Aggression als mögliche Ausdrucksform einer gestörten Identitätsenwicklung bei Jugendlichen


Examensarbeit, 2002

100 Seiten, Note: 2,1


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 EINLEITUNG

2 DIE BEDEUTUNG DER IDENTITÄT FÜR AGGRESSIVES VERHALTEN
2.1 Begriffe und Definitionen
2.1.1 Identität
2.1.1.1 Soziale Identität
2.1.1.2 Persönliche Identität
2.1.1.3 Ich-Identität
2.1.1.4 Selbstkonzept
2.1.1.5 Selbstbild
2.1.2 Aggression
2.1.2.1 Expressive Aggression
2.1.2.2 Verbale Aggression
2.1.2.3 Gewalt als Ausdruck körperlicher Aggression
2.2 Erklärungsansätze der Identitätsentwicklung
2.2.1 Identitätsentwicklung nach Erikson
2.2.1.1 Ur-Vertrauen versus Ur-Misstrauen
2.2.1.2 Autonomie versus Scham und Zweifel
2.2.1.3 Initiative versus Schuldgefühle
2.2.1.4 Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl
2.2.1.5 Identität versus Identitätsdiffusion
2.2.1.6 Intimität und Distanzierung versus Selbstbezogenheit
2.2.1.7 Generativität versus Stagnierung
2.2.1.8 Integrität versus Verzweiflung und Ekel
2.2.2 Identitätsentwicklung nach Mead
2.2.2.1 Identität und Gruppe
2.2.2.2 Identität und Kommunikation
2.2.2.3 „Ich“ und „ICH“ als Stadien der Identität
2.2.3 Weitere Ansätze zur Identitätsentwicklung
2.2.3.1 Theorie des Selbst nach Rogers
2.2.3.2 Berufs-Identität nach Fend
2.2.4 Identitätsentwicklung und Aggression
2.3 Theorien aggressiven Verhaltens aus der Perspektive der Identitätspsychologie
2.3.1 Psychoanalytischer Ansatz nach Freud
2.3.1.1 Die Triebtheorie
2.3.1.2 Der psychische Apparat
2.3.1.3 Das Phasenmodell der psycho-sexuellen Entwicklung
2.3.1.4 Der elterliche Konflikt als Störfaktor für die Entwicklung des Kindes
2.3.2 Individualpsychologischer Ansatz nach Adler
2.3.2.1 Minderwertigkeitsund Überlegenheitskomplexe
2.3.2.2 Gemeinschaftsgefühl
2.3.3 Lerntheoretischer Ansatz
2.3.3.1 Lernen am Modell
2.3.3.2 Sozial-kognitive Lerntheorie
2.3.3.3 Aggressive Modelle: Familie und Medien
2.3.3.4 Motivation und Aggression
2.3.3.5 Soziale Kognition und Aggression
2.3.4 Soziologische Ansätze
2.3.4.1 Anomie-Theorie
2.3.4.2 Subkultur-Theorie
2.3.4.3 Labeling Approach
2.3.4.4 Desintegrations-Verunsicherungs-Gewalt-Konzept

3 PERSPEKTIVEN FÜR DIE STÄRKUNG VON IDENTITÄT IM SCHULISCHEN KONTEXT: AUSGEWÄHLTE BEISPIELE
3.1 Lehrerverhalten
3.2 Unterrichtsgestaltung
3.3 Schulberatung
3.3.1 Schullaufbahnberatung
3.3.2 Berufsbildungsund Studienberatung
3.3.3 Psychologische Einzelfallhilfe

4 SCHLUSSBETRACHTUNG

5 LITERATURVERZEICHNIS

6 ABBILDUNGSVERZEICHNIS

1 EINLEITUNG

Am 26. April diesen Jahres standen deutsche Schüler, Lehrer und Eltern unter Schock. Dass Aggression und Gewalt an deutschen Schulen stetig zunimmt und dazu immer brutaler wird, ist regelmäßig aus den Medien zu erfahren. Doch was an diesem Freitagmorgen im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt geschah, war in dem Ausmaß bisher nur von Berichten aus Amerika bekannt. Der 19-jährige Schüler Robert Steinhäuser tötete insgesamt 16 Schüler und Lehrer und anschließend sich selbst. Schnell drängte sich die Frage auf, was einen jungen Menschen zu einer solchen Tat bewegen kann.

Entgegen ersten Annahmen handelte es sich bei Robert Steinhäuser keineswegs um einen auffälligen, aggressiven Schüler, der aus schlechten Familienverhältnissen stammte oder unter schwierigen Lebensumständen aufwuchs. Im Gegenteil, seine Eltern führten eine solide Ehe. Familie und Freunde sind sich in Bezug auf Robert einig: „Still war er – aber kein Stück aggressiv“1. Seine einstige Lehrerin sagt: „Höflich und freundlich war er“2. Dieses Bild passt nicht zu dem Robert, der am besagten Tag das grausame Blutbad anrichtete. Laut Spiegel könne man den Eindruck gewinnen, man habe es mit zwei, drei verschiedenen Menschen zu tun.3

Der Amoklauf an sich ist aus psychologischer Sicht ein Sonderfall aggressiven Verhaltens, dessen Typologie nicht erläutert werden soll. Diese schwerwiegende Gewalttat soll vielmehr ein Beispiel für viele andere Formen von Aggression sein, die sich heutzutage in den verschiedensten Alltagssituationen abspielen. In der gleichen Spiegel- Ausgabe findet sich ein Artikel über die Situation an anderen deutschen Schulen:

„Schlagen, Würgen, Treten, Randalieren, Erpressen und Demütigen finden täglich statt“ – ein „Kampf mit harten Bandagen“4. Die Liste der Ausdrucksformen von Aggression ist nahezu unendlich – die Liste der Ursachen ebenso.

In der vorliegenden Arbeit wird zunächst ein Teilaspekt, der als ein möglicher Verursachungsmoment für aggressives Verhalten in Frage kommt, behandelt. Es geht um die Bedeutung der Identitätsentwicklung bei aggressiven Jugendlichen. Welche Defizite liegen in der Identitätsentwicklung vor? Und warum kann eine gestörte Identitätsentwicklung aggressives Verhalten nach sich ziehen? Diese Fragen werden im Laufe der Arbeit aufgenommen und behandelt.

Zu Beginn werden die Begriffe der „Identität“ und „Aggression“ definiert und erläutert. Danach werden Erklärungsansätze der Identitätsentwicklung dargestellt. Eriksons Ansatz beschreibt die psychoanalytische, Mead die soziologische Sichtweise der Identitätsentwicklung. Außerdem werden die „Theorie des Selbst“ nach Rogers und die Entwicklung der „Berufs-Identität“ nach Fend ergänzend erläutert.

Im Anschluss daran werden grundlegende Theorien zur Entstehung von Aggression dahingehend untersucht, inwieweit sie Identitätsfaktoren enthalten oder berücksichtigen. In dem Zusammenhang werden unterschiedliche Ansätze aus der Psychoanalyse, der Individualpsychologie, der Lerntheorien, der Motivationsund Kognitionspsychologie sowie der Soziologie beleuchtet.

Zum Abschluss werden Perspektiven für die Stärkung der Identität bei Jugendlichen im schulischen Kontext aufgezeigt. Hierbei stehen das Lehrerverhalten, die Unterrichtsgestaltung und die Schulberatung im Mittelpunkt der Überlegungen. Damit soll eine Möglichkeit von vielen dargestellt werden, wie Identität bei Jugendlichen gefördert und dadurch Aggression verhindert oder zumindest vermindert werden kann.

Es bleibt noch darauf hinzuweisen, dass in der vorliegenden Arbeit der Einfachheit halber Schülerinnen und Lehrerinnen nicht explizit als solche betitelt werden, sondern gemeinsam und gleichwertig mit den männlichen Personen als Gesamtheit der „Schüler“ oder der „Lehrer“ zu verstehen sind.5

2 DIE BEDEUTUNG DER IDENTITÄT FÜR AGGRESSIVES VERHALTEN

In diesem Kapitel werden zunächst die sehr weitläufigen Begriffe „Identität“ und „Aggression“ erläutert und – so weit wie möglich – präzise definiert. Anschließend werden verschiedene Ansätze zur Identitätsentwicklung dargestellt, um näher auf den Zusammenhang von Identität und aggressivem Verhalten eingehen zu können.

2.1 Begriffe und Definitionen

2.1.1 Identität

Konsultiert man zur ersten Begriffsannäherung den Brockhaus, so wird „Identität“ hier beschrieben als „Sichselbstgleichheit“ bzw. im psychologischen Sinne als „die ständig erlebte Einheit der Person, des Selbst“6. Als Hauptvertreter der Erforschung der Identitätsentwicklung gilt Erik H. Erikson, auf dessen Theorie diese Arbeit u.a. basiert. Er formuliert Identität differenzierter:

„Der Begriff »Identität« drückt also insofern eine wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt“7.

Indem Erikson das Umfeld in seine Definition mit einschließt, macht er deutlich, dass sich Identität nicht selbstständig aus dem Inneren des Individuums heraus entwickelt, sondern durch einen Prozess, in Interaktion mit anderen Menschen, entsteht. Helmut Fend schließlich verbindet mit dem Konzept der „Identität“ die Fragen „Wer bin ich?“ und „Wo kann ich in dieser Welt stehen?“8. Demnach bleibt festzuhalten, dass sich „Identität“ dadurch auszeichnet, dass sich eine Person ihrer selbst und ihrer Position in der Umwelt bewusst wird und sich innerhalb dieses Rahmens realistisch einzuschätzen weiß.

Im Folgenden soll der Begriff der „Identität“ differenzierter, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Es wird unterschieden zwischen 1. s ozialer Identität, 2. persönlicher Identität und 3. Ich-Identität. Die häufig mit „Identität“ in Verbindung gebrachten Begriffe „Selbstkonzept“ und „Selbstbild“ werden im Anschluss daran definiert.

2.1.1.1 Soziale Identität

Erving Goffman, auf den sich die nächsten zwei Kapitel beziehen, hat versucht Identitätskategorien zu bilden. Die erste Kategorie ist die der „sozialen Identität“, welche er wie folgt beschreibt:

„Die Gesellschaft schafft die Mitte zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet. Die sozialen Einrichtungen etablieren die Personenkategorien, die man dort vermutlich antreffen wird. [...] Wenn ein Fremder uns vor Augen tritt, dürfte uns der erste Anblick befähigen, seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine »soziale Identität« zu antizipieren – um einen Terminus zu gebrauchen, der besser ist als »sozialer Status«, weil persönliche Charaktereigenschaften wie zum Beispiel »Ehrenhaftigkeit« ebenso einbezogen sind wie strukturelle Merkmale von der Art des »Berufs«“9.

Goffman sieht demnach in der Gesellschaft die maßgebende Instanz, welche bestimmte Kategorien zur Einteilung, bzw. Identifikation von Personen vorgibt. In sozialen Einrichtungen wie z.B. Gymnasien sammeln sich jene Personenkategorien, die sich je nach Einrichtung unterscheiden. Anhand spezifischer Eigenschaften, die von der jeweiligen sozialen Einrichtung abhängen, lassen sich Rückschlüsse auf die soziale Identität der Person ziehen, anders gesagt: Man kann die Person antizipieren. Weiter beschreibt Goffman, dass man sich auf diese Antizipation stütze, indem man sie in „normative“ Erwartungen, d.h. in „rechtmäßig“ gestellte Anforderungen, umwandele.10

Goffman differenziert die soziale Identität weiter in eine virtuale soziale Identität, welche durch Forderungen entsteht, die „im Effekt“ an sie gestellt werden und eine aktuale soziale Identität mit der Kategorie und den Attributen, „[...] deren Besitz dem Individuum tatsächlich bewiesen werden [kann] [...]“11. Besteht eine Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität, kommt es zur Stigmatisierung, d.h. das Individuum „[...] ist in unerwünschter Weise anders, als wir es antizipiert hatten“12.

2.1.1.2 Persönliche Identität

Geht es bei der sozialen Identität um die Subsumtion von Personen unter Kategorien, die Zuschreibung von Eigenschaften, also die Identifizierung durch eher allgemeine Begriffe, so beschreibt im Gegensatz dazu die „persönliche Identität“13 die „Einzigartigkeit“ einer Person. Dazu zählt Goffman zum einen „positive Kennzeichen“, bzw.

„Identitätsaufhänger“ wie Namen, Fingerabdrücke und verschiedene Daten. Zum anderen gehört dazu „[...] der ganze Satz von Fakten [...], als Kombination [, die] für keine andere Person in der Welt als gültig befunden werden [...] kann“. Goffman fügt eine dritte Sichtweise hinzu, die er jedoch nicht unmittelbar zur persönlichen Identität zählt. Es ist das, „[...] was ein Individuum von allen anderen unterscheidet, das Innerste seines Seins ist, ein allgemeiner und zentraler Aspekt seines Wesens, der es durch und durch anders macht, nicht nur identifizierbar anders, als diejenigen, die ihm am meisten gleichen“. Durch die folgende Darstellung zeigt sich, wie bedeutend die ersten beiden Beschreibungen für Goffman sind, denn „[m]it persönlicher Identität meine ich nur die ersten beiden Vorstellungen – positive Kennzeichen oder Identitätsaufhänger und die einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte, die mit Hilfe dieser Identitätsaufhänger an dem Individuum festgemacht wird“.

Die Erläuterung der sozialen und der persönlichen Identität gibt Aufschluss über die objektiv betrachtete Person als einzigartiges Wesen: „Soziale und persönliche Identität sind zuallererst Teil der Interessen und Definitionen anderer Personen hinsichtlich des Individuums, dessen Identität in Frage steht“14. Doch mit dem Begriff Identität muss auch eine subjektive Perspektive der Person einhergehen. Sie wird als „Ich-Identität“ bezeichnet.

2.1.1.3 Ich-Identität

Die „Ich-Identität“ ist „[...] zuallererst eine subjektive und reflexive Angelegenheit, die notwendig von dem Individuum empfunden werden muß, dessen Identität zur Frage steht“15. Goffman betrachtet die Ich-Identität der sozialen und persönlichen Identität nicht entgegengesetzt, sondern fügt den ersten beiden Identitäten eine weitere Dimension hinzu, denn „[n]atürlich konstruiert das Individuum sein Bild von sich aus den gleichen Materialien, aus denen andere zunächst seine soziale und persönliche Identifizierung konstruieren, aber es besitzt bedeutende Freiheiten hinsichtlich dessen, was es gestaltet“16. Er macht damit deutlich, dass das Individuum in dem Rahmen einer passiv erlangten Identität aktiv, eigenständig und nach eigenem Empfinden handeln kann. Die folgende Definition nach Erikson hebt das subjektive Empfinden des Individuums bezüglich seiner Identität besonders hervor:

„Das bewußte Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen. Was wir hier Ich-Identität nennen wollen, meint also mehr als die bloße Tatsache des Existierens, vermittelt durch persönliche Identität; es ist die Ich-Qualität dieser Existenz“17.

2.1.1.4 Selbstkonzept

In der Literatur werden die Begriffe „Selbstkonzept“ und „Selbstbild“ häufig synonym verwendet. Es besteht in Wirklichkeit ein sehr feiner Unterschied, der durch die folgenden Definitionen herausgestellt wird: „Das Selbstkonzept ist die Auffassung einer Person von sich selbst. [Es] betrifft alle Einstellungen, Urteile, Bewertungen ihres Verhaltens und ihrer Eigenschaften“18. Die Theorie des Selbstkonzepts geht auf Carl Rogers zurück, der in der Psychotherapie einen Weg fand, das Selbstkonzept einer Person insoweit zu verändern, dass es dem tatsächlichen Verhalten und Erleben entspricht.

2.1.1.5 Selbstbild

Das „Selbstbild“ einer Person wird beschrieben als „ein relativ beständiges, aber änderbares System von Erwartungen, Beurteilungen, Überzeugungen, Gefühlen und Wunschvorstellungen bezüglich der eigenen körperlichen, psychologischen und sozialen Merkmale. Das Selbstbild entsteht im Verlauf der Sozialisation durch die Auseinandersetzung mit dem Bild, das andere sich von einem machen, dem Fremdbild“19.

Die verschiedenen Erklärungen zeigen die Schwierigkeit auf, den Begriff Identität zu definieren, da er von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet werden kann und mit vielen anderen Begriffen in Verbindung steht. Für das Verständnis im weiteren Verlauf sei zusammenfassend festgehalten, dass Identität die Übereinstimmung der erlebten mit der tatsächlichen Person voraussetzt. Ist diese Übereinstimmung vorhanden, kann die Gleichheit des eigenen Bildes mit dem, das die Umwelt von jemandem hat, eintreten. Auf der Basis dieses Bewusstseins folgt die Einnahme der persönlichen Position innerhalb der (Um-) Welt. Die soziale Identität gibt Auskunft über den Platz einer Person in der Gesellschaft, die persönliche Identität beschreibt die objektive Einzigartigkeit einer Person mit all seinen spezifischen Merkmalen. Die Ich-Identität umfasst schließlich das bewusste Gefühl, die subjektive Einstellung und Wahrnehmung der eigenen Identität. Selbstkonzept und Selbstbild werden hier als nahe Bezugspunkte der Ich-Identität gesehen, weil sie den Bereich der eigenen Wahrnehmung und Einschätzung genau beschreiben.

2.1.2 Aggression

Aggression bedeutet ursprünglich „Angriff“ (lat.: aggressio) bzw. „herangehen“ (lat.: aggredi) und wird auch so in den meisten Definitionen verwendet: Aggression ist eine „Angriffshaltung gegenüber Menschen, Tieren, Gegenständen oder Einrichtungen mit dem Ziel, sie zu beherrschen, zu schädigen oder zu vernichten“20. Diese Definition ist als Basis der vorliegenden Arbeit zu betrachten. Im Folgenden werden noch weitere Begriffsklärungen herangezogen, damit der vielfältige und nicht eindeutig definierbare Begriff der „Aggression“ inhaltlich besser beschrieben werden kann. In Kapitel 2.3 werden die Begriffsklärungen wieder aufgegriffen und im Rahmen der verschiedenen Theorien vertieft.

Nach obiger Definition steht hinter Aggression grundsätzlich eine Intention, sie ist also gerichtet. Dass diese Intention nicht vorhanden sein muss, belegt die folgende These. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, vertritt die Auffassung, dass Aggression angeboren und damit Ausdruck menschlicher Grundtriebe ist. Er unterscheidet zwischen Eros und Destruktionstrieb, wobei „Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören“21. Aus dieser Definition geht hervor, dass der Trieb ursächlich für die Bereitschaft (Aggressivität) zu aggressivem Verhalten (Zerstörung) ist. Eine weitere Definition soll verdeutlichen, dass Aggression keineswegs grundsätzlich gerichtet ist: „Aggression wird hier definiert als eine Handlung, mit der eine Person eine andere Person zu verletzen versucht oder zu verletzen droht, unabhängig davon, was letztlich das Ziel dieser Handlung ist“22. Die Zielgerichtetheit wird als ein Kriterium der Aggression herausgenommen, allerdings wird im Gegensatz zur ersten Definition Aggression nur als zwischenmenschliches Verhalten verstanden. Im Zusammenhang mit „Aggression“ wird häufig der Begriff der „Aggressivität“ erwähnt, der hier gelten soll als „eine erschlossene, relativ überdauernde Bereitschaft zu aggressivem Verhalten“23. Aggression kann sich in verschiedenen Ausdrucksweisen präsentieren. Zum einen in expressiver und verbaler Form, zum anderen als körperliche Gewalt.

2.1.2.1 Expressive Aggression

Die Basis expressiver Aggression sind starke Gefühlserregungen. Selg definiert sie als solche, „[...] die primär nach Aufhebung einer Störung und nach Befreiung von aktueller Spannung streben; sie sind affektbedingt und affektbegleitet. Sie sind noch sehr stark Ausdruck von Ärger und Wut [...]“24.

2.1.2.2 Verbale Aggression

Unter verbaler oder sprachlicher Aggression versteht Nolting „[...] zum einen solche, die ihrem Inhalt nach aggressiv sind, wie Verleumden, Hetzen, Drohen, Lächerlichmachen usw., zum anderen solche, die sich auch durch einen eigenen Wortschatz auszeichnen, wie Fluchen, Beschimpfen usw.“25. Anzumerken ist, dass auch nicht-verbales Verhalten, wie Nichtzuhören und Ignorieren oder bewusstes Falschverstehen aggressive Tendenzen beinhalten kann.

2.1.2.3 Gewalt als Ausdruck körperlicher Aggression

Gewalt ist genau wie Aggression ein nur schwer definierbarer Begriff. Selg setzt Gewalt gleich mit „[...] angedrohter oder ausgeübter physischer Aggression, sofern sie mit zumindest relativer Macht einhergeht [...]“26. Im Brockhaus wird Gewalt definiert als „Anwendung von Zwang [und] unrechtmäßige[m] Vorgehen“27. Nolting bezeichnet Gewalt zunächst so, wie der Begriff auch häufig umgangsprachlich genutzt wird, nämlich als „[...] schwerere, insbesondere körperliche Formen der Aggression [...]“28 und verweist dann auf Galtung, der Gewalt in strukturelle Gewalt (soziale Ungerechtigkeit, Unterdrückung durch ein System) und personale Gewalt (Schädigung durch aktives, zielgerichtetes Verhalten durch Personen innerhalb eines solchen Systems) differenziert.29

Es fällt auf, dass die geklärten Begriffe sehr viele verschiedene Herangehensweisen erlauben. Vor allem Aggression könnte noch weiter ausdifferenziert werden, was an dieser Stelle jedoch den Rahmen sprengen würde und für das Verständnis der Arbeit nicht zwingend notwendig ist.

2.2 Erklärungsansätze der Identitätsentwicklung

Nachdem die Hauptbegriffe Identität und Aggression geklärt wurden, geht es nun darum, die Entwicklung der Identität in den Mittelpunkt zu rücken. Dadurch wird eine Basis geschaffen, um die besondere Rolle der Identität im Zusammenhang mit aggressivem Verhalten erklären zu können. In diesem Aspekt liegt der Grund, warum Eriksons Theorie vor der Theorie Freuds erläutert wird, obwohl es nach chronologischer Reihenfolge umgekehrt sein müsste. Im Gesamtkontext der Arbeit soll Identität als ein Persönlichkeitsmerkmal des Menschen im Mittelpunkt stehen.

2.2.1 Identitätsentwicklung nach Erikson

Eriksons Theorie der Identitätsentwicklung ist trotz einiger Schwächen bis heute anerkannt und wird für viele entwicklungspsychologische Untersuchungen genutzt. Laut Erikson durchläuft jeder Mensch acht psychosoziale Phasen, in denen sich eine gesunde Persönlichkeit entwickelt. Mit jeder Phase geht die Bewältigung einer Krise einher. Werden die Krisen nicht vollständig bewältigt, kommt es zur „Identitätskrise“, welche Erikson u.a. bei verhaltensauffälligen Jugendlichen, die „mit ihrer Gesellschaft im Kriegszustand stehen“30, beobachtet hat.

Bei Bewältigung der Phasen, bzw. der Krisen erlangt der Mensch schließlich Ur-Vertrauen, Autonomie, Initiative, Werksinn, Identität, Intimität und Solidarität, Generativität und Integrität. Im Rahmen der Fragestellung spielen besonders das Ur-Vertrauen und die Identität eine übergeordnete Rolle. Da die Phasen aufeinander aufbauen und eine Phase erst nach Bewältigung der letzten erreicht werden kann, werden alle Phasen beschrieben und sowohl die positiven als auch mögliche negative Ergebnisse herausgestellt.

2.2.1.1 Ur-Vertrauen versus Ur-Misstrauen

Erikson führt das Ur-Vertrauen auf Erfahrungen innerhalb des ersten Lebensjahres zurück und versteht darunter das, „[...] was man im allgemeinen als ein Gefühl des Sich- Verlassen-Dürfens kennt, und zwar in Bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit seiner selbst“31. An anderer Stelle beschreibt er das Ur-Vertrauen als „Eckstein der Persönlichkeit“32. Die wichtigste Bezugsperson der ersten Phase ist die Mutter, welche „[...] das Ur-Vertrauen ihres Kindes durch einfühlsames Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse des Säuglings und ein sicheres Gespür für persönliche Verläßlichkeit [...] vermittelt“33. Wird das Ur-Vertrauen nicht ausgebildet, entsteht beim Erwachsenen Ur-Misstrauen und er zieht sich in einer bestimmten Weise in sich zurück, wenn er mit sich selbst und anderen uneins ist.34 Demzufolge wird das zu Anfang erwähnte Sich-Selbst-Gleichsein nicht ausgebildet, das für die Entwicklung der Identität notwendig ist. Erikson nennt die Phase in Anlehnung an Freuds „orale Phase“ „Einverleibungsphase“, weil die Nahrungsaufnahme und orale (den Mund betreffende) Erfahrungen im Vordergrund stehen. Bleibt der Konflikt in dieser Phase ungelöst, entsteht ein „oraler Pessimismus“. Dieser kann „[...] infantile Ängste wie die, »leergelassen« oder gar »verlassen zu werden«, aber auch die, in seinem Reizhunger ungestillt zu bleiben, in den depressiven Formen des »Leerseins« und »zu nichts gut Seins« [...]“35 nach sich ziehen.

Die Ausbildung des Ur-Vertrauens ist notwendig, um im Jugendund Erwachsenenalter sowohl Selbstvertrauen und Selbstsicherheit als auch Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen zu können. Nur wenn eine Person diese Charaktereigenschaften besitzt, kann sie positive Einstellungen entwickeln und sozial handeln. Ansonsten entsteht Misstrauen, also eine Skepsis gegenüber der eigenen Person und den Mitmenschen, was sich negativ auf innige Beziehungen auswirken und schlimmstenfalls zu abweichendem, bzw. aggressivem Verhalten führen kann. Eine kritische Distanz muss allerdings vorhanden sein, damit Menschen und Situationen, von denen eventuell Gefahren ausgehen könnten, realistisch eingeschätzt werden können.

2.2.1.2 Autonomie versus Scham und Zweifel

In der zweiten Phase (etwa von zwei bis drei Jahren) ist die Fortführung der ersten gut zu erkennen, denn das Vertrauen ist die Basis für Autonomie, Misstrauen ist die Basis für das Gefühl des Zweifels.36 Rein physiologisch gesehen steht die Entwicklung des Muskelsystems im Mittelpunkt, die zur Folge hat, dass das Kind zunehmend eigenständiger wird und es die Aktivitäten des Festhaltens und Loslassens trainiert. Die eintretende Eigenwilligkeit des Kindes zeigt sich vor allem in der Kontrolle des Schließ- muskels.37 Miller weist auf die Dringlichkeit hin, dass Eltern ihrem Kind eine unterstützende Atmosphäre bieten, „[...] in der es ein Gefühl für Selbstkontrolle entwickeln kann, ohne seine Selbstachtung zu verlieren“38. Werden Selbstkontrolle und Selbstachtung nur unzulänglich ausgebildet, entstehen Scham und Zweifel, und „[w]er sich schämt, glaubt sich exponiert und beobachtet, ist unsicher und befangen“39. Diese Befangenheit kann entweder zum Rückzug einer Person oder zu Angriffsverhalten führen, noch bevor jemand Scham auslösen kann. Beim Kind wird dieses Verhalten ansatzweise durch sein Trotzverhalten, das für diese Phase typisch ist, deutlich. Abschließend ist zu sagen, dass dieses Stadium entscheidend ist „für das Verhältnis zwischen Liebe und Haß, Bereitwilligkeit und Trotz, freier Selbstäußerung und Gedrücktheit“40.

2.2.1.3 Initiative versus Schuldgefühle

Die dritte Phase durchlebt das Kind mit vier bis fünf Jahren und es „[...] weiß jetzt sicher, daß es ein Ich ist; nun muß es herausfinden, was für eine Art Person es werden will“41. Und das macht das Kind, indem es zunehmend aktiver wird und seine Umwelt erforscht; einerseits durch viel Bewegung, andererseits durch eine enorme Wissbegier, die es mittels gut entwickelter Sprache preisgibt. Durch die gewonnenen Erfahrungen erweitert das Kind seine Vorstellungswelt und es entwickelt ein besonderes Verhältnis zu seinen Eltern. Sie erscheinen ihm als sehr mächtig und schön und das Kind hat den Wunsch, so zu werden wie sie. Das zeigt sich vor allem in dem für das Alter typischen Vater-Mutter-Kind-Spiel, in dem Kinder diese Wunschrollen einnehmen und erproben. Eine weitere Beobachtung, die sich in dieser Phase machen lässt, ist „[...] ein konzentriertes Interesse an den Genitalien beider Geschlechter und ein Trieb zu spielerischen Geschlechtsakten oder mindestens ein geschlechtlicher Forscherdrang“. Die Erkenntnis, dass man den Eltern im geschlechtlichen Bereich deutlich unterlegen ist und zudem niemals eine geschlechtliche Beziehung zur Mutter bzw. als Mädchen eine geschlechtliche Beziehung zum Vater haben kann, hat „tiefe emotionale Folgen mit magischen Ängsten“, die Freud als „Ödipus-Komplex“ (s. Freud, Kap. 2.3.1.3) bezeichnet. Der einzig mögliche Weg heraus aus dieser Krise ist die Identifikation mit dem jeweiligen Elternteil und diese bringt „[...] die Herausbildung des Gewissens sowie eine Reihe von Interessen, Einstellungen und geschlechtsspezifischen Verhaltens mit sich“42.

2.2.1.4 Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl

In Bezug auf die Persönlichkeit drücken sich die Überzeugungen des Kindes in den bisherigen Stadien wie folgt aus: 1. „Ich bin, was man mir gibt“, 2. „Ich bin, was ich will“, 3. „Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann“. Das folgende Stadium (sechs Jahre bis Pubertät) beinhaltet: „Ich bin, was ich lerne“43. Diese Überzeugung folgt unweigerlich aus dem Ereignis des Schuleintritts. Es geht nicht mehr um bloße Initiative und Tätigkeit, sondern um das Erkennen und Trainieren der eigenen Fähigkeiten und das gemeinsame Tun mit anderen. Das positive Ergebnis dieser Phase ist laut Erikson der Werksinn, der Kindern das Gefühl gibt, „[...] auch nützlich zu sein, etwas machen zu können und es sogar gut und vollkommen zu machen [...]“. Er führt diesen Tätigkeitsdrang auf die „Sublimierung“ zurück: Anstatt unbedingt in die Elternrolle schlüpfen zu wollen, wird die Energie in das Erreichen nützlicher und anerkannter Ziele (z.B. Fleiß) gesteckt. In dieser Phase kann das Kind vor allem auf Probleme stoßen, wenn die vorherigen Phasen noch nicht abgeschlossen sind. Wenn das Kind noch eine zu starke Bindung an seine Eltern empfindet, sieht es keinen Anreiz in selbstständigem, produktivem Verhalten; oder seine Erwartungen werden dadurch enttäuscht, dass das bisherige Wissen und Können keine Anerkennung bei dem Lehrer findet. Es muss sich erst durch eigene, neue Leistungen profilieren. An dieser Stelle ist der kritischste Punkt erreicht (falls es sich nicht profilieren kann). Bekommt das Kind keinen Sinn für sein eigenes Tun, erlangt es ein Gefühl von „Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit“ und es hat „[...] das Gefühl, daß [es] niemals etwas recht machen kann [...]“. Das Gefühl der Minderwertigkeit ist häufig bei aggressiven Jugendlichen vorhanden. Alfred Adler hat sich mit diesem Phänomen verstärkt in seinen Theorien der Individualpsychologie beschäftigt (vgl. Kap. 2.3.2).

2.2.1.5 Identität versus Identitätsdiffusion

Mit Beginn der Pubertät, in der die Identität gebildet wird, setzen auch starke körperliche Veränderungen ein. Der Jugendliche überdenkt seine eigene Person und festigt seine soziale Rolle, indem er herauszufinden versucht, „[...] wie er im Vergleich zu seinem eigenen Selbstgefühl, in den Augen anderer erscheint und wie er seine früher aufgebauten Rollen und Fertigkeiten mit den gerade modernen Idealen und Leitbildern verknüpfen kann“44. Jugendliche gehen in der Pubertät dazu über, sich von den bisherigen Idealfiguren (Eltern) zu lösen und nicht selten gegensätzliche Ideale zu suchen. Die Kindheit spielt in der Pubertät eine maßgebliche Rolle, weil „[...] die in der Kindheit gesammelten Ich-Werte in die Ich-Identiät [s.o.] münden“. Anders als in den ersten Stadien, ist die Pubertät nicht nur eine Weiterführung der vorigen Phasen, sondern eine Rekapitulation aller Phasen mit der Besetzung neuer Qualitäten und Prioritäten, denn „[...] auch hier hat das Ganze eine andere Qualität als die Summe seiner Teile“.

Im Kontext der Fragestellung ist die Gefahr der fünften Phase entscheidend für die weitere Entwicklung des Jugendlichen, und sie kann mehr als in den letzten Stadien gravierende Folgen haben. Bekommt der Jugendliche seine eigene neue Rolle nicht zu fassen, was „[...] auf starken früheren Zweifeln beruht, kommt es nicht selten zu kriminellen oder psychotischen Episoden“, und es droht eine „Identitätsdiffusion“. Erikson führt an dieser Stelle noch weitere Faktoren auf, die eine abweichende Entwicklung unterstützen: Zum einen die verzweifelte Suche nach der „Berufs-Identität“ (s. Kap. 2.2.3.2), zum anderen die „Etikettierung“ (s. Kap. 2.3.4.3) durch das Umfeld.

2.2.1.6 Intimität und Distanzierung versus Selbstbezogenheit

Die letzten drei Stadien zählt Erikson zum Erwachsenenalter. Die in der Pubertät integrierte Identität, entstanden durch Freundschaften, Beziehungen zum anderen Geschlecht und andere soziale Beziehungen, geht in der sechsten Phase über in wirkliche Intimität mit dem anderen Geschlecht. Im Gegensatz dazu beschreibt Erikson Beziehungen in der Pubertät als „[...] eine Art jugendlichen Zusammenhaltens zwischen Jungen und Mädchen, das oft fälschlich entweder für sexuelle Anziehung oder für Liebe gehalten wird“45. Die Wichtigkeit dieser Kontakte liegt darin, dass der Jugendliche durch Gespräche und durch das Bekennen zu sich und auch zum anderen zur „Definition seiner eigenen Identität“ gelangt. Misslingt dem Jugendlichen die Ausbildung emotionaler Nähe in jeglicher Form, „[...] wird er sich entweder isolieren oder bestenfalls nur sehr stereotype und formale zwischenmenschliche Beziehungen aufnehmen können [...], oder er muß sie in wiederholten Anläufen und häufigen Mißerfolgen immer neu suchen“. Daraus lässt sich leicht ableiten, dass ein Mensch viel eher zu abweichendem Verhalten neigt, wenn ihm Wärme, Zuneigung und Bestätigung durch den Partner oder durch Freunde fehlen. Er versucht sein Selbstwertgefühl dann an anderer Stelle zu kompensieren und eine Bestätigung seiner Person auf einer anderen Ebene zu suchen, z.B. in einer Gruppe, die Gewalt verherrlicht. Für Erikson ist eben auch das ein Ziel dieser Phase, „[...] die Bereitschaft, Einflüsse und Menschen von sich fernzuhalten, zu isolieren und, falls notwendig, zu zerstören, die einem für das eigene Wesen gefährlich erscheinen“. Er nennt dieses Gegenstück zur Intimität „Distanzierung“.

Die letzten beiden Phasen sind Ausläufer der Persönlichkeitsentwicklung und haben keinen Einfluss auf die Jugend bzw. das frühe Erwachsenenalter, sondern umgekehrt. Sie werden der Vollständigkeit halber kurz beschrieben.

2.2.1.7 Generativität versus Stagnierung

Im Mittelpunkt steht hier der Wunsch nach einer Familie und nach der Erziehung eigener Kinder. Weil es sich zum einen um die Weitergabe der Gene und zum anderen um die Erschaffung einer neuen Generation handelt, nennt Erikson das positive Ergebnis dieser Phase „Generativität“46. Es kann sich u.U. auch auf andere schöpferische Leistungen richten. In welchem Bereich auch immer, es dreht sich um das Wachstum der gesunden Persönlichkeit. Bei Misslingen empfinden Menschen ein „[...] übermächtige[s] Gefühl von Stillstand und Verarmung in den zwischenmenschlichen Beziehungen [...] [und] fallen oft sich selbst gegenüber dem Gefühl anheim, als seien sie ihr eigenes, einziges Kind: sie beginnen sich selber zu verwöhnen“.

2.2.1.8 Integrität versus Verzweiflung und Ekel

Im späten Erwachsenenalter setzt die achte Phase ein, in der der Mensch die Bilanz aus seinem Leben zieht. Entweder er ist zufrieden mit dem, was er geleistet und erreicht hat oder er hat das Gefühl seine Chancen nicht genutzt und einiges verpasst zu haben. Ersteres bezeichnet Erikson als „Integrität“ und beschreibt diesen Zustand als „[...] die Annahme seines einen und einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die in ihm notwendig da sein mußten und durch keine anderen ersetzt werden können. [...] [Außerdem bedeutet es] die Bejahung der Tatsache, daß man für das eigene Leben allein verantwortlich ist“. Todesfurcht ist laut Erikson ein Ausdruck der Verzweiflung, in der sich das Gefühl ausdrückt, „[...] daß die Zeit zu kurz, zu kurz für den Versuch ist, ein neues Leben zu beginnen, andere Wege zur Integrität einzuschlagen“. Die Unzufriedenheit mit sich und seinem Leben drückt sich teilweise in der Verachtung bestimmter Institutionen aus. Ein anderes Beispiel könnte der „Hass“ vieler älterer Menschen auf die Jugend sein, weil junge Menschen vielleicht das machen, was sie immer gerne gemacht hätten, es aber nicht konnten oder sich nicht getraut haben.

Wie Eriksons Vorstellungen konkret mit aggressivem Verhalten in Verbindung gebracht werden können, wird in einem abschließenden Kapitel (2.2.4) erläutert. Zunächst wird eine andere Sichtweise der Identitätsentwicklung dargestellt. Wichtige Ergebnisse liefert die Wissenschaft der Soziologie, in der ebenfalls die Entstehung und Bedeutung der Identität untersucht worden ist.

2.2.2 Identitätsentwicklung nach Mead

George Mead begründete den „symbolischen Interaktionismus“, welcher im Folgenden näher erklärt werden soll. Der „symbolische Interaktionismus“ ist in gewisser Weise in einer Konkurrenzstellung zu den klassischen Rollentheorien zu sehen, „[...] die menschliches Verhalten – soziologisch gesehen – weitgehend damit erklären, daß Individuen unter dem Einfluß von Bezugsgruppen stehen. Diese Gruppen richten nämlich spezifische Erwartungen an Personen, muten ihnen eine Rolle zu und üben mit Hilfe von Sanktionen auch Druck auf die Rollenträger aus. [...] Demnach ist es offensichtlich, daß solche Rollenzwänge auch Jugendliche, besonders solche mit ‚diffuser Identität‘ zu vandalistischem, gewalttätigem Verhalten bewegen können“47.

Nach der Meadschen Vorstellung werden Rollen zwar auch aus der Umgebung einer Person vermittelt, allerdings weniger zwanghaft, denn ein Kind „[...] nimmt ständig die Haltungen der es umgebenden Personen ein, insbesondere die Rollen jener, die es beeinflussen oder von denen es abhängig ist“48. Schon an dieser Stelle ist der Gegensatz zu Eriksons Theorie erkennbar. Wo bei ihm die psychosozialen Krisen im Mittelpunkt stehen, die vom Innern des Individuums ausgelöst werden müssen, um an Persönlichkeit zuzunehmen, ist hier eine Rollenübernahme von außen notwendig. Nach Erikson erlangt jeder Mensch eine Identität – entweder eine positive oder eine negative (Identitätsdiffusion). Mead hingegen setzt zur Entwicklung der Identität konkrete Bedingungen voraus, ohne die ein Mensch keine Möglichkeit hat seine Identität auszubilden.

2.2.2.1 Identität und Gruppe

Die Basis für eine eigene Identität ist die Mitgliedschaft in einer gesellschaftlichen Gruppe: „Der Prozeß, aus dem heraus sich die Identität entwickelt, ist ein gesellschaftlicher Prozeß, der die gegenseitige Beeinflussung der Mitglieder der Gruppe, also das vorherige Bestehen der Gruppe selbst voraussetzt“49. An anderer Stelle macht Mead deutlich, dass die Identitäten nur durch dieses Fortbestehen der Gruppe erhalten bleiben können:

„Der Einzelne hat nur eine Identität im Bezug zu den Identitäten anderer Mitglieder seiner gesellschaftlichen Gruppe. Die Struktur seiner Identität drückt die allgemeinen Verhaltensmuster seiner gesellschaftlichen Gruppe aus, genau wie sie die Struktur der Identität jedes anderen Mitgliedes dieser gesellschaftlichen Gruppe ausdrückt“50.

Es mag den Anschein erwecken, als seien die Identitäten einer Gruppe gleichgestaltet, doch durch die Erklärung der zwei unterschiedliche Stadien der Identität („I“ und „Me“) wird deutlich, dass jede Person innerhalb eines Rahmens ihre eigene Identität entwickelt, die aber „[...] nur soweit existiert und als solche in unsere Erfahrung eintritt, wie die Identitäten anderer Menschen existieren und als solche ebenfalls in unsere Erfahrungen eintreten“51. Die Beziehung zu anderen Identitäten spielt deshalb eine so große Rolle, weil der Mensch sich nur dadurch selbst gegenüber eine objektive Haltung einnehmen kann. Und „[...] wenn er nicht sich selbst objektiv sieht, kann er nicht intelligent oder rational handeln [...] [und] er wird für sich selbst nur zum Objekt, indem er die Haltungen anderer Individuen gegenüber sich selbst innerhalb einer gesellschaftlichen Umwelt oder eines Erfahrungsund Verhaltenskontextes einnimmt, in den er ebenso wie die anderen eingeschaltet ist“52. Die Bedeutung der Interaktion mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft für die eigene Identitätsentwicklung wird noch vertieft. Die Identität wird nicht allein durch die Übernahme von Haltungen und die Interaktion gebildet, sondern es wird zusätzlich vorausgesetzt, dass die Individuen einer „kooperativen Tätigkeit nachgehen“53.

2.2.2.2 Identität und Kommunikation

Wenn Menschen in einer Gemeinschaft agieren, müssen sie sich in irgendeiner Weise verständigen, damit sie erfolgreich sind. Die Verständigung ist für die Entwicklung der Identität wertvoll, „[...] wenn die Übermittlung von Gesten in das Verhalten des Einzelnen hereingenommen wird“54. Als Geste wird das Verhalten einer Person angeführt, aber auch die Mimik und vor allem der Sprachprozess, der für die Entwicklung der Identität maßgebend ist.55 Es gilt natürlich für alle Lebenssituationen, dass die Verständigung und damit die Kommunikation zwischen Menschen funktionieren muss, damit diese sich verstehen. Ein einfaches Beispiel ist das Zusammentreffen von zwei Menschen verschiedener Nationalitäten. Sie können sich vielleicht „mit Händen und Füßen“, also durch Gesten versuchen mitzuteilen, aber ohne eine gleiche sprachliche Ebene kann kein tieferes Verständnis erfolgen. Mead spricht von „sprachlichen Symbolen“, wobei „[e]ntscheidend für die Kommunikation ist, daß das Symbol in der eigenen Identität das gleiche wie im anderen Individuum auslöst“56. Das Beispiel der Sprachen ist vergleichbar mit den Symbolen, die für eine Kommunikation notwendig sind. Die gelungene Kommunikation und das Verstehen des anderen ist im Übrigen auch Grundvoraussetzung für Empathie, auf die im Verlauf dieses Kapitels noch eingegangen wird. Da die Bedingungen für die Identitätsentwicklung nun bekannt sind, werden als nächstes die schon erwähnten Stadien der Identität „Ich“ und „ICH“57 erläuert.

2.2.2.3 „Ich“ und „ICH“ als Stadien der Identität

Im Anschluss an die oben genannte Übernahme von Haltungen lässt sich einleitend sagen:

„Das »Ich« reagiert auf die Identität, die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt. Indem wir diese Haltungen übernehmen, führen wir das »ICH« ein und reagieren darauf als ein »Ich«“58.

Im übertragenen Sinne ist dies so zu verstehen, dass das „ICH“ so etwas wie den Charakter eines Menschen darstellt, der relativ stabil ist und durch Erfahrungen und Erlebnisse geprägt wird. Das „Ich“ zeichnet sich durch die jeweiligen Reaktionen in verschiedenen Situationen aus. Sobald es reagiert und handelt, wird es zum „ICH“ und geht als neuer Erfahrungswert in die Identität ein. Im Gegensatz zum „ICH“ ist das „Ich“ unbestimmt und nicht genau vorhersehbar. Das wird damit begründet, dass sich das „ICH“ aus bereits Erlebtem bildet und das „Ich“ relativ flexibel, aber trotzdem in einem bestimmten Rahmen (des „ICHs“) auf aktuelle Gegebenheiten reagiert. „Somit tritt das »Ich« tatsächlich erfahrungsmäßig als ein Teil eines »ICH« auf“59. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Identität einen individuellen Charakter hat und eigenmächtig, trotz der Internalisierung der Haltungen anderer, handeln kann, denn „[d]as »Ich« liefert das Gefühl der Freiheit, der Initiative. Die Situation ist nun gegeben, damit wir selbst-bewußt handeln können“60. Das „Ich“ steht im Normalfall unter der Kontrolle des „ICHs“. Wenn bei einer Person „impulsives“ oder „unkontrolliertes“ Verhalten auftritt, ist diese Kontrolle nicht mehr gegeben. Das kann geschehen, wenn eine Identität anderen gegenüber stark behauptet werden muss: „Wenn aber der Druck zu groß wird, werden diese Grenzen nicht beachtet, das Individuum drückt sich möglicherweise gewalttätig aus. Dann herrscht das »Ich« als dominierendes Element über das »ICH«“61.

Krappmann hat die Interaktionstheorie Meads weiterentwickelt. Er schreibt der Identitätsbildung Bedingungen zu, die bisher nicht aufgeführt wurden. Ihm reicht die Vorstellung einer einfachen Übernahme von Rollen oder Haltungen anderer nicht aus, denn „[a]ls erste Voraussetzung für Errichtung und Wahrung von Identität erscheint, daß das Individuum überhaupt in der Lage ist, sich Normen gegenüber reflektierend und interpretierend zu verhalten [...] [außerdem benötigt das Individuum] die Fähigkeit, sich über die Anforderungen von Rollen zu erheben, um auswählen, negieren, modifizieren und interpretieren zu können“62. Dem Individuum wird eine größere Eigenleistung zugesprochen, bzw. sie wird zur Identitätsbildung vorausgesetzt. Krappmann nennt diese Fähigkeit des Individuums (nach Goffman) „Rollendistanz“63. Die Rollendistanz oder die „Distanz zu Normen“ ist folglich die Voraussetzung für die bereits erwähnte Empathie, welche Mead auch als „role taking“ bezeichnet:

„‚Role taking‛ ist ein Prozeß, in dem antizipierte Erwartungen ständig getestet und aufgrund neuen Materials, das der fortschreitende Prozeß liefert, immer wieder revidiert werden, bis sich die Interpretationen einer bestimmten Situation und ihrer Erfordernisse unter den beteiligten Interaktionspartnern einander angenähert haben“64.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass der Mensch durch sein Umfeld in dem Maße geprägt und beeinflusst wird, in dem er Rollen, Erwartungen und Anforderungen anderer Menschen übernimmt. Seine Identität hat die Aufgabe, diese Haltungen und Denkweisen zu interpretieren und sich in die unterschiedlichen Personen und Situationen hineinzuversetzen. Dadurch bekommt der Mensch die Möglichkeit, seine Handlungen nach möglichen Reaktionen anderer auszurichten, um so relativ gerichtet zum Ziel zu gelangen. Die Basis für diese Prozesse ist die symbolische Interaktion.

Nach Martin kann der Ansatz des symbolischen Interaktionismus zwei Ebenen für die Erklärung aggressiven Verhaltens liefern. Genau wie bei Erikson werden Identitätsstörungen erwähnt, die darauf beruhen, dass die für die Identitätsbildung entscheidenden Interaktionsprozesse im Sozialisationsfeld fehlen oder nur teilweise vorhanden sind.65 Dies ist sowohl auf die Schule zu beziehen, in der durch Frontalunterricht keine selbstständigen Denkprozesse in Bewegung gesetzt werden, als auch auf die Familie. Diese ist häufig unvollständig und dadurch bleibt Eltern zu oft zu wenig Zeit, um ihren Kindern eine anregende Freizeitgestaltung zu bieten oder einfach für sie da zu sein. Stattdessen wird auf den Fernseher oder den Computer zurückgegriffen, die nur eine „stereotype Kommunikation“ bieten und „[...] so sind oft die erforderlichen Möglichkeiten zum Erlernen von Empathie, zum Finden und Erproben der eigenen Rolle, zum ‚Aushandeln von Identität‛ nicht gegeben [...]. Geistig begründetes, moralisches Handeln in eigener und sozialer Verantwortung kommt teilweise nicht zustande; Jugendliche übernehmen dann u.U. vorgegebene Ziele und Handlungsmuster von Cliquenführern, folgen auch extremistischen Gewaltproben“66.

Die Entwicklung der Identität wurde von zwei unterschiedlichen Perspektiven aus betrachtet. Im Folgenden werden zwei weitere, spezifischere Sichtweisen erläutert. Als erstes geht es um die oben genannte „Theorie des Selbst“ nach Carl Rogers. Danach werden Untersuchungsergebnisse von Helmut Fend dargestellt, die den Zusammenhang von Identität, Berufswahl und aggressivem Verhalten betreffen.

2.2.3 Weitere Ansätze zur Identitätsentwicklung

2.2.3.1 Theorie des Selbst nach Rogers

Die Sichtweise Carl Rogers von einer gesunden Persönlichkeit wird hier vorgestellt, weil sie eine Voraussetzung für soziales Handeln ist. Auf dem Weg zur eigenen Identität ist es für einen Menschen nicht nur von großer Bedeutung herauszufinden, wer er ist und wo er steht, sondern dass er sich auch genau so wie er ist annimmt und akzeptiert (vergleichbar mit dem „Sichselbstgleichsein“, s. Kap. 2.1.1). Dadurch entsteht die Basis für intakte zwischenmenschliche Beziehungen, welche positiv auf einen Menschen zurückwirken und ohne die eine Entwicklung und Ausreifung der Persönlichkeit nicht denkbar wäre. Die positive Einstellung zu sich selbst hat zur Folge, dass man sowohl positivere Einstellungen zu den Mitmenschen hat als auch schwierige Lebenssituationen optimistischer angeht und damit resistenter gegen aggressive Gefühlsausbrüche ist. Vor diesem Hintergrund ist Rogers Theorie zu betrachten, denn wenn diese Grundhaltung geschaffen ist, kann der Mensch seinem Drang nachgehen, „[...] sich auszuweiten, auszudehnen, zu entwickeln, autonom zu werden, zu reifen; die Tendenz, alle Fähigkeiten des Organismus in dem Maße auszudrücken und zu aktivieren, in dem solche Aktivierung den Organismus sich entfalten läßt oder das Selbst steigert“67. Es stellt sich die Frage, wie ein Mensch diese Eigenschaften erlangen kann.

Rogers Ergebnisse stammen hauptsächlich aus seinen persönlichen, psychotherapeutischen Erfahrungen (klientzentrierte Therapie), die er ohne Weiteres auf andere zwischenmenschliche Beziehungen übertragbar macht. Er nennt drei Kriterien, die für das Erfahren und Verstehen des Selbst maßgebend sind: 1. die Authentizität, das Zeigen der wahren Gefühle, 2. das warme Akzeptieren und Schätzen des anderen und 3. die Einfühlung, also die Fähigkeit sich in Menschen hinein zu versetzten und zu verstehen (Empathie). Dadurch erfährt der andere neue Aspekte seines Selbst und nähert sich seinem Wunschbild. Des Weiteren resultieren aus einer solchen Beziehung Integration, Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit, Toleranz und leichtere Bewältigung von Lebenskrisen.68 Rogers führt verschiedene Beispiele zwischenmenschlicher Beziehungen auf, u.a. die Familie und beschreibt, was passieren kann, wenn sich Eltern ihren Kindern gegenüber nicht nach den erwähnten Kriterien verhalten: Die Kinder zeigen „[...] etwas verlangsamte intellektuelle Entwicklung, relativ schlechte Nutzung ihrer tatsächlichen Fähigkeiten und Mangel an Originalität. Sie sind affektiv instabil, rebellisch, aggressiv und streitsüchtig“69. Dieses Verhalten kommt dadurch zustande, dass Kinder nicht gemäß ihres Selbst gefördert und damit ihre Bedürfnisse ignoriert werden. Das Kind neigt mehr und mehr dazu, „[...] das Selbst zu sein, das andere von ihm erwarten, anstelle des Selbst, das es eigentlich ist“70. Das eigentliche Selbst wird dadurch verdeckt und es wird im Laufe der Zeit immer schwieriger, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und entsprechende Befriedigungen herbeizuführen. Die Folgen beschreibt Rogers so: „Wenn die organisierte Selbststruktur den Bedürfnissen des Individuums nicht mehr gerecht wird oder wenn dieses in sich Widersprüche bemerkt, verliert es offenbar die Kontrolle über sein Verhalten“71. Daraus lässt sich schließen, dass Individuen, besonders Jugendliche, die noch auf der Suche nach ihrem Selbst sind, eher zu aggressivem Verhalten neigen, wenn sie ihre echten Bedürfnisse nicht wahrnehmen oder diese nicht befriedigt werden. Die von außen kommenden Erwartungen, die nicht erfüllt werden können, unterstützen das Dilemma. Rogers sagt, dass das Selbstkonzept eines Menschen in dem Fall „[...] in einer Weise strukturiert ist, die »inkongruent« (im Widerspruch) mit seinem Gesamterleben ist“72. Rogers hat es als Ziel seiner Therapieform angesehen, das wirkliche Selbst in einem Menschen aufzudecken. Wie dieser Weg in der Schule verwirklicht werden kann, damit Jugendliche ihr „Selbst“ erfahren und verstehen und so zu sozialem Verhalten befähigt werden, haben v.a. Tausch und Tausch erarbeitet. Die Ansätze werden in Kapitel 3 dargestellt.

Das folgende Kapitel bezieht sich auf einen weiteren wichtigen Bereich der Identitätsfindung, nämlich den der beruflichen Identität. Es ist ein entscheidender Prozess im Jugendalter herauszufinden, wo die eigenen Fähigkeiten liegen, wie man diese ausbauen und nutzen kann. Helmut Fend hat diesen Bereich der Identität intensiv erforscht. Er untersuchte außerdem die Geschlechtsrollenidentität, die politische Identität und weltanschauliche Identitäten, die für diese Arbeit jedoch nicht relevant sind und deshalb unbeachtet bleiben.

2.2.3.2 Berufs-Identität nach Fend

Erikson weist den ersten vier Phasen der Entwicklung verschiedene Überzeugungen des Kindes zu. Fend beschreibt das berufliche Lebensskript für die eigene Identität als „Ich bin, was ich kann“73. Für den Berufsfindungsprozess nennt er als einen wichtigen Faktor „[...] die Selbsteinschätzung der berufsrelevanten Kompetenzen des Jugendlichen, die durch den Leistungsstand in der Schule stark beeinflußt werden dürfte“74. Leider entsprechen die schulischen Leistungen vielfach nicht den Wunschvorstellungen (sowohl den eigenen, als auch denen der Eltern). Fend hat nachgewiesen, dass besonders Hauptschüler selten mit ihrem Abschluss zufrieden sind und dass sich nur 12 % aller Schüler in der 9. Schulklasse den Hauptschulabschluss wünschen. Bei Realschülern besteht eine geringere Diskrepanz zwischen Schulabschluss und Schulabschlusswunsch. Fend schreibt den Schülern der beiden Schultypen einen Prozess der Notwendigkeit zu, Ansprüche zu reduzieren. Außerdem seien sie in dieser Altersphase einer größeren Belastung ausgesetzt als Gymnasiasten.75 Diese sieht Fend in der „komfortabelsten Lage“ einen guten Schulabschluss zu erlangen, was sich über 90 % aller Schüler wünschten.76 Es ist anzumerken, dass bei Gymnasiasten die Leistungen in der Regel höher sind, die Erwartungen werden aber ebenfalls höher gesteckt, was ebenso zu Unzufriedenheit und Problemen führen kann. Besonders bei Schülern der Sekundarstufe I können sich erhebliche Probleme einstellen, wenn sie dem Leistungsdruck und den Anforderungen nicht gewachsen sind und tatsächlich besser in einem anderen Schultyp zurecht kommen würden.

Es scheint, als ob auch Robert Steinhäuser sich in der beschriebenen Situation befand: Nach der schrecklichen Tat erkennen seine Eltern: „Vielleicht war er auf dem Gymnasium all die Jahre überfordert und deswegen kreuzunglücklich“77. Die Einsicht kommt zu spät.

[...]


1 Der Spiegel. Nr. 19 / 6.5.2002. S. 142. (zitiert als Spiegel Nr. 19)

2 Ebd. S. 134.

3 Vgl. ebd.

4 Ebd. S. 36.

5 Eine weitere Anmerkung: In dem Fall, dass mehrere Zitate aus einem Textstück von wenigen aufeinanderfolgenden Seiten entnommen wurden, sind diese nicht einzeln mit Fußnoten versehen. Zu Beginn eines Abschnittes steht dann: „Vgl. zu den folgenden Aussagen S. x-y.“. Die folgenden Zitate sind auf den letztgenannten Seiten zu finden.

6 Brockhaus Enzyklopädie Band 2. 19. Aufl. Mannheim 1986. S. 633. (zitiert als Brockhaus 1986)

7 Ebd. S. 124.

8 Fend, Helmut: Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne. Band II: Identitätsentwicklung in der Adoleszenz. Bern 1991. S. VII. (zitiert als Fend 1991)

9 Goffman, Erving: Stigma. Frankfurt a. M. 1967. S. 9 f.

10 Vgl. ebd. S. 10.

11 Ebd.

12 Ebd. S. 13.

13 Vgl. zu den folgenden Aussagen ebd. S. 72 ff.

14 Ebd. S. 132.

15 Ebd.

16 Ebd. S. 133.

17 Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M. 1973. S. 18. (zitiert als Erikson 1973)

18 Der Brockhaus Psychologie. Fühlen, Denken und Verhalten verstehen. Leipzig / Mannheim 2001. S. 540. (zitiert als Brockhaus 2001)

19 Ebd. S. 539.

20 Brockhaus 2001. S. 17.

21 Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse Einführende Darstellungen. 8. Aufl. Frankfurt a. M. 2001. S. 45. (zitiert als Freud 2001)

22 Felson, R.B.: Age and the effect of third parties during criminal violence 1984 (zitiert nach: Nolting, Hans-Peter: Lernfall Aggression Wie sie entsteht – wie sie zu vermindern ist. Reinbeck bei Hamburg 1997. S. 24).

23 Selg, Herbert: Psychologie der Aggressivität. Göttingen 1988. S. 20. (zitiert als Selg 1988)

24 Ebd. S. 23.

25 Nolting, Hans-Peter: Lernfall Aggression. Wie sie entsteht – wie sie zu vermindern ist. Reinbeck bei Hamburg 1997. S. 31. (zitiert als Nolting 1997)

26 Selg 1988. S. 18.

27 Brockhaus 1986. S. 368.

28 Nolting 1997. S. 25.

29 Vgl. ebd. S. 26.

30 Erikson, Erik H.: Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel. Berlin 1981 (zitiert nach Miller, Patricia: Theorien der Entwicklungspsychologie. Heidelberg 1993. S. 158).

31 Nolting 1997. S. 26.

32 Ebd. S. 63.

33 Miller, Patricia: Theorien der Entwicklungspsychologie. Heidelberg 1993. S. 159. (zitiert als Miller 1993)

34 Vgl. Erikson 1973. S. 63.

35 Ebd. S. 70.

36 Vgl. ebd. S. 79.

37 Vgl. ebd. S. 76 f.

38 Miller 1993. S. 160.

39 Erikson 1973. S. 79.

40 Ebd. S. 78.

41 Vgl. zu den folgenden Aussagen ebd. S. 87-90.

42 Miller 1993. S. 161.

43 Vgl. zu den folgenden Aussagen Erikson 1973. S. 98-104.

44 Vgl. zu den folgenden Aussagen ebd. S. 106-110.

45 Vgl. zu den folgenden Aussagen ebd. S. 115.

46 Vgl. zu den folgenden Aussagen ebd. S. 117-119.

47 Martin, Lothar R.: Gewalt in Schule und Erziehung. Grundformen der Prävention und Intervention. Bad Heilbrunn / Obb. 1999. S. 76. (zitiert als Martin 1999)

48 Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1980. S. 202. (zitiert als Mead 1980)

49 Ebd. S. 207.

50 Ebd. S. 206.

51 Ebd.

52 Ebd. S. 180.

53 Ebd. S. 208.

54 Ebd. S. 209.

55 Vgl. ebd. S. 177.

56 Ebd. S. 191.

57 Im Original nach Mead: „I“ und „Me“, wobei das Me das sich selbst als Objekt erfahrende Ich meint, s. S. 216.

58 Ebd. S. 217.

59 Ebd. S. 220.

60 Ebd. S. 221.

61 Ebd. S. 254.

62 Krappmann, Lothar: Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart 1971. S. 133.

63 Vgl. ebd.

64 Ebd. S. 145.

65 Vgl. Martin 1999. S. 77.

66 Ebd. S. 78.

67 Rogers, Carl R.: Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart 1973. S. 49. (zitiert als Rogers 1973)

68 Vgl. ebd. S. 51.

69 Ebd. S. 55.

70 Rogers, Carl R.: Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. Frankfurt a. M. 1992. S. 140.

71 Ebd. S. 142.

72 Ebd. S. 140.

73 Fend 1991. S. 24.

74 Ebd. S. 65.

75 Vgl. ebd. S. 53.

76 Vgl. ebd. S. 55.

77 Spiegel Nr. 19. S. 122.

Ende der Leseprobe aus 100 Seiten

Details

Titel
Aggression als mögliche Ausdrucksform einer gestörten Identitätsenwicklung bei Jugendlichen
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Institut für Erziehungswissenschaften)
Note
2,1
Autor
Jahr
2002
Seiten
100
Katalognummer
V14514
ISBN (eBook)
9783638198929
Dateigröße
859 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Aggression, Ausdrucksform, Identitätsenwicklung, Jugendlichen
Arbeit zitieren
Verena Ick (Autor:in), 2002, Aggression als mögliche Ausdrucksform einer gestörten Identitätsenwicklung bei Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14514

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