Analyse zweier Cortázar Kurzgeschichten im Hinblick auf das Fantastische im Sinne Todorovs


Seminararbeit, 2009

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


I. Einleitung

Julio Cortázar, geboren am 26.8.1914 im von Deutschland besetzten Brüssel und gestorben am 12.2.1984 in Paris[1], gilt neben seinem Landsmann Borges als einer der größten latein­amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts[2]. Neben einem Hang zum Spielerischen wird dem Argentinier oft nachgesagt, in der von Borges für Hispanoamerika begründeten Tradition des Fantastischen zu stehen. 1951 veröffentlichte Cortázar mit Bestiario seine erste Sammlung hauptsächlich fantastischer Kurzgeschichten. Dieser entstammen auch zwei der wohl bekanntesten cortazarianischen Cuentos, Casa Tomada und Carta a una Señorita en París, welche Gegenstand dieser Arbeit sein sollen. Anhand der beiden Kurzgeschichten soll genau betrachtet werden, welche narrativen Grundmuster in Cortázars Cuentos Fantásticos das Fantastische ausmachen. Um dies zu gewährleisten, soll der Analyse der Geschichten selbst ein ausführlicher Definitionsversuch des Fantastischen vorangehen. Wenn hierbei zwar auch kurz auf weitere Ansätze einzugehen sein wird, so ist es doch unerlässlich, Todorovs Standardwerk Introducción a la Literatura Fantástica als Grundlage für eine Diskussion des Genres heranzuziehen. Dabei sollen jedoch neben den grundlegenden Ideen nur jene Punkte der Monographie herausgearbeitet werden, die für die Analyse von Casa Tomada und Carta a una Señorita en París im Hinblick auf das Fantastische von Bedeutung sind. Wie wichtig Todorovs Versuch einer Definition, welche zugegebenermaßen bei Borges und anderen „bestimmten Erscheinungsformen phantastischer Literatur im 20. Jahrhundert an ihre Grenzen [stößt]“[3], ist, zeigt sich an Cortázars eigener Beurteilung seines Werks hinsichtlich des Fantastischen: im Rahmen eines Vortrags Anfang der sechziger Jahre, also noch vor der Veröffentlichung von Todorovs Introducción, schätzt der Autor dieses so ein, dass zumindest bis zu diesem Zeitpunkt „fast alle Erzählungen, die ich geschrieben habe […] zum sogenannten phantastischen Genre gehören,“ wobei er, wie Gatzemeier bemerkt, sofort einschränkend zu bedenken gibt: „mangels einer besseren Bezeichnung.“[4]

II. Definition des Género Fantástico

Es wäre zu einfach zu behaupten, dass sämtliche nicht mimetische Literatur, sprich alle Literatur, die nicht ein annäherndes Abbild der uns bekannten Welt beschreibt, fantas­tische Literatur wäre. Erdal Jordan streicht heraus, dass eben dies aber in der Literatur­kritik häufig geschieht, besonders in jener des angelsächsischen Sprachraumes.[5] Was fantastische Literatur über eine gewisse nicht mimetische Qualität hinaus leisten muss, um sich als solche zu qualifizieren, soll daher Gegenstand dieses Abschnitts sein. Eine genaue De-finition im wörtlichen Sinne ist vor allem auch in Anbetracht der postmodernen Literatur vonnöten, die aufgrund ihrer Nachbarschaft zur fantastischen Literatur diese zu verschlucken droht. Erdal Jordan macht allerdings den Hauptunterschied zwischen postmoderner und fantastischer Literatur deutlich: während erstere die Freiheiten des sprachlichen Systems bis an seine Grenzen ausnutzt, um dessen Referentialität zu minimieren und damit einen Bruch zwischen sprachlicher und erlebter Realität zu provozieren, problematisiert letztere lediglich die gängige Vorstellung der Realität, indem sie dieser eine durch Sprache hergestellte imaginäre Welt gegenüberstellt.[6]

Verschiedenste Definitionsversuche bezüglich dessen, was fantastische Literatur ist, sind im Laufe der Diskussion dieses Genres unternommen worden. Die wohl gängigste Diskussion und Definition des Fantastischen als Genre stammt dabei von Tzvetan Todorov. Seine Herangehensweise soll den Abschluss dieses begriffsklärenden Kapitels bilden, um anschließend auch vorrangig als Vorlage für einen Abgleich der zu besprechenden Kurzge­schichten zu dienen. Den Anfang wird zunächst aber ein kurzer Blick auf die Entwicklung des Fantastischen bilden.

Erdal Jordan zeichnet in ihrem Überblickswerk La narrativa fantástica Bakhtines historische Analyse des Genres nach, laut welcher sich das Fantastische auf karnevalistische Volksveranstaltungen im Mittelalter zurückführen lässt.[7] Der mittelalterliche Karneval lässt sich demnach als eine Manifestation einer auf den Kopf gestellten, umgekrempelten Welt zusammenfassen, in der die Regeln des öffentlichen Lebens, der religiösen Vorschriften und der Hierarchien temporär außer Kraft gesetzt und durch eine utopische Atmosphäre der vollkommenen Freiheit von solchen Vorschriften ersetzt werden (die Grundzüge dieses viele Jahrhunderte alten Prinzips finden sich natürlich auch noch in den heutigen Formen des Karnevals wieder). Im 17. und 18. Jahrhundert sieht Bakhtine das Karnevalistische und Groteske dann in der Comedia del Arte, in den Komödien Molières und in den philoso­phischen Romanen Voltaires und Diderots wieder, wobei die Funktion, welche den Weg für die fantastische Literatur bereitet, immer die selbe bleibt: es wird die Relativität der bestehenden Ordnung aufgezeigt und entsprechend die Möglichkeit einer vollkommen anderen Weltordnung suggeriert (was nicht gleichzusetzen ist mit der Möglichkeit einer vollkommen anderen Welt). Der spielerische und positive Charakter des Karnevalistischen und Grotesken wird mit der Romantik zunehmend negativ und bedrohlich. Wenn man Bakhtine folgen möchte, ist die fantastische Literatur, die im Laufe des 19. Jahrhunderts aufkommt, also ein Auswuchs des grotesken Realismus, der in der Romantik als Rekurs auf frühere Epochen aufgenommen wurde.

Dreh- und Angelpunkt aller Definitionen des Fantastischen ist das Verhältnis verschiedener Welten bzw. Weltordnungen: auf der einen Seite die uns bekannte Welt des Natürlichen mit ihren uns bekannten Gesetzen, auf der anderen Seite die des Übernatürlichen mit uns unbekannten Gesetzen.[8] Man ist sich allgemein einig, dass es in jeder Form der fantastischen Erzählung zu einer Art Grenzübertritt zwischen diesen beiden Welten kommt.[9] Eyzaguirre arbeitet drei Möglichkeiten heraus, wie ein solcher Grenzübertritt bzw. solche Vermischungen stattfinden können. Anhand dieser Einteilung versucht sie, die fantastischen Kurzgeschichten Cortázars zu kategorisieren. Es ließen sich hiermit allerdings wohl auch die meisten fantastischen Erzählungen anderer Autoren systematisieren:

Primero, textos fantásticos que presentan la invasión de un plano sobre el otro; el plano de la irrealidad invade el de la realidad cotidiana y rompe con la cadena de hechos rutinarios. Un segundo tipo de cuentos propone la inversión de los planos, creando con ello una incertidumbre de lo real. El tercer grupo acoge los relatos en que se produce una interpretación de los planos, una fusión de lo real y de lo extraño en una realidad otra. Se realiza también en estos cuentos un ‘traspaso’ de las identidades.[10]

Die beiden im Anschluss zu besprechenden Kurzgeschichten Cortázars fallen in dieser Kategorisierung in die erste Gruppe, wie zu sehen sein wird. In der Definition der zweiten Gruppe von Cuentos greift Eyzaguirre einen Begriff auf, der in der Definition des Fantastischen nach Todorov nicht als zentral genug angesehen werden kann: die „incertidumbre“ oder „vacilación“ wie Silvia Delpy in ihrer Übersetzung des Standardwerks Introduction à la littérature fantastique das zentrale Element wiedergibt, welches fantastische Erzählungen laut Todorov von denen unterscheidet, die man „maravillosas“ bzw. „extrañas“ nennen würde. Vom Kern her sei also eine Annäherung an Todorovs Definition des Fantastischen gewagt.

[...]


[1] Alle Lebensdaten und allgemeinen Einschätzungen entstammen Oviedo 2001.

[2] Gatzemeier 1998: 301

[3] Gatzemeier 1998: 301 f.

[4] Cortázar zitiert nach Gatzemeier 1998: 301

[5] vgl. Erdal Jordan 1998: 7.

[6] vgl. Erdal Jordan 1998: 112

[7] vgl. Erdal Jordan 1998: 14

[8] vgl. Erdal Jordan 1998: 142

[9] vgl. Erdal Jordan 1998: 132

[10] Eyzaguirre1986: 179

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Analyse zweier Cortázar Kurzgeschichten im Hinblick auf das Fantastische im Sinne Todorovs
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Romanisches Seminar)
Veranstaltung
El Cuento Hispanoamericano del Siglo XX
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
16
Katalognummer
V144407
ISBN (eBook)
9783640554386
ISBN (Buch)
9783640554829
Dateigröße
496 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Cortázar, Borges, Kurzgeschichten, Cuentos, Hasen, Conejos, Fantástico, Todorov
Arbeit zitieren
Michael Helten (Autor:in), 2009, Analyse zweier Cortázar Kurzgeschichten im Hinblick auf das Fantastische im Sinne Todorovs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144407

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