Nach der Lektüre von »Sebastian im Traum« schreibt Rainer Maria Rilke:
»Ich denke mir, dass selbst der Nahestehende immer noch wie an Scheiben gepresst diese Aussichten und Einblicke erfährt, als ein Ausgeschlossener: denn Trakls Erleben geht wie in Spiegelbildern und füllt seinen ganzen Raum, der unbetretbar ist, wie der Raum im Spiegel.«
Der mit diesen Dichterworten belegte Dichter Georg Trakl überarbeitet wenige Tage oder Stunden vor seinem Tod das Gedicht »Traum des Bösen« in der Zelle in Krakau. Er schreibt:
»Ein Liebender erwacht in schwarzen Zimmern,
Die Wang' an Sternen, die am Fenster flimmern«.
Die vorliegende Untersuchung wagt den Versuch, beide Dichterworte beim Wort zu nehmen und am Beispiel des Gedichts »Untergang« – dessen Entstehungsprozess in acht Vorstufen und Varianten gut belegt ist – den Raum, den das Traklsche Gedicht zu konstituieren vermag, als den »Raum im Spiegel« und damit ineins als die »schwarzen Zimmer eines Liebenden« durchsichtig, d.h. ein Stück weit betretbar zu machen.
Indem der Autor in einer textimmanentem Lektüre den Entstehungsprozess des Gedichts »Untergang« als diesen Prozess akribisch analysiert, gelingt es der Studie anzuzeigen, dass und wie Trakls »Mitternacht« - gegen den Strich der herkömmlichen Lesarten - als eine »Hohe Stunde Liebender« dem aufmerksamen Leser erscheinen kann.
Neben einer Charakterisierung des Raumes und der Zeit im Gedicht wird ausführlich auf das Verhältnis von Farbe und Bewegung sowie Fragen der Intertextualität (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra) und in diesem Zusammenhang auf typisch hermeneutische Problemstellungen, die die literaturwissenschaftliche Forschung unter den Titeln »Dechiffrierung«, »absolute Chiffre« oder »das hermetische Gedicht« verhandelt, eingegangen und eine vermittelnde Position vorgeschlagen. Dabei erweist sich die Beachtung phonetischer Phänomene mehrfach als der Schlüssel für ein Verstehen des dichterischen Schreib- und (Um-)Gestaltungsprozesses.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Zum Material der Untersuchung
- Zur Gliederung der Untersuchung und der philologischen Methode
- Allgemeine Untersuchungen zum Wortbestand der Fassungen und Varianten
- Zum Wortbestand, der durchgängig beibehalten bzw. wieder aufgegriffen wurde
- Zum Wortbestand, der gleiche Motive variiert
- Zum Wortbestand, der singulär ist
- Einzeluntersuchungen zu Besonderheiten des dichterischen Prozesses
- Die Farbigkeit im Gedicht
- Der Raum im Gedicht
- Die Zeit im Gedicht
- Diskussion der Forschungslage
- Intertextualität – Trakls Ansprache an den Bruder (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra)
- Dechiffrierung oder „absolute Chiffre“? (Walther Killy)
- Literatur-/Medienverzeichnis
- Primärliteratur
- Allgemeine Darstellungen zu Trakls Werk und Leben
- Sekundärliteratur zu Untergang
- Zur philologischen Methode
- Sonstige Literatur
- Medien
- Anhang: Vorstufen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Untersuchung befasst sich mit Georg Trakls Gedicht "Untergang" und analysiert dessen Entstehungsprozess anhand von acht Vorstufen und Varianten. Der Fokus liegt darauf, den "Raum im Spiegel", den das Gedicht konstituiert, als die "schwarzen Zimmer" eines Liebenden zu betrachten und dessen durchsichtige, d.h. teilweise betretbare Dimensionen zu erforschen. Dabei wird die 5. Fassung von "Untergang" als Ausgangspunkt genommen, die sich durch ihre "kristallharte und -helle Kälte" und ihre lyrische Stimmung, die einem "Beschluss" zugeführt wird, auszeichnet.
- Analyse des "Raums im Spiegel" als Metapher für die Innenwelt des lyrischen Ichs
- Untersuchung der Entwicklung des Gedichts durch die verschiedenen Fassungen
- Interpretation der 5. Fassung von "Untergang" und ihrer besonderen lyrischen Stimmung
- Bedeutung von Raum, Farbe und Zeit im Gedicht
- Diskussion der Intertextualität und der Forschungslage zum Gedicht
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Einleitung stellt den Ausgangspunkt der Untersuchung dar und beleuchtet die Bedeutung des "Raums im Spiegel" im Werk Georg Trakls. Sie zitiert Rilkes Gedanken zum Werk Trakls und stellt die 5. Fassung von "Untergang" als zentralen Untersuchungsgegenstand vor.
- Zum Material der Untersuchung: Dieses Kapitel erläutert die Quellen und Materialien, die für die Untersuchung verwendet werden, insbesondere die acht Vorstufen und Varianten von "Untergang".
- Zur Gliederung der Untersuchung und der philologischen Methode: Hier wird die Struktur der Untersuchung dargelegt und die angewandte philologische Methode erläutert.
- Allgemeine Untersuchungen zum Wortbestand der Fassungen und Varianten: Dieses Kapitel analysiert den Wortbestand der verschiedenen Fassungen und untersucht, welche Wörter durchgängig beibehalten bzw. wieder aufgegriffen werden, welche Motive variieren und welche Wörter singulär sind.
- Einzeluntersuchungen zu Besonderheiten des dichterischen Prozesses: Dieser Abschnitt beleuchtet die Farbigkeit, den Raum und die Zeit im Gedicht und untersucht, wie diese Elemente den dichterischen Prozess beeinflussen und die Bedeutung des Gedichts prägen.
- Diskussion der Forschungslage: Dieses Kapitel beleuchtet verschiedene Interpretationen des Gedichts, insbesondere die Aspekte der Intertextualität und die Frage der "Dechiffrierung" bzw. der "absoluten Chiffre".
Schlüsselwörter
Die Untersuchung konzentriert sich auf die Analyse des Gedichts "Untergang" von Georg Trakl und dessen Entstehungsprozess anhand von acht Vorstufen und Varianten. Schlüsselbegriffe sind: "Raum im Spiegel", "schwarze Zimmer", "Liebender", "kristallharte und -helle Kälte", "Beschluss", "Farbigkeit", "Zeit", "Intertextualität", "Dechiffrierung", "absolute Chiffre".
- Arbeit zitieren
- Michael Ebers (Autor:in), 1992, Der Raum im Spiegel - Georg Trakls Gedicht "Untergang" in seinen Fassungen und Varianten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144700