Modernekonzepte im expressionistischen Drama


Examensarbeit, 2009

97 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG

2 MODERNE
2.1 Vorüberlegung: Semantik
2.2 Zeitliche Einordnung
2.3 Ästhetische und gesellschafliche Moderne
2.4 Merkmale der gesellschaflichen Moderne
2.4.1 Wirtschaf, Staat & Gesellschaf
2.4.2 Lebenswelt
2.4.3 Denken und Bewusstsein

3 EXPRESSIONISMUS UND MODERNE - ÜBERBLICK ÜBER DIE FORSCHUNG

4 DARSTELLUNG DER MODERNE IM EXPRESSIONISTISCHEN DRAMA
4.1 Wirtschaf, Staat & Gesellschaf
4.1.1 Industrialisierung und technologische Rationalisierung
4.1.2 Kapitalisierung
4.1.3 Funktionale Differenzierung
4.1.4 Staatliche Entwicklungen
4.2 Lebenswelt
4.3 Denken und Bewusstsein
4.3.1 Rationalität als Leitnorm
4.3.2 Subjektautonomie und Individualismus
4.3.3 Wahrheitspluralismus

5 GEGENENTWÜRFE ZWISCHEN RÜCKSCHRITT UND NEUANFANG
5.1 Apokalyptische Muster
5.2 Die Vormoderne als Ausweg

6 ZUM SELBSTBILD DER AUTOREN

7 ZUSAMMENFASSUNG & AUSBLICK

8 LITERATURVERZEICHNIS
8.1 Primärliteratur
8.2 Sekundärliteratur

1 Einleitung

Was wird das beste? Nicht aufzutauchen und in den Sturm ver- schleppt zu werden, der an die Küsten fährt. Da brüllt Tumult und zerrt uns in die Raserei des Lebens. Angetriebene sind wir al- le - Ausgetriebene von unserm Paradies der Stille. Losgebrochene Stücke vom dämmernden Korallenbaum - mit einer Wunde vom ersten Tag an. Die schließt sich nicht - die brennt uns - unser fürchterlicher Schmerz hetzt uns in die Laufahn!1

Aus der Passage aus Georg Kaisers Drama Die Koralle schlägt dem Leser eine Mischung aus Schmerz, Angst und Verlustgefühl entgegen. Losgerissen vom Ganzen treibt das Subjekt dort in der unberechenbaren Strömung seiner Umwelt umher, verletzt und verloren. Man könnte das Bild leicht umkehren und die Freiheit des unendlich scheinenden Meeres mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten loben, es von der bedrückenden Enge des Korallenbaums abgrenzen. Die Frage, warum Georg Kaiser das nicht tut, sondern sich für die negative Variante entscheidet, führt direkt zum Thema dieser Arbeit.

Zu viel Freiheit kann verängstigen; wenn ein Seiltänzer nach unten schaut und ihn Schwindel befällt, wird er wohl kaum die luftige Freiheit seiner Situati- on preisen, sondern sich festen Boden unter den Füßen zurückwünschen. Ähn- lich verhält es sich offensichtlich mit der Moderne, die dem Subjekt den soliden Boden einer einheitlichen, allumfassenden Sicht auf seine Umwelt nimmt und es auf sich selbst zurückwirft. Dieser Analogie folgend, wären die Seiltänzer, die mit ihrer Freiheit nicht nur zurechtkommen, sondern mit ihr spielen, in dem zu suchen, was in Philosophie und den Künsten Postmoderne genannt wird. Bis dorthin lassen sich hauptsächlich Beispiele dafür finden, dass die Freiheit der Moderne auch als mangelnder Halt interpretiert werden kann, aus dessen lufti- gen Höhen man sich zurück auf die Geborgenheit eines sicheren Bodens wünscht.

In dieser Arbeit sollen Dramen des Expressionismus aus der Fragestel- lung heraus betrachtet werde, wie sie mit den Phänomenen der Moderne umge- hen. Wie stellen sie Moderne dar, wie bewerten sie sie, aber zunächst: Was ist überhaupt Moderne? Am Beginn der Untersuchung steht daher der Versuch, eine Terminologie zu entwickeln, welche die verschiedenen Aspekte der Mo- derne erfasst. Nach einem kurzen Überblick über die bisherige Forschung zum Thema Expressionismus und Moderne werden die untersuchten Dramen im Folgenden auf deren Darstellung und Bewertung von Moderne hin betrachtet. Analog zum obigen Bild lautet die Frage in diesem Kapitel also, ob die Autoren der Texte auf dem Seil tanzen oder sich daran festklammern und sich stattdes- sen festen Boden unter den Füßen wünschen. Wie dieser Boden überhaupt be- schaffen sein könnte, wird im darauffolgenden Kapitel zu betrachten sein, in dem Gegenentwürfe zur Moderne untersucht werden, die in den Dramen prä- sentiert werden. Der Abschluss der Untersuchung wird von der Frage be- stimmt, welche Rolle die Autoren für sich selbst sehen und wer überhaupt den Stoff produzieren könnte, aus dem ein neuer, sicherer Boden beschaffen sein müsste. Zusammenfassend lautet die Grundfragestellung also: Welche Konzepte von Moderne finden sich im Drama des Expressionismus?

Der Titel dieser Arbeit spricht von dem expressionistischen Drama und enthält damit eine Verallgemeinerung. Bei der Textauswahl ist daher darauf zu achten, dass eine solche Verallgemeinerung auch plausibel gemacht wird, wozu sich vor allem bekannte Texte wichtiger Autoren anbieten. Somit fiel die Wahl auf kanonische Texte des Expressionismus, allen voran die expressionistischen Stationendramen schlechthin, Georg Kaisers Von morgens bis mitternachts und Ernst Tollers Die Wandlung. Zudem werden Kaisers Die Bürger von Calais so- wie dessen Gas-Trilogie, Tollers Masse Mensch sowie Walter Hasenclevers Der Sohn auf ihre Auffassungen von Moderne hin untersucht. Diese Textauswahl erlaubt nicht nur eine verallgemeinernde Ausweitung der aufgestellten Thesen auf das gesamte Drama des Expressionismus, sondern bietet einen weiteren Vorteil: Bei allen hier untersuchten Dramen handelt es sich um Werke, die von der Forschung umfangreich und tiefgreifend betrachtet wurden. Gerade da- durch wird die Anwendung eines neuen Blickwinkels interessant, da Unter- schiede zu bisherigen Interpretationen deutlich zum Vorschein kommen. Die Grundannahme der hier vorliegenden Betrachtung lautet, dass Lite-ratur immer auch eine Reaktion auf ihr gesellschaftliches Umfeld ist, und dass dieses Umfeld der Moderne über einen großen Zeitraum ähnliche Fragen auf-wirft, die beantwortet werden müssen. Weiterhin wird angenommen, dass sich die Fragen der Menschen zur Zeit des Expressionismus zwar in ihren Ausprä-gungen von den Fragen der heutigen Zeit unterscheiden, sie aber die essenzielle Gemeinsamkeit haben, dass sie sich aus Phänomenen der Moderne ergeben. Wenn die Grundfragen also die gleichen sind, so lassen die Antworten, die ver-schiedene Zeiten auf sie gefunden haben, sich nicht zur zum Auffinden von Ge-meinsamkeiten und Unterschieden vergleichen, sondern auch zum Infragestel-len oder Schärfen der eigenen Position.2

2 Moderne

Der Begriff Moderne und, in noch größerem Maße, dessen Adjektiv modern werden zwar einerseits von den meisten Menschen intuitiv verstanden und ver- wendet, zeichnen sich aber trotzdem - oder gerade deshalb - durch eine be- griffliche Unschärfe aus und entziehen sich so einer einfachen Definition. Im Rahmen dieser Arbeit wird es weder möglich noch nötig sein, eine umfassende Definition des Begriffs Moderne vorzulegen. Ziel dieses Kapitels ist es vielmehr, eine möglichst klare begriffliche Grundlage in Form eines Arbeitsbegriffs zu schaffen, auf dessen Basis die Analyse der einzelnen Werke aufbauen kann.

2.1 Vorüberlegung: Semantik

Der Begriff der Moderne ist nicht nur unscharf, er ist auch stark an den jeweili- gen Blickpunkt gebunden und kann, aus verschiedenen Perspektiven betrach- tet, sogar völlig gegensätzliche Bedeutungen annehmen. Wenn ein Industrieller im späten 19. Jahrhundert seine Fabrik modernisieren wollte, verstand er dar- unter, dass die Arbeiter sich dem Rhythmus der neuen Produktionsmaschinen anpassen mussten. Wird heute eine Fabrik modernisiert, so wird die Arbeits- methode hingegen so weit wie möglich den Bedürfnissen des Menschen ange- passt.3 Schon dieses einfache Beispiel zeigt Probleme bei der Definition des Be- griffs Moderne.

Bei der Annäherung an einen so schwierigen und unscharfen Begriff ist es meist ein sinnvoller erster Schritt, sich seinen semantischen Kern klarzuma- chen und von dort aus weitere Bedeutungsebenen zu erschließen. Im Fall der Moderne lassen sich drei unterschiedliche Grundbedeutungen ausmachen, die sich je nach Verwendung überschneiden können und die sich jeweils über ge- gensätzliche Begriffspaare verdeutlichen lassen4: Die erste Bedeutungsmöglich- keit erschließt sich aus dem Gegensatz zwischen Gegenwart und Vergangenheit, wobei das Moderne die jeweilige Gegenwart eines lange bestehenden Konzeptes oder einer Institution darstellt. Ein Beispiel für diese Verwendung ist die all- jährlich wiederkehrende Sommermode, die immer wieder neu sein und sich gegen das Vergangene, schon da gewesene abgrenzen muss. Die zweite Bedeu- tungsmöglichkeit ist im Begriffspaar neu und alt präsent - für diese Verwen- dung muss die eigene Gegenwart von einer als homogen empfundenen Epoche abgegerenzt werden. Gerade diese Abgrenzung ist in der dritten Bedeutungs- möglichkeit nicht mehr gegeben. Hier lautet das Begriffspaar transitorisch und ewig; eine Verwendung, die davon zeugt, dass die Gegenwart als so schnell vo- rübergehend gesehen wird, dass sie nicht mehr klar von einer homogenen Ver- gangenheit abgegrenzt werden kann. Als ihr als Gegenpol des Jetzt kann nur noch die Ewigkeit gestellt werden, die weder Anfang noch Ende besitzt.5

Während die erste Bedeutungsmöglichkeit relativ unabhängig von den beiden anderen ist und sich ihre Bedeutung kaum verändert hat, kann man an- hand der Möglichkeiten zwei und drei einen geistesgeschichtlichen Wandel aus- machen. Wird der Begriff modern im Sinne eines Neuen und im Gegensatz zu einem Alten verwendet, so impliziert er nicht nur Homogenität der vergange- nen Epochen, sondern auch das Verständnis einer Gegenwart mit unbestimm- tem Ende.6 Wie bereits festgestellt, setzt die dritte Möglichkeit voraus, dass eine solche, einfache Unterscheidung nicht mehr möglich ist. Die Unmöglichkeit ei- ner solchen Unterscheidung hat zweierlei Gründe: zum einen ist das Gefühl der Beschleunigung zu nennen, das es nicht mehr erlaubt, die eigene Gegenwart als homogene Realität mit zeitlich offenem Ende zu sehen, zum anderen die Selbst- reflexion, die keine einfache qualitative Wertung zwischen alt und neu mehr zulässt, da die eigene Gegenwart immer auch als Vergangenheit einer zukünfti- gen Gegenwart gesehen werden muss.

Diese beiden Aspekte enthalten bereits vieles von dem, was die gängigen Definitionsversuche seitens der Literaturwissenschaft betonen, wenn sie Mo- derne beschreiben. Außerdem schärft die Unterscheidung zwischen den drei Bedeutungsmöglichkeiten den Blick dafür, welche Modernebegriffe für den hier zu unternehmenden Versuch, eine begriffliche Grundlage zu schaffen, he- rangezogen werden können. Das ist auch dringend nötig, schließlich existiert mit dem Adjektiv modernus schon seit dem sechsten Jahrhundert nach Christus eine Form des Begriffes,7 der seither in vielen Schattierungen zwischen den drei Bedeutungsmöglichkeiten gebraucht wurde. Die bisher gewonnenen Erkennt- nisse erlauben es allerdings, die dritte Möglichkeit als diejenige zu identifizie- ren, die dem Verständnis der Literaturwissenschaft von Moderne am genaues- ten entspricht.

2.2 Zeitliche Einordnung

Wann die Moderne beginnt und wann sie endet - sofern sie das überhaupt tut - war in der Literaturwissenschaft lange Zeit umstritten. Vom Beginn der Neu- zeit8 bis zum späten 19. Jahrhundert kann man eine Vielzahl von Datierungs- vorschlägen finden. Ebenso unterschiedliche Meinungen finden sich auch bei der Frage nach dem Ende der Moderne, für das sich Angaben von 1920 bis zu einem offenen Ende finden lassen, das die Moderne bis in die heutige Zeit und noch darüber hinaus reichen lässt. Diese großen Unterschiede deuten darauf hin, dass hier nicht nur die üblichen Datierungsprobleme vorliegen, die für alle Epochen bestehen, sondern grundlegend verschiedene Vorstellungen darüber, was man unter einer Epoche der Moderne zu verstehen hat.

Kemper schlägt in diesem Zusammenhang vor, zwischen einem Ver- ständnis der Moderne als Mikroepoche und dem als Makroepoche zu unter- scheiden:9 Während die Mikroepoche der Moderne eine abgeschlossene litera- rische Epoche um 1900 bezeichnet und sehr stark an einen Stil- und Programmbegriff gebunden ist, bezeichnet die als Makroepoche verstandene Moderne einen „Langzeitzusammenhang […], der die eigene Gegenwart noch einschließt und historisch dort beginnt, wo Grundprobleme und Strukturen des eigenen Gegenwartsbewusstseins entstehungsgeschichtlich ihre Wurzeln ha- ben“.10 Die Gegenwartsoffenheit der letzteren Lesart erscheint zunächst als Pro- blem, da sie eine Kohärenz anzudeuten scheint, die wohl nicht vorhanden ist - besonders die Diskussion um eine Postmoderne legt nahe, dass es in ge- wisser Hinsicht problematisch wäre, die Moderne als eine große und bis in die Gegenwart reichende Einheit zu sehen. Gerade sie soll schließlich durch die Postmoderne überwunden werden. Sieht man die Makroepoche Moderne aller- dings nicht als strikte Ordnungskategorie, sondern eher als hermeneutische Hilfskonstruktion, dann fallen doch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Kemper weist zudem darauf hin, dass sowohl Moderne als auch Postmo- derne „gegenwartsoffene Modernebegriffe [darstellen], wobei jeweils andere Problem- und Traditionsstränge als für die eigene Gegenwart relevant ausge- wiesen werden“.11

Schwieriger als das Ende der Moderne ist bezüglich deren Datierung ihr Anfang. Dabei hat sich nach einer Diskussion darüber, ab wann und durch Er- füllung welcher Kriterien der Zustand der Moderne gegeben sei, inzwischen der Konsens gebildet, ihren Beginn um das Jahr 1800 zu veranschlagen. Inner- halb der Literaturwissenschaft konzentrieren sich systemtheoretische, problem- geschichtliche sowie produktions- und rezeptionstheoretische Ansätze auf diese Zeit als Geburtsstunde der Moderne, und auch interdisziplinär hat sich diese Datierung durchgesetzt. Mit ihr stimmt der philosophiehistorische Modernebe- griff von Habermas ebenso überein wie Luhmanns soziologischer.12 Auch Ko- selleck spricht in der Einleitung zum Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe von einer „Sattelzeit“13 um 1800, in der ein tiefgreifender Umruch in Richtung Moderne stattfand.

Eine solche Datierung ist besonders durch zwei sehr unterschiedliche Re- volutionen gerechtfertigt: die Französische und die Industrielle.14 Erstere führte zu einem Einstellungswandel, indem sie zum einen durch die Abschaffung des Gottesgnadentums einen Weg der Säkularisierung aufzeigte und zum anderen zeigte, dass bis dahin unumstößlich geglaubte Gegebenheiten nicht unverän- derlich waren.15 Ohne göttlichen Plan und ohne eine als unveränderbar gedach- te Tradition ist der Mensch auf sich alleine gestellt und kann sich ohne diese In- stanzen nur noch auf sich selbst berufen - hier kommt ein weiteres Element der Moderne zum Tragen: die Selbstreflexivität, die in einer solchen Situation not- wendig wird. In der anderen, der Industrielle Revolution, verdichten sich etwa zur gleichen Zeit schon vorher wahrnehmbare Wirkungen eines wissenschaftli- chen und technischen Fortschritts zu einer Beschleunigung, die auch von den Zeitgenossen deutlich wahrgenommen wird.16 Die beschriebenen Tendenzen um die Wende zum 19. Jahrhundert bedeuten eine stärkere Orientierung an der Zukunft und machen es plausibel, den Beginn der Moderne dort zu datieren. Das entspricht auch der Wahrnehmung der Menschen dieser Zeit: wie Kosel- leck betont, gab es in gebildeten Kreisen ein Bewusstsein, an einer Schwelle zu stehen, wohingegen bis ins „17. Jahrhundert hinein […] vorausgesetzt wurde, daß sich bis zum Weltende nichts prinzipiell Neues mehr ereignen könne“.17

Aufgrund der bisher erarbeiteten Erkenntnisse soll die Moderne im Folgenden übereinstimmend mit Kemper als Makroepoche gedeutet werden, die um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert beginnt und die Phänomene beschreibt, welche bis in die heutige Zeit andauern.

2.3 Ästhetische und gesellschaftliche Moderne

Bei Versuchen, die Moderne zu datieren, wird oft der Eindruck erweckt, es handle sich bei ihr um ein einheitliches Phänomen; das zeigt schon die Rede von der Moderne. Die Veränderungen, die mit dem Begriff Moderne beschrie- ben werden sollen, finden aber in verschiedenen Bereichen statt, die zwar mit- einander zusammenhängen, jedoch durchaus einzeln analysiert werden kön- nen, wie noch zu zeigen sein wird. Im Kontext dieser Arbeit ist besonders zwischen ästhetischer und gesellschaftlicher Moderne zu unterscheiden, wobei der erste Begriff wesentlich enger gefasst ist und nur die gesellschaftlichen Syst- eme betrifft, die sich mit künstlerischem Ausdruck befassen.

Hingegen bezeichnet der Begriff gesellschaftliche Moderne ein weit grö- ßeres Spektrum an Phänomenen, auf das im folgenden Unterkapitel genauer eingegangen werden soll. Zunächst ist aber die Feststellung wichtig, dass gesell- schaftliche und ästhetische Moderne zwar unterschieden und somit getrennt untersucht werden können, aber dennoch zusammenhängen. Man kann dabei festhalten, dass die ästhetische Moderne eine Reaktion darauf darstellt, was der Begriff gesellschaftliche Moderne beschreibt. Ein früher und gleichzeitig bereits sehr klarer Beleg für diese These findet sich bei Friedrich Schiller und seiner Abhandlung Ü ber naive und sentimentalische Dichtung. Darin wird zunächst deutlich, dass sich Schillers Vorstellung von Moderne von früheren unterschei- det. Theoretische Auseinandersetzungen mit der antiken Tradition waren nicht neu - man denke an die Q uerelle des Anciens et des Modernes18 - sehr wohl aber Schillers Fragestellung: Anstatt Moderne und Antike einander gegenüber- zustellen und, wie vorher oft geschehen, je nach eigener Ansicht der einen oder der anderen qualitative Überlegenheit zu bescheinigen, fragt er, „was es denn eigentlich sei, das uns heute noch an der Antike so fasziniere“.19

„Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem We- ge der Vernunf und der Freyheit, zur Natur zurückführen.“20

Wie in diesem Zitat zu ersehen ist seine Antwort, dass wir in der Antike, ebenso wie in der Natur und dem, was wir als natürlich empfinden, das unan- getastet Reine sehen. Dazu kommt, dass wir diese Natürlichkeit als Gegensatz zu unserer eigenen Situation erkennen und darin ein verlorenes Ideal sehen, das wir wiedererlangen möchten.21 Die Idee eines verlorenen Paradieses, „unse- rer verlornen Kindheit“22, kann laut Schiller allerdings nicht wiederhergestellt werden, denn das, was uns naiv erscheint, entsteht ohne Reflexion und Wahl - und genau das ist in der Moderne nicht mehr möglich.23

Schon in dieser sehr verknappten Darstellung wird deutlich, dass Schil- lers Idee von Moderne von einem starken Verlustempfinden geprägt ist, auf dem er sein Verständnis der Aufgaben von Kunst aufbaut. Wie in anderen kul- turkritischen Ansätzen wird hier die eigene Gegenwart als defizitär beschrieben und einem in der Vergangenheit liegenden, als ideal konstruierten Gegenmo- dell entgegengestellt, das es wiederherzustellen gilt. Das Grundmuster ist meist klar: die eigene Gegenwart wird als ein Prozess des Zerfalls dargestellt, „ihre kritische Norm [ist] dessen Gegensatz: Ganzheit“.24 Eben diese kritische Norm lässt sich hinter vielen, für die Moderne typischen Darstellungsformen, finden, vom Fragment bis zur Vorliebe für das Hässliche in Literatur und Bildender Kunst - sie alle können als Ausdruck eines Verlustes von Ganzheit gesehen wer- den, den die Moderne mit sich bringt.

Wie am Beispiel Schillers klar wird, gibt es einen Zusammenhang zwi- schen ästhetischer und gesellschaftlicher Moderne. Dieser endet aber nicht da- mit, dass die Kunst auf ihre Umwelt reagiert. Vielmehr wird die Kunst erst durch einen Aspekt der gesellschaftlichen Moderne, nämlich die funktionale Ausdifferenzierung, zu einem eigenen, autonomen Teilsystem der Gesellschaft und ist somit auch Teil der Modernisierung. Aus dieser Position heraus hat die Kunst den Anspruch, gesamtgesellschaftliche Prozesse zu kommentieren, wo- mit sie einen weiteren Aspekt der Moderne erfüllt, nämlich den der Selbstrefle- xion. Somit kann man sagen, dass die Kunst gerade dort die Moderne vollzieht, wo sie diese kritisiert.25

Das in diesem Abschnitt beschriebene Verhältnis von ästhetischer und gesellschaftlicher Moderne bildet eine erste Basis für die Analyse im Hauptteil dieser Arbeit. Dort wird zu untersuchen sein, wie die Dramatiker des Expressionismus die sie umgebende moderne Welt auffassen, wie sie diese bewerten und welche kritischen Normen hinter ihren Diagnosen stecken. Um eine solche Analyse leisten zu können, fehlt noch ein wichtiges Werkzeug, welches im folgenden Unterkapitel erarbeitet werden soll: eine begriffliche Grundlage zur Beschreibung der gesellschaftlichen Moderne.

2.4 Merkmale der gesellschaftlichen Moderne

Der folgende Abschnitt soll nicht den Versuch einer Definition darstellen - dies wäre im Rahmen dieser Arbeit weder zu leisten, noch ist es hierfür notwendig. Vielmehr soll ein begriffliches Repertoire erstellt werden, auf dessen Basis die weitere Betrachtung der ausgewählten expressionistischen Dramen erfolgen kann.26

Der im Folgenden vorgeschlagene begriffliche Rahmen soll als Beschrei- bung eines Langzeitprozesses der okzidentalen Kultur verstanden werden, der nicht linear verläuft, sondern sich „in krisenhaften, von konfliktreichen Ausei- nandersetzungen zwischen Alt und Neu begleiteten Schüben vollzogen hat [und] dessen Verlauf mithin von zahlreichen Brüchen, Rückschlägen und Widersprüchen und zudem von zeitlichen, geographischen und sozialen Phasen- verschiebungen geprägt ist“,27 aber dennoch eine Entwicklungsrichtung erken- nen lässt. Somit sollte der skizzierte Begriff weder mit den hauptsächlich amerikanischen und leider oft chauvinistisch angehauchten Modernisierungs- theorien aus der Ära des kalten Krieges28 verwechselt werden, die eine Verwest- lichung der Welt fordern, noch mit Konstrukten, die eine geschichtsphilosophi- sche Sicht vertreten, nach der die Menschheitsgeschichte auf ein, wie auch immer geartetes, Ziel hinausläuft.29 Die im Folgenden skizzierten Phänomene sollen lediglich als Teile einer Gesamttendenz beschrieben, nicht ideologisch gedeutet werden.

2.4.1 Wirtschaft, Staat & Gesellschaft

Mit Blick auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft lassen sich Industrialisierung und Kapitalisierung als Grundprozesse gesellschaftlicher Modernisierung verstehen.30

Im Bereich der Wirtschaft ist allgemein eine Entwicklung von der Subsis- tenzwirtschaft zur Marktwirtschaft festzustellen. In ersterer dient wirtschaftli- che Leistung dazu, den Eigenbedarf eines geschlossenen Systems zu decken und somit die Selbstversorgung sicherzustellen.31 Diesem auf Selbsterhaltung ausge- legten Modell steht die wachstums- und profitorientierte Marktwirtschaft ge- genüber, in der wirtschaftliche Leistung auf das Erzielen von Gewinnen ausge- richtet ist. Der Wandel von der einen zur anderen Wirtschaftsform und der mit ihr zusammenhängende Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft ist ein wichtiger Faktor der Modernisierung und kann unter dem Begriff Kapitalisierung zusammengefasst werden.

Auch ein weiterer Faktor der Modernisierung, die Industrialisierung, steht hiermit in einem Zusammenhang, da sie erst durch die Anhäufung von Kapital ermöglicht wird, welche wiederum einen gewissen Grad der Kapitalisie- rung voraussetzt. Industrialisierung beschreibt die Entwicklung einer haupt- sächlich auf Landwirtschaft ausgerichteten Wirtschaft zu einer, in der Arbeit mechanisiert wird und größtenteils von unbelebten Energieträgern statt menschlicher körperlicher Anstrengung abhängt.32 Insgesamt wird im Prozess der Industrialisierung die Industrie zum dominanten Wirtschaftssegment einer Gesellschaft; ein Prozess, der in Europa bei weitem nicht linear abläuft, sondern mit Schüben technologischer Rationalisierung verbunden ist, wie beispielsweise in dem Zeitraum, der als Industrielle Revolution bekannt ist.

Eben diese technologische Rationalisierung ist ein weiteres Phänomen der Modernisierung, das mit den beiden zuvor genannten zusammenhängt. Der Druck, Arbeitsweisen auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Maschinen hin zu optimieren oder Arbeitsabläufe gleich ganz von Maschinen erledigen zu lassen, entsteht nur in Kombination von industrialisierter Wirt- schaft und der Notwendigkeit, Gewinne erwirtschaften zu müssen.

Im Bereich der staatlichen Entwicklungen lässt sich die schon vor Beginn der Moderne zu beobachtende Staatsbildung in Richtung des Verfassungs-, Rechts- und Sozialstaates in Verbindung mit der Ausbildung einer zentralen Verwaltung und Bürokratisierung als einen der „wahrhaft universellen Organi- sationstrends der modernen Geschichte“33 ausmachen. So ist zum Beispiel die Tendenz festzustellen - wenn diese auch wie die meisten Modernisierungsvor- gänge nicht linear, sondern mit Unterbrechungen, Rückschlägen und Schüben abläuft - dass Herrschaft zunehmend verfassungsrechtlich legitimiert wird. Auch im Hinblick auf rechsstaatliche Entwicklungen lässt sich ein Trend dahin ausmachen, dass der Staat allen Bürgern gleiche Rechte gewährt. In diesem Be- reich werden Entwicklungen oft durch den Druck seitens verschiedener Emanzipationsbewegungen hervorgerufen; ein Muster, das auch in der heutigen Zeit noch auftritt: man denke nur an die Diskussion um die Möglichkeit einer Heirat für homosexuelle Paare oder deren Recht auf Adoption.

Als übergeordnetes Phänomen in der Struktur von Gesellschaften lässt sich die Entwicklung von einer vertikalen hin zu einer horizontalen Organisati- on beobachten. Während zu Zeiten des Feudalismus eine streng hierarchisch gegliederte Ständeordnung herrschte, also eine von oben nach unten organi- sierte Ordnung, entwickelte sich im Zuge der Modernisierung durch funktiona- le Differenzierung eine Vielzahl gesellschaftlicher Teilsysteme, die zwar unter- schiedliche Funktionen erfüllen und über eigene Normen verfügen, aber dennoch nicht durch hierarchische Unterschiede charakterisiert sind - sie un- terscheiden sich hauptsächlich horizontal, durch ihre Wirkungsbereiche. Auch wenn Luhmann diese Aufgliederung in gesellschaftliche Teilsysteme als Mittel zur Reduzierung von Komplexität innerhalb des gesamten gesellschaftlichen Gesamtsystems beschreibt, so geht diese Entwicklung für den einzelnen Men- schen mit einer gesteigerten Komplexität einher. Konnte man sich in einer nicht funktional ausdifferenzierten Gesellschaft noch lebenslang als Teil einer homo- genen sozialen Einheit fühlen, so führt die Untergliederung in Teilsysteme zu einer Dissoziation dieser Einheiten, zwischen denen man nicht nur im Laufe des Lebens, sondern sogar im Laufe eines Tages mehrfach wechselt. So ist es nicht ungewöhnlich, morgens Mutter, tagsüber Geschäftsfrau und abends Ehe- partnerin zu sein, und dazwischen selbstverständlich auch Kundin und Freun- din. Somit bewegt man sich automatisch in verschiedenen gesellschaftlichen Systemen. Da der Mensch in der Moderne ständig zu mehreren Teilsystemen gehört, die alle ihre eigenen Ordnungen, Normen und Wissensbestände haben, ist es nicht mehr möglich, die eigene Normativität aus der Zugehörigkeit zu ei- ner sozialen Gliederung zu beziehen. Eine durch funktionale Differenzierung bedingte Multiplizierung der Lebenswelten führt unweigerlich zu einer „Plura- lisierung von Welt- und Wertorientierungern [und] gehört zu den für das indi- viduelle Leben folgenreichsten und deshalb auch für die Kunst prägendsten Er- fahrungen der Moderne“.34 Die genaueren Konsequenzen dessen sollen im Abschnitt Denken und Bewusstsein genauer betrachtet werden.

2.4.2 Lebenswelt

Die oben beschriebenen Modernisierungstendenzen in den Bereichen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft bedeuteten nicht nur für diese Bereiche selbst umfangreiche Veränderungen, sondern beeinflussten ebenso die Lebenswelt, wobei Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und Mobilisierung die herausragendsten Phänomene darstellen.

Das Bevölkerungswachstum wird vor allem durch Fortschritte in den Be- reichen Wissenschaft und Technik angeregt, genauer gesagt durch verbesserte medizinische Versorgung und bessere Hygiene. So kann die Kindersterblich- keitsrate signifikant gesenkt und gleichzeitig die durchschnittliche Lebenser- wartung erhöht werden, was insgesamt zu einem Anwachsen der Bevölkerung führt. In Zusammenhang mit der Industrialisierung trägt auch das Bevölke- rungswachstum zu einem weiteren Phänomen der Moderne bei, dem der Urba- nisierung. Zum einen gibt es schlicht mehr Menschen, zum anderen führen die neuen, im Vergleich zur bis dahin vorherrschenden Landwirtschaft wesentlich konzentrierteren Produktionsmethoden, zu einer Migration hin zu Industrie- standorten. Dadurch wird das Wachstum der Städte gefördert und schließlich den Lebensraum Großstadt hervorgebracht. Als Beispiel für die rasante Ent- wicklung kann Deutschlands erste Millionenstadt Berlin dienen, die sowohl Zentrum des Expressionismus als auch Thema und Schauplatz zahlreicher ex- pressionistischer Werke ist. Während die gesamtdeutsche Bevölkerung sich von 1800 bis 1900 ungefähr verdoppelt, verzehnfacht sich die Einwohnerzahl der inzwischen zur Reichshauptstadt gewordenen Metropole im gleichen Zeitraum.

Ein weiterer Trend der gesellschaftlichen Modernisierung ist die Mobili- sierung, die sich gleich in mehrfacher Hinsicht vollzieht. Zum einen ist durch technologische Entwicklungen wie die Erfindung des Automobils sowie durch den Auf- und Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs eine Steigerung der räumlichen Mobilität festzustellen. Durch die technologische Revolutionierung der Medien, insbesondere des Nachrichtenwesens, entsteht zudem eine zuneh- mende kommunikative Mobilität. Als drittes Phänomen lässt sich die kulturelle Mobilität ausmachen, die beispielsweise durch den Ausbau des Schulsystems sowie die Entstehung von Massenmedien gefördert wird. Durch die Bildungs- möglichkeiten der Schulen und Universitäten sowie der vereinfachten kulturel- len Teilhabe ist die Möglichkeit gegeben, sich über den von der sozialen Stel- lung vorgegebenen kulturellen Horizont hinaus zu bewegen. Gleichzeitig kann diese Entwicklung aber auch als kulturelle Entdifferenzierung wahrgenommen werden, da mit ihr die Unterschiede von durch Eliten gesteuerter und kontrol- lierter Hochkultur und massentauglicher Populärkultur zu verschwimmen be- ginnen. Zu einem historisch späteren Zeitpunkt finden diese Tendenzen auch auf einer strukturell höheren Ebene statt, indem interkulturelle Vernetzungen die Bildung transnationaler Hybridkulturen fördern.

Während sich durch Modernisierungsprozesse die Lebenswelt, wie gesehen, teils radikal verändert, finden auch in den Bereichen Denken und Bewusstsein tief greifende Veränderungen statt, die in Zusammenhang mit den oben beschriebenen Phänomenen stehen und die im folgenden Abschnitt genauer betrachtet werden sollen.

2.4.3 Denken und Bewusstsein

Ein Merkmal der Modernisierung, das sich in allen Gesellschaften findet, die diesen Prozess durchlaufen, ist die das Konzept der wissenschaftlichen Rationa- lität. Diese wird im Laufe des Modernisierungsprozesses zur Grundlage und Leitnorm des Denkens. Bezieht sich diese Entwicklung zum einen auf den Bereich der Wissenschaften und die Felder ihrer Anwendung - in diesen dient die Rationalität oftmals der Beherrschung von Natur - so endet ihr Einfluss dort nicht. Vielmehr beeinflusst sie auch die Erkenntnistheorie sowie die Ethik, in denen ebenso ein Geltungsanspruch der Rationalität entsteht: auch Aussagen über die Welt sowie die Konstruktion und Begründung von Normen werden nun an ihrer rationalen Begründbarkeit gemessen.

Parallel hierzu ist ein Boom der Wissenschaften festzustellen, die sich nicht nur als Motor des technologischen Fortschritts sehen, sondern zur füh- renden Institution für die Erklärung von Welt werden. Wo die Wissenschaft aber einerseits Erklärungsmuster bietet, sorgt sie andererseits durch immer mehr und immer spezialisierteres Wissen für ein schwindendes Vertrauen in die subjektive Erkennbarkeit der Welt, die für das Individuum insofern proble- matisch sein kann, als dass es die Möglichkeit einer einheitlichen Weltdeutung wesentlich erschwert. Daneben muss auch festgehalten werden, dass der Aufs- tieg der empirischen Wissenschaften gleichzeitig einen Abstieg für die bisheri- gen Inhaber der Deutungshoheit bedeutet. Als Betroffene dieser Entwicklung lassen sich die Geisteswissenschaften ausmachen, die nun nicht mehr die wich- tigsten Modelle zur Weltdeutung liefern. Ebenso verliert auch die Religion ih- ren universellen Anspruch - diese in besonderer Weise, da sie gerade die totali- sierende Deutung von Welt anbietet, die durch die steigende Bedeutung der Wissenschaften und ihrer rationalen Erklärungsmuster in Frage gestellt wird.

Dennoch ist es nicht nur die an Bedeutung gewinnende Wissenschaft, die den Prozess der Säkularisierung vorantreibt. Wie oben bereits angemerkt wur- de, ist die Französische Revolution einer der Datierungspunkte des Beginns der Moderne. Neben vielem Weiterem war sie durch die Abschaffung der Einheit von Staat und Kirche auch ein Zeichen für die Abkehr von einem hauptsächlich auf Religion basierenden Modell von Gesellschaft. Ohne die Idee einer meta- physischen Legitimationsinstanz und deren vorgegebene Normen wird die Ein- sicht notwendig, die moderne Gesellschaften getroffen haben, nämlich die, dass Normen aus der Gesellschaft selbst heraus legitimiert sein müssen. Ohne die absolute Gewissheit eines göttlichen Plans bleibt außerdem nur die Einsicht, dass Lebenswelten nicht aus einer Vorbestimmung heraus so sind, wie sie sind, sondern sie sich durchaus auch anders darstellen könnten. Diese prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen, die Luhmann mit dem Begriff Kontingenz beschreibt, ist eine der prägenden Erfahrungen des Menschen in der Moderne.

Weitere grundlegende Ideen der Moderne sind Subjektautonomie sowie Individualismus. Diese beiden Tendenzen stehen am Beginn der Moderne und prägen ihr Denken nachhaltig. Subjektautonomie bezeichnet dabei den An- spruch des Menschen, das eigene Handeln selbst zu verantworten - das ist auch notwendig, da wie oben gesehen transzendentale Legitimationsmuster für das eigene Handeln als universelle Prinzipien wegfallen. Die andere Idee, der Indi- vidualismus, formuliert gleichzeitig den Geltungsanspruch des Individuellen gegenüber dem Allgemeinen. Beide hängen stark mit der Begründung des Wahrheitspluralismus zusammen: so führt beispielsweise die Subjektautonomie dazu, dass Wahrheitsaussagen immer auf das Subjekt hin perspektiviert werden müssen. Man muss also erkennen, dass sie immer von einem Subjekt formuliert werden und sie somit nicht als objektiv und allgemein gültig gesehen werden können.

Neben den Freiheiten, die der Wahrheitspluralismus bietet, stellt er mo- derne Gesellschaften auch vor Probleme. Wenn Charles de Gaulle sich bereits fragt, wie man wohl ein Land regieren soll, das zweihundertsechsundvierzig Käsesorten hat,35 wie soll man dann erst verbindliche Regeln für das Zusam- menleben definieren in einer Gesellschaft, in der es millionenfach verschiedene Meinungen und Ansichten gibt? Woraus begründet man die Geltung solcher rechtlicher oder moralischer Regeln und wie sieht es dabei mit dem Geltungs- recht des Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit aus? Fragen wie diese müssen moderne Gesellschaften sich zwangsläufig stellen, um die Regeln des Zusam- menlebens zu bestimmen - das haben diese auch getan und sind bis heute zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen. Dabei darf man bezweifeln darf, dass es ein endgültiges Ergebnis überhaupt geben kann, da Freiheiten und Regeln ständig neu ausgehandelt werden. Das Dauerthema, das Fragen zum Verhältnis von Gesellschaft und Individuum ebenso aufkommen lässt wie die nach der Gültigkeit moralischer Normen, ist somit eine konstante Fragestellung der Moderne und hat dementsprechend auch in der Kunst so manche Reaktion hervorgerufen, die im folgenden Kapitel zu betrachten sein werden.

Wegfallende Gewissheiten und nicht mehr vorhandene garantierte Wahr- heiten, seien es religiöse oder auf Traditionen basierende, werfen das moderne Subjekt auf sich selbst zurück; es kann seine Normen nicht mehr in Berufung auf eine extern vorgegebene Wahrheit beziehen, sondern muss diese nun zwangsläufig aus sich selbst begründen. Dazu ist stets ein Hinterfragen des ei- genen Standpunktes nötig, womit die Selbstreflexivität zu einer prägenden Denkhaltung der Moderne wird.

Der in diesem Kapitel dargestellte Modernebegriff soll im Analyseteil die- ser Arbeit als begriffliche Grundlage zur Untersuchung der Modernekonzepte in expressionistischen Dramen dienen. Wie bereits deutlich wurde, ist dieser Modernebegriff stark von der Soziologie, Philosophie und Geschichte beein- flusst, weshalb er sich von denen anderer Analysen unterscheidet. Im folgenden Kapitel soll daher zunächst ein Überblick über die Forschung zum Thema Ex- pressionismus und Moderne gegeben werden, der unter anderem die unter- schiedlichen Interpretationen des Begriffs Moderne herausstellen soll.

3 Expressionismus und Moderne - Überblick über die Forschung

Der Expressionismus war, angesichts der relativ jungen For- schungskampagne, eines der Felder, auf denen man noch unab- gegraste Flächen und Plätzchen zu finden hoffen konnte, manch- mal an verborgenen Stellen. Obskure Schreiber und Mitstreiter wurden entdeckt, aufgewertet, interpretiert, neue Aspekte zu altbe- kannten und renommierten Objekten ins Spiel gebracht.36

Ein wenig nostalgisch erinnert Richard Brinkmann an das, was einer ge- wissen Goldgräberstimmung gleich gekommen sein muss, die herrschte, als die Germanistik nach dem zweiten Weltkrieg den Expressionismus als Forschungs- feld entdeckte. Hatte man sich von dort an bis Ende der fünfziger Jahre haupt- sächlich an einem Expressionismusbegriff versucht, der schließlich doch wieder zu zerfallen schien,37 so wurden in den sechziger und siebziger Jahren die meis- ten Claims abgesteckt. Nicht nur wurden neue Dokumente und Materialien des Expressionismus ausgegraben und mit Werkausgaben und zahlreichen Nach- drucken umfangreiche editorische Arbeit geleistet, auch thematisch fand in die- ser Zeit sowohl eine Ausweitung als auch eine Differenzierung der Themen statt. Daneben wurden auch Perspektiven populär, die den Expressionismus als internationales Phänomen betrachteten und ihn im Zusammenhang mit seinen Ausprägungen in anderen Kunstrichtungen zu betrachten versuchten.38 Den- noch kann man rückblickend auf das obige Zitat, das aus dem Jahr 1980 stammt, nicht von einem Mangel an frischen Themen in der Expressionismus- forschung sprechen.

Im folgenden Jahrzehnt fand zwar eine weitere Differenzierung der For- schung statt, die auch bis dorthin weniger beachtete Autoren in das Blickfeld der Germanistik brachte, allerdings sind auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Forschungsfelder abgegrast, um bei Brinkmanns Bild zu bleiben. Vielmehr listet Herrmann Korte in seinem Bericht zur Expressionismusforschung der achtziger Jahre eine Reihe von Themengebieten auf, denen sich bis dorthin noch nicht genügend gewidmet wurde. Dazu gehören auch „Studien zur Mo- dernitätserfahrung, zum Verhältnis von Expressionismus und Modernisierung [sowie] zur Legitimationskrise von Kunst und Literatur am Beginn des 20. Jahr- hunderts“39 - Themen also, die gerade für diese Arbeit von großem Interesse sind. Mit einigen Ausnahmen tauchten Abhandlungen zu diesen Aspekten erst seit den späten 80er Jahren auf, als man sich im Kontext der Debatte um eine Postmoderne damit beschäftigte, was denn überhaupt gerade überwunden wurde.40 Auf den folgenden Seiten sollen einige dieser Arbeiten dargestellt und auf den von ihnen vertretenen Modernebegriff hin untersucht werden.

Dabei fällt insgesamt auf, dass häufig ein Modernebegriff vertreten wird, der keine Trennung zwischen ästhetischer und gesellschaftlicher Moderne vor- nimmt. Oft wird der Begriff Moderne übereinstimmend mit der Selbstinterpre- tation der Autoren übernommen - modern ist also, was auch die Erschaffer der untersuchten Werke für modern halten. Differenzen lassen sich hier und da fin- den, wenn beispielsweise nach dem „eigentlichen Beginn der literarischen Mo- derne“41 gefragt wird; jedoch laufen solche Diskussionen wie im zitierten Bei- spiel oft nur auf die Feststellung hinaus, dass das beschriebene Phänomen schon vorhanden war, bevor ein Begriff dafür gefunden wurde. Abgesehen von der Datierung wird jedoch der Modernebegriff der Autoren übernommen.

[...]


1 Kaiser, Georg: Werke. 5 Bde. Hrsg. von Walther Huder. Frankfurt/M.: Propyläen-Verlag 1971. Bd. 1, S. 711. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe mit dem Sigle Kaiser sowie der Angabe von Band und Seitenzahl gekennzeichnet.

2 Vgl. Petersdorff 2005: S. 17.

3 Vgl. Valade 2001: S. 9939.

4 Vgl. Gumbrecht 1978: S. 96.

5 Die zweite Bedeutungsmöglichkeit kann hierbei als vorausgehender erster Schritt in diese Richtung verstanden werden, denn von Moderne kann bereits nur sprechen, „wer das Bewusstsein eines ungebrochenen, von Tradition verbürgten Zeitrkontinuums verloren hat“. Kemper 1998: S. 104.

6 Vgl. Gumbrecht 1978: S. 96.

7 Vgl. Blamberger 1978: S. 620.

8 Vgl. Elm u. Hemmerich 1982: S. 17.

9 Vgl. Kemper: S. 161.

10 Kemper, Das Wort, 2003, 161-202@161

11 Ebd.: S. 164.

12 Vgl. ebd.: S. 166.

13 Koselleck 1972: S. XV.

14 Vgl. Waters 1999: S. XIII.

15 Vgl. Klinger 2002: S. 129.

16 Vgl. ebd.

17 Koselleck 1987: S. 274.

18 Bei dieser Auseinandersetzung ging es um die Frage, ob die Antike als unerreichbares Vorbild zu sehen sei oder ob auch die Gegenwart ihre eigenen Vorzüge habe, die wiederum in der Antike nicht erreicht werden konnten.

19 Kemper 1998: S. 110.

20 Schiller 1962: S. 414.

21 Vgl. ebd.: S. 111.

22 Ebd.

23 Kemper 1998: S. 111.

24 Vgl. Lohmeier 2007: S. 2. sowie Klinger 1995: S. 10.

25 Vgl. Lohmeier 2007: S. 9.

26 Die folgenden Ausführungen basieren, sofern nicht anders zitiert, auf einem Aufsatz, der den Begriff der gesellschaftlichen Moderne auf der Basis geschichtswissenschaftlicher, philosophischer und sozialwissenschaftlicher Moderne-Debatten erfasst: Lohmeier 2007. Der Aufsatz entspricht den in diesen Disziplinen erarbeiteten Modernebegriffen und präsentiert diese im Gegensatz zu andern Werken prägnant und umfassend, weshalb er als Grundlage für dieses Kapitel dienen soll.

27 Ebd.: S. 5.

28 Ein Beispiel für diese Theorien ist Walt Whitman Rostows „Stages of Economic Growth: A Noncommunist Manifesto“, das Modernisierung als Verwestlichung versteht und hauptsächlich als Ideologiestütze gegen den Kommunismus dienen sollte.

29 Hierfür ist Francis Fukuyamas „Das Ende der Geschichte“ als Beispiel zu nennen. Dort beschreibt der Autor Geschichte als eine unweigerliche Entwicklung zur liberalen Demokratie.

30 Wehler 1989: S. 555.

31 Vgl. [Art.] Econimic Systems 2009

32 Vgl. [Art.] Industrialization 2009

33 Wehler 1989: S. 22.

34 Lohmeier 2007: S. 7.

35 Der Originalausspruch de Gaulles lautete: „Comment voulez-vous gouverner un pays qui a deux cent quarante-six variétés de fromage?“: Mignon 1963: S. 34.

36 Brinkmann 1980: S. IXf.

37 Vgl. Brinkmann 1961: S. 75.

38 Vgl. Brinkmann 1980: S. 278f.

39 Korte 1994: S. 276.

40 Krause 2005: S. 11.

41 Kiesel 2004: S. 20.

Ende der Leseprobe aus 97 Seiten

Details

Titel
Modernekonzepte im expressionistischen Drama
Hochschule
Universität des Saarlandes  (Germanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
97
Katalognummer
V144177
ISBN (eBook)
9783640644520
ISBN (Buch)
9783640644766
Dateigröße
1196 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Germanistik, LIteraturwissenschaft, Expressionismus, Moderne, Drama, Ernst Toller, Georg Kaiser, Walter Hasenclever, Stefan George, Kasimir Edschmid, Von morgens bis mitternachts, Gas, Die Wandlung, Der Sohn, Die Bürger von Calais
Arbeit zitieren
Thomas Müller (Autor:in), 2009, Modernekonzepte im expressionistischen Drama, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144177

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