durch die Zeit“[20].

Zum anderen nennt sie die Vielzahl von Rollen-Selbsten aus den verschiedenen Lebensbereichen und Beziehungen, wobei die Individuen ihre Rollen-Selbste meist als „nebeneinander bestehende, nicht hierarchische, mehr oder weniger getrennte Selbste“[21] leben. Bilden bezeichnet weiterhin die „möglichen Selbste und schliesslich die abgelehnten, die Schatten-Selbste“ als weitere Teil-Selbste. Die ‚möglichen Selbste‘ verweisen auf die Optionen des Individuums auf eine offene Zukunft, sie verweisen auf die Aufgeschlossenheit, den eigenen Wunschvorstellungen und Hoffnungen eine Möglichkeit ‚im Morgen‘ zu belassen. Auch wenn diese Wünsche sich vielleicht als nicht-realisierbare Utopien offenbaren, so sind diese ‚möglichen Selbste‘ doch wichtige und aufschlussreiche Bestandteile des Individuums. Unter den ‚abgelehnten Selbsten‘ versteht Bilden „die polaren Gegenstücke zu den Teilen von uns selbst, mit denen wir uns identifizieren. (...) Aber immer wieder bricht die Schattenseite durch. Sie dem bewussten Selbst nahezubringen, sie zu integrieren ist Ziel...“[22].

Viertens, dieses dynamische System der Vielzahl von Teil-Selbsten ist nicht als streng- hierarchisches Konstrukt zu verstehen, die Verbindungen zwischen den verschiedenen Teil-Selbsten (oder Subsystemen) sind vielmehr fliessend, flexibel und variabel; mal locker, mal fester geknüpft, immer kommunizierend und kooperativ.

Durch eine eher lockere Verbindung mehrerer Teil-Selbste kann die Person an Stabilität gegen Erschütterungen und Enttäuschungen gewinnen. Störungen in einem Lebensbereich, einem Teil-Selbst können eher ausgehalten und gemeistert werden, weil sie nicht die ganze Person treffen; diese kann aus wohlfunktionierenden Lebensbereichen Befriedigung, Anerkennung und Energie schöpfen, um Probleme in einem anderen Bereich anzugehen. Wenn eine Person ihre verschiedenen Selbste dagegen (zu) eng miteinander verkoppelt, werden Widersprüche vielleicht unerträglich, sie muss sie verleugnen oder sich aus einem Lebensbereich zurückziehen.[23]

Diese variablen und flexiblen, ‚elastischen‘ Verbindungsformen der Teil-Selbste zu einem dynamischen Selbst-system könnte dem Individuum eine höhere Ambiguitätstoleranz – das Ertragen uneindeutiger, unstrukturierter Situationen – und Ambivalenztoleranz ohne permanente innere Spannungen ermöglichen, beides erscheint „angesichts von Spannungen und Ungleichzeitigkeiten in der Gesellschaft, für das Überschreiten von einengenden Geschlechterrollen wie auch das Erproben neuer Lebensmöglichkeiten notwendig“[24].

Fünftens, auch Bilden merkt (wie Keupp) an, dass ein Individuum ohne die Erfahrung von Kohärenz und Kontinuität nicht gesund existieren kann. Sie sieht für das heutige Individuum, als System vielfältiger Teil-Selbste, inmitten der problematischen gesellschafltichen Strukturen der Postmoderne, Möglichkeiten von „dynamischen und elastischen“ Kohärenz- und Kontinuitätserfahrungen. Diese können „am ehesten in vielfältigen sozialen Beziehungen und Tätigkeiten“ entstehen, abhängig allerdings davon, wie hoch das spezifische Bedürfnis des jeweiligen Individuums an Kohärenz und Kontinuität in seinem Leben ist. Abhängig auch davon, inwieweit das jeweilige Individuum aufgrund der eigenen Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen überhaupt in der Lage ist, Kohärenz und Kontinuität in der eigenen Lebenswelt aktiv und bewusst herzustellen.

[...]


[1] Slevogt, Esther. Kritik. taz 16-7-2001

[2] www.navigators.de

[3] www.navigators.de

[4] ebd.

[5] Keupp, Heiner: Diskursarena Identität. In: Keupp, H. und Höfer, Renate (Hg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997; S. 34 / 35

[6] Keupp, Heiner: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. In: Keupp, H. und Bilden, Helga (Hg.), Verunsicherungen.Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel. Göttingen: Hogrefe 1989; S. 14

[7] Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine neue Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986; S. 118

[8] Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine neue Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986; S. 118

[9] Keupp, Heiner: Diskursarena Identität. In: Keupp, H. und Höfer, Renate (Hg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997; S. 18 / 19

[10] Keupp, Heiner: Diskursarena Identität. In: Keupp, H. und Höfer, Renate (Hg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997; S. 21

[11] ebd.

[12] Bilden, Helga: Das Individuum – ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste. In: Identitätsarbeit Heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997; S. 227

[13] ebd.

[14] ebd.

[15] Bilden, Helga: Das Individuum – ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste. In: Identitätsarbeit Heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997;. S. 228

[16] ebd.

[17] Bilden, Helga: Geschlechterverhältnis und Individualität im gesellschaftlichen Umbruch. In: Keupp, H. und Bilden, Helga (Hg.), Verunsicherungen.Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel. Göttingen: Hogrefe 1989; S. 41

[18] Bilden, Helga: Das Individuum – ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste. In: Identitätsarbeit Heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997; S. 234

[19] ebd. S. 237

[20] ebd. S. 238

[21] Bilden, Helga: Das Individuum – ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste. In: Identitätsarbeit Heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997; S. 240

[22] ebd. S. 242

[23] ebd. S. 243

[24] ebd. S. 244

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Die Berliner Performance/Theater-Gruppe Nico and The Navigators: Werkzyklus 'Menschenbilder'- Auf der Suche nach der verlorenen Identität
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Theaterwissenschaft)
Veranstaltung
Performance / Spielart
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
41
Katalognummer
V14371
ISBN (eBook)
9783638197908
ISBN (Buch)
9783656760108
Dateigröße
644 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Berliner, Performance/Theater-Gruppe, Nico, Navigators, Werkzyklus, Menschenbilder, Suche, Identität, Performance, Spielart
Arbeit zitieren
Babette Kraus (Autor:in), 2002, Die Berliner Performance/Theater-Gruppe Nico and The Navigators: Werkzyklus 'Menschenbilder'- Auf der Suche nach der verlorenen Identität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14371

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