Casemanagement in der Behindertenarbeit

Ein Überblick


Diplomarbeit, 2008

111 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Versuch einer Bergriffsklärung
2.1 Case Management als neuer Wein in alten Schläuchen?
2.2 Case Management und die Beziehungsfrage
2.3 Ursprung von Case Management
2.4 Verschiedene Modelle
2.5. Weiterentwicklung in den 1980ern und 1990ern
2.6. Die sechs Faktoren für die Entwicklung von Case Management
2.7. Programmatische Grundgedanken Case Managements
2.8 Funktionen der Case Managerinnen

3. Behinderung
3.1 Definition
3.2 Definition nach dem SGB IX
3.3 Neuer Begriff der Behinderung

4. Das Empowermentmodell
4.1 Menschenbild und Wertebasis
4.2 Grundsatz der Selbstbestimmung
4.3 Grundsatz der kollaborativen und demokratischen Partizipation
4.4 Verteilungsgerechtigkeit
4.5 Konsequenzen für das professionelle Handeln
4.6 Die neue Helferkultur im Empowerment
4.7 Handlungsebenen

5. Case Management in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung
5.1 Vom Förderplan zur individuellen Hilfeplanung
5.2 Individuelle Hilfeplanung als Case Management ?
5.3 Individuelle Hilfeplanung als Ansatzpunkt für Case Management
5.4 Aushandeln statt verordnen
5.5 Aufbruch mit Methode

6 Case Management in der Praxis am Beispiel der Assistenzplanung der Ev. Stiftung Alsterdorf
6.1 Grundlagen des Konzeptes
6.2 Inhalte der Assistenzplanung
6.3 Funktion der Beraterinnen
6.4 Phase der Assistenzplanung
6.5 Zur Umsetzung der Planung und zu den organisatorischen Rahmenbedingungen

7.Fallmanagement in der Eingliederungshilfe in den schleswig-holsteinischen Kreisen
7.1 Ausgearbeitete Begriffsdefinitionen
7.2 Standards/Merkmalen der vier Phasen des Fallmanagements
7.2.1 Erstberatung
7.2.2 Assessment
7.2.3 Hilfeplanung
7.1.4 Prozesssteuerung

8.Vorschlag zur Gestaltung eines Case Management-Prozesses
8.1 Angebot und Fallaufnahme, Kennenlernphase
8.1.1 Ziele und Aufgaben des Erstgespräches
8.2 Assessment (Einschätzungsphase)
8.3 Hilfebedarf und Entwurf der Unterstützungsleistungen (Planungsphase)
8.3.1 Grundsatzziele
8.3.2 Rahmenziele
8.3.3 Handlungsziele
8.3.4 Hilfebedarf und Hilfen entwickeln
8.4 Hilfeplanung
8.4.1 Hilfeplan vereinbaren
8.5 Controlling
8.7 Evaluation

9. lnstrumente
9.1 Vorläufige Diagnose auf Basis vorhandener Daten
9.2 Visuelle Einschätzung (Sichtdiagnose)
9.3 Eco-Map
9.4 Netzwerkkarte
9.5 Inklusions-Chart
9.6 T.A.Z.E (Tabellen für Assessment Zielfindung Evaluation)
9.7 T.A.Z.E Teil 2 Evaluations-Tabelle

10. Ausblick

11.Verzeichnis der Grafiken und Tabellen Tabellen

12.Literaturverzeichnis:

13 Danksagung:

14.Anhang

1. Einleitung

Case Management in der sozialen Arbeit ist hierzulande nichts neues mehr. Seit geraumer Zeit wird diese Methode erforscht und in die Praxis umgesetzt, doch fehlt es an einheitlichen Standards, selbst über die Begrifflichkeiten herrscht Uneinigkeit. In der Arbeit mit Menschen mit Behinderung gibt es bisher nur wenig Erfahrungen. Dementsprechend wenig Literatur gibt es zu diesem Thema. Diese Diplomarbeit stellt den versuch dar den LeserInnen einen informativen Überblick zum Stand der Dinge zu verschaffen, stellt verschiedene Beispiele aus der Praxis und Instrumente zur Fallbearbeitung vor.

Als erstes erörtere ich den Case Management - Begriff, die historischen und theoretischen Hintergründen und die Rollen der Akteure. Anschließend behandle ich den Begriff der Behinderung. Um den hohen Ansprüchen, die Arbeit mit behinderten Menschen, an die Handelnden stellt, gerecht zu werden ist es unabdingbar den Empowerment - Gedanken zu verinnerlichen und in die tägliche Arbeit zu integrieren. Dieser Umstand hat mich dazu bewegt dieses Thema ausführlich zu beschreiben Im dann folgenden Kapitel beschreibe ich den Einzug von Case Management in die Behindertenhilfe, um Anschließend ein praktisches Beispiel anhand der „Assistenzplanung der Ev. Stiftung Alsterdorf" zu geben. Dann fasse ich die Ergebnisse eines Workshops der schleswig-hosteinischen Kreise mit dem Thema „Fallmanagement in der Eingliederungshilfe" zusammen. Im nächsten Abschnitt beschreibe ich den Ablauf eines Case Managements und statte das theoretische Grundgerüst, teilweise mit zum Teil von mir modifizierten, Instrumenten aus. Diese beschreibe ich im abschließenden Kapitel.

2. Versuch einer Bergriffsklärung

Case Management ist ein langfristiges und zielgerichtetes Hilfesystem. Eingesetzt wird es in Sozial- und Gesundheitsdiensten zur Koordination einer Vielzahl an Hilfs- und Behandlungsangeboten sowie Versorgungsleistungen. CasemanagerInnen haben die Aufgabe, ein Konzept zur Lösung bzw.

Minderung komplexer sozialer Problemlagen zu entwickeln. Dazu ist eine Miteinbeziehung aller am Hilfeprozess beteiligten Personen und Institutionen unter Berücksichtigung der jeweils vorhandenen Ressourcen nötig. Die Verfahrensweise entspringt der methodischen Einzelfallhilfe (case work) in der sozialen Arbeit (vgl. Wendt: 2001 S.14).

Menschen mit punktuellen Problemen ist mit einer kurzfristigen Hilfe wie z. B. einem Beratungsgespräch oder einer materiellen Unterstützung geholfen. Doch sind die Problemlagen von Hilfesuchenden meist umfangreicher und machen somit ein professionelles Unterstützungs- und Versorgungsmanagement nötig (ebenda). Daraus entstand die Idee des Case Managements.

Case Management steht in Beziehung zur individuellen Lebensführung der NutzerInnen. Es fördert den planmäßigen und strategischen Einsatz bzw. die Erschließung von Ressourcen und ermöglicht somit ein Selbstmanagement (Life Management). Der NutzerIn soll es ermöglicht werden, eine sowohl subjektive als auch objektive Zufriedenheit mit der aktuellen Lebenssituation zu erreichen und zu erhalten. Idealerweise ist sie dann nicht mehr, oder nur in geringem Maße, auf die Hilfe von sozialen Unterstützungsmaßnamen angewiesen. Neuffer meinte hierzu: „Case Management gewährleistet durch eine durchgängige fallverantwortliche Beziehungs- und Koordinierungsarbeit Klärungshilfe, Beratung und den Zugang zu notwendigen Dienstleistungen."(Neuffer: 2002 S. 19) „Case Management ist ein Konzept zur Unterstützung von Einzelnen, Familien, Kleingruppen." (Neuffer: 2002 S 19)

Des weiteren ermöglicht Case Management anhand der klaren Strukturen, nachvollziehbare Qualitätsnachweise. (vgl. Wendt: 1991 S.13)

2.1 Case Management als neuer Wein in alten Schläuchen?

Doch was ist eigentlich das neue am Case Management? War nicht bereits seit Alice Salomon Lebensweltorientierung und Aktivierung der KlientInnen und deren Umfeld ein wesentlicher Bestandteil der sozialen Arbeit? „Vernetzte Hilfe, Dokumentation, Fallkonferenzen, all das gab es doch schon."(Klug: 2003 S.56) Die Neuerungen sind daher nicht etwa im Ablaufschema zu suchen, sondern vielmehr in den Hintergründen des US-amerikanischen Ansatzes und dessen Übertragbarkeit auf Deutschland. Neuffer bemerkte hierzu folgendes: "Das Rollenverständnis eines Sozial­arbeiters [...] orientiert sich in erster Linie an dem helfenden Geschehen, der direkten Arbeit mit dem Klienten, stadtteilorientiertes Arbeiten mit ein­geschlossen. Sozialarbeiter werden sich daher Case Management nur zuwenden, wenn das Konzept für ihr Arbeitsverständnis und für die Klienten Vorteile bringt." (Neuffer 1993, S15 zit. n. Klug 2003 S.56) Klug hält dies für eine „fundamentale Fehleinschätzung" weil diese eine gewisse Wahlfreiheit implementiert: „Gerade das US-amerikanische Beispiel zeige jedoch was passiert wenn sich soziale Arbeit den Anliegen des Case Management verweigert: Es wird ihr verordnet und zwar in einer Weise, die eine Einführung erst recht problematisch erscheinen läst. Effizienz der sozialen Arbeit, Kundenorientierung, nachvollziehbare und geplante Hilfen sind schon seit längerem nichts mehr, dem sich der Sozialarbeiter zuwenden kann oder auch nicht". (ebenda) Lange Zeit hat man sich den Anliegen des Konzepts verweigert mit dem Argument, es bringe keine Vorteile. Mit der Ökonomisierungswelle wurde dieser Argumentationsstrang hinfällig. Vielmehr geht es darum, sowohl den sozialarbeiterischen als auch den ökonomischen Ansprüchen des Konzepts gerecht zu werden. Wenn Case Management nicht die Weiterführung alter Konzepte mit anderen Mitteln sein soll, muss auf Seiten der Professionellen ein Umdenken stattfinden. Durch seine klaren Prozessstrukturen sind die einzelnen Sozialarbeiter gezwungen ihre Arbeitsweise offen darzulegen. Ansonsten ist es nicht möglich, die im Case Management implizierten Qualitätsstandards verbindlich zuzusagen, geschweige denn zu erfüllen. (Klug: 2003, S.56 ff)

Dieser Umstand kann zu einem Interessenkonflikt führen, wird Case Management als einseitiges Werkzeug zur Systemeffizienz gesehen, laufen SozialarbeiterInnen Gefahr, sich in ihrer Berufsethik[1] verletzt zu sehen. Doch sieht soziale Arbeit nicht schon immer diesem „doppelten Mandat" (ebenda) ausgesetzt, hat sie nicht seit Gründertagen den Spagat zwischen Hilfe und Kontrolle auszuführen? So gesehen ist dieser Konflikt nichts Neues. Soziale Arbeit wird es im Zusammenhang mit Case Management mit einer doppelten Loyalität zu tun haben, einerseits muss sie sich loyal gegenüber den KlientInnen, deren Wünschen und Ansprüchen, verhalten, andererseits loyal gegenüber den Zielen des Hilfesystems sein. Wird dies nicht gelingen, wird sich eine Berufsgruppe abspalten die ausschließlich für die Ziele des Gesundheits- und Sozialsystems arbeitet. Diese kann man dann Anhand ihrer Budgethoheit als „money-manager" bezeichnen.

Klug meint hierzu, dass die Probleme mit der doppelten Loyalität in dem Maße geringer werden, in dem es gelingt die Standards im System effizienter und effektiver zu gestalten, so müsse man sich diese auch nicht von Ökonomen vorschreiben lassen. Dies gelinge aber nur in einer Kombination von fallbezogenem Case Management und systembezogenen Aktivitäten. Es müsse neben der Koordination der Dienste ein kontinuierlicher Qualitätssicherungsprozess ablaufen. Innerhalb der im Hilfeprozess beteiligten muss mit „offenen Karten" (vgl. Neuffer 93, S.15) gespielt werden. „Wer all das nicht will, dem ist Case Management nicht zu empfehlen. Nur um traditionellen Modellen bei gleichzeitigem Fehlen der Überprüfbarkeit einen neuen Namen zu geben, dafür taugt Case Management nicht." (vgl. Klug: 2003 S.56 ff)

2.2 Case Management und die Beziehungsfrage

In der Frage, welche Stellenwert die oben genannte Beziehung zwischen Case ManagerIn und KlientIn hat, gehen die Meinungen zum Teil auseinander. Wendt meint hierzu, dass Case Management „nicht länger vorrangig die persönliche Art und Weise des Handelns - beispielsweise die Gesprächsführung - eines Professionellen, sondern primär die Vorgehens­weise zur Bewerkstelligung der Unterstützung insgesamt" darstellt. Oder: „Das Proprium Sozialer Arbeit enthält nicht den persönlich hingebungsvollen Dienst [...](Wendt 1992: S.116 zit. n. Remmel-Faßbender: 2003, S.67 ff) Dies erweckte den Eindruck, der interaktionelle Aspekt sei im Konzept und in der Literatur zu kurz gefasst. Raiff und Shore (1997), Löcherbach (1996), und Wendt (1999) relativierten diesen Eindruck. Sie vertraten die Meinung, dass soziale Arbeit keine reine Käufer-Kunden-Beziehung sei. Dies stehe jedoch nicht dazu im Wiederspruch, Hilfsangebote im Interesse aller rational zu gestalten. Des weiteren wurde angeführt, dass im fallbezogenen individuellen Case Management die Annahmen von Hilfen nicht unabhängig von der SozialarbeiterIn-KlientIn-Beziehung sei. Löcherbach (1996) legt hierbei besonderen Wert auf die Phase der Kontaktaufnahme. „Durchgehende Fallverantwortung erfordert Beziehungsarbeit, um das Vertrauen der Klienten zu erreichen, so dass sie vom Beginn bis zum Ende einer Hilfestellung emotional und inhaltlich den Hilfeprozeß reflektieren, Eigenkräfte entwickeln (Empowerment) und verantwortliche Ansprechperson ohne Hemmschwelle konsultieren können" (Neuffer: 1998, S.18 zit. n. ebenda)

Der Erfolg eines Hilfeprozesses ist unmittelbar an die Mitarbeit der KlientInnen gekoppelt. Dieser Umstand erfordert in jedem Fall eine dynamische HelferIn-KlientIn-Beziehung, obwohl diese noch nie Ziel der Sozialen Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland war.(vgl. ebenda)

Der technokratisch anmutende Begriff Case Management klingt tatsächlich so, als sei damit nicht personenbezogene Hilfe gemeint. Der Duden (2001) beschreibt „managen" umgangssprachlich als „leiten, unternehmen, zustande bringen, bewerkstelligt organisieren", was ohne Frage auch auf das Handeln im Rahmen des Case Management zutrifft. Hilfemaßnamen werden gemeinsam mit den KlientInnen zustande gebracht, bewerkstelligt und von Case ManagerInnen geleitet und organisiert. (vgl.l Remmel-Faßbender: 2003, S.67 ff)

2.3 Ursprung von Case Management

Ab den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entlies man in den USA, aber auch in anderen Ländern chronisch kranke, geistig behinderte und pflegebedürftige Menschen in großer Zahl aus stationären Einrichtungen. Man erkannte, dass das Festhalten dieser Menschen in Heimen und Anstalten nicht nur teuer und kontraproduktiv war, es lies sich auch nicht mit den Bürgerrechten vereinbaren.

Diese sogenannte „Deinstutionalisierung" erforderte nun die Schaffung eines ambulanten Betreuungssystems. Der neu entstandene Bedarf wurde 1975 in den USA im „Development Dissabillties" geregelt. Case Management bekam die Aufgabe, deinstitutionalisierten Menschen Teilhabe in ihrem neuen Umfeld, in einer entsprechend strukturierten gemeindenahen Versorgung (comunity carej zu gewährleisten.

Erstmals erhielt Case Management 1977 beim Community Support Program eine tragende Rolle, welches vom National Institut of Mental Health initiiert wurde. Das Programm war für psychisch kranke Menschen angelegt und sollte diesen den Zugang zu unterstützenden Diensten in den jeweiligen Gemeinwesen in koordinierter Weise nach individuellem Bedarf ermöglichen. Es war vorgesehen, dass die UnterstützerInnen, ob einzeln oder im Team, Kontakt zur Klientel halten, egal welche oder wie viele verschiedene Dienste sie in Anspruch nimmt (vgl. Turner/TenHoor: 1978 S.313 ff zit. n. Wendt: 1991 S.13 ff). „This can provide the glue thats binds otherwise fragmented services into arrangements that respond to the unique and changing needs of clients." (Turner/Shifren: 1979 S.9zit. n. Wendt: 1991 S.13 ff)

2.4 Verschiedene Modelle

Bald entwickelten sich unterschiedliche Modelle der neuen Methode:

Das Broker Model vermittelt der KlientIn die von ihr benötigten Dienste.

Das Rehabilitationsmodel vermittelt Menschen, die in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt sind, rehabilitive Maßnamen.

Das Program for Assertive Community Training (PACT) übt mit der NutzerIn ein selbständiges Leben ein.

Das Strenth Model zieht auf eine Erhaltung und Stärkung individueller Ressourcen ab.

Die oben beschriebenen Modelle zeigen trotz erweiterter Arbeitsmöglichkeiten ähnliche Schwächen und Nachteile wie der bereits erwähnte Case-Work-Ansatz auf. Ihre Sichtweise geht nicht weit genug, ist zu eingeengt. Sie konzentrieren sich auf eine vereinfachte Erfassung individueller Problemlagen und suggerieren damit auch eine einseitige Problemlösungsstrategie. Ein verbesserter Einsatz dieser Modelle kann gelingen, wenn die vorgeschlagenen Werkzeuge in Kombination genutzt, d.h. einer komplexen, grenzeüberschreitenden Lebenssituation angepasst werden.

2.5. Weiterentwicklung in den 1980ern und 1990ern

In Großbritannien wurde in den 1980ern community care als gemeindegestütztes Versorgungssystem mit dem Instrument des Case Management eingeführt. Das Gesundheitssystem wurde nach betriebs­wirtschaftlichen Maßstäben umgebaut. Man forderte eine effektive und effiziente Arbeitsweise, welche die hohen Kosten im Gesundheitswesen rechtfertigte. Die britische Regierung beauftragte 1983 eine Kommission unter Roy Griffiths. Diese stellte Mängel bei der Verteilung von Funktionen,

Kompetenzen und Verantwortlichkeiten im Versorgungssystem fest. Es wurde die Einführung eines Case Managements in den kommunalen Sozialbehörden vorgeschlagen (vgl. Wendt: 2001 S.16 ).

1988 definierte die britische Regierung comunity care als „lokale Bereitstellung der Dienste und der Unterstützung, welche Menschen mit Problemen des Alters, einer psychischen Erkrankung, mit geistiger oder körperlicher Behinderung oder einer Sinnesbehinderung benötigen, um fähig zu sein, weitestgehend unabhängig in ihrer Wohnung oder in vergleichbaren Wohnformen am Ort leben zu können. Es gelte, dafür das richtige Maß an Interventionen und Unterstützung zu finden, welches die Menschen befähigt, ein Maximum an Unabhängigkeit und Kontrolle über ihr Leben zu erreichen oder zu bewahren (ebenda S. 9).

Daraufhin wurde 1990 der Health Service and Community Care Act verabschiedet und den lokalen Sozial- und Gesundheitsämtern die Ver­antwortung für Bedarfsprüfung und Hilfeplanung für Versorgungsbedürftige übertragen. Die amtlichen Care Manager[2] sind in der Regel Sozial­arbeiterInnen, dienen als AnsprechpartnerInnen und koordinieren die benötigten Hilfen individuell nach Bedarf.

Der Begriff Care Management wurde dem des Case Managements vorgezogen, weil der Prozess der Versorgung und nicht die einzelne Person als „Fall" zu managen sei (Department of Health 1991 a: 12 zit. n. ebenda). In Großbritannien entstand ein freier Markt für soziale Dienstleistungen, auf welchem die BürgerInnen nach entsprechendem amtlichen Zuspruch und Absprache mit SozialarbeiterInnen frei wählen können. Diese Praxis erhielt teilweise Einzug in die bundesrepublikanische Pflegeversicherung von 1994. Die Situation in der Bundesrepublik ähnelt in vielerlei Hinsicht der in den USA und Großbritannien, zunehmend wird stationäre Unterbringung reduziert. Doch geschieht dies zumeist nicht unter dem Banner der Reformfreude oder gar fachlichem Ehrgeiz, vielmehr verspricht man sich von Ambulantisierungsmaßnamen Kostenersparnis. Außerdem soll es den NutzerInnen ermöglicht werden, langfristig die in Anspruch genommenen Hilfen zu reduzieren oder gar vollständig überflüssig zu machen. Sie sollen sich also ohne nennenswerte Unterstützung in ihrem Umfeld selbstverantwortlich zurechtzufinden, ihr Leben eigenständig organisieren. Sozialarbeit soll diesen Weg initiieren und begleiten (vgl. Kleve 2004).

2.6. Die sechs Faktoren für die Entwicklung von Case Management

Moxley diagnostizierte sechs Faktoren, die in den 70er und 80er des vergangenen Jahrhunderts ausschlaggebend für die Entwicklung des modernen Case Management waren:

„Enthospitalisierung („deinstitutionalization"): Statt Hilfe in großen Einrichtungen wie z.B. Krankenhäusern oder Heimen, wird der Service in gemeindenahen Diensten angeboten. Dadurch können KlientInnen unabhängiger leben, gleichzeitig entsteht bei ihnen aber das Problem, in ihrem Umfeld diese Dienste akquirieren zu müssen."

„Dezentralisierung der Dienste: Es entstehen viele lokale Anbieter statt großer zentraler Dienste. Dies ist eine Folge der staatlich gewollten Privatisierung! Moxley beschreibt die Konsequenzen drastisch: „From the perspect of many clients and their families, accessing and using community service can be as difficult as entangling a Gordian knot." (Moxley 1989, S13 zit. n. Klug: 2003 S.37. ff.)

„KlientInnen mit sehr komplexen Problemlagen: Insbesondere KlientInnen mit vielschichtigen Problemlagen ( z.B. Verschuldung, Wohnungsprobleme, Sucht, Arbeitslosigkeit) fällt es schwer, die hoch­spezialisierten Dienste überhaupt zu koordinieren, um die vorhandenen Ressourcen überhaupt in der richtigen Weise nutzen zu können."

„Zugangslogik der sozialen Dienste: Unbemerkt von den sozialen Diensten erleben die KlientInnen häufig Zwänge, die sich aus der Zugangslogik der Dienstleister ergeben: Von KlientInnen wird bereits vorab verlangt, über eine ausreichende Problemdefinition zu verfügen, um die richtigen Dienste zu finden. Diese sind nur für speziell definierte Probleme „zuständig". In der Praxis sind es häufig genau diese Zugangsschwellen, die KlientInnen hindern, den richtigen Dienst zum richtigen Zeitpunkt zu finden".

„Fehlende soziale Netzwerke: Vereinzelung, fehlende oder brüchige soziale Unterstützung sind Kennzeichen vieler KlientInnen , denen das „Lebensmanagement" nicht gelingt. Sie werden zu Klienten, ohne in die Logik eines Spezialdienstes zu „passen".[3]

„Kostenexplosion bei den sozialen Diensten: Während viele der oben genannten Gründe an der Effektivität sozialer Dienste zweifeln ließen, ist es besonders auch die Kostenexplosion (z. B. im Gesundheits­wesen), die zu Gegenmaßnahmen zwingt". (vgl. Klug: 2003 S.37. ff.)

2.7. Programmatische Grundgedanken Case Managements

Case Management beruht auf bestimmten programmatischen Grundlagen, um die an den Prozess gestellten Erwartungen zu erfüllen.

Die Gesetzgeber wollten zum einen Kosten einsparen und zum anderen die Wirksamkeit der angebotenen Dienste erhöhen. Effektivität und Effizienz standen im Fordergrund, die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Aufwand und messbarem Ergebnis eines Dienstes. Dadurch fällt der Case ManagerIn die Rolle eines „gatekeepers" zu. Es soll unter Berücksichtigung der Bedürftigkeit und der Erfolgschancen festgestellt werden, welcher Dienst zu welchem Klientel passt. Dadurch wurde eine umfassende Qualitätssicherung nötig. Es genügte nicht, nur die eigenen Prozesse zu kontrollieren. Vielmehr erschien es auch nötig, die Qualität der von der Case ManagerIn vermittelten Dienste zu prüfen. Geron und Ghassler (1994. S.95) machten Qualität beim Case Management an folgenden Kriterien fest:

- Zugänglichkeit der Dienste
- Zeitrahmen, innerhalb dessen die Dienste bereitgestellt werden
- Verlässlichkeit der Leistungserbringung
- Menschlichkeit des Leistungserbringers
- Zweckmäßigkeit der Leistung

Positive Ergebnisse der bereitgestellten Leistung (vgl.Geron und Ghassler 1994. S.95 zit. n. Klug: 2003 S.40. ff.)

2.8 Funktionen der Case Managerinnen

Case Management gilt als prozessorientierte Hilfeleistung für Menschen, die aufgrund einer mehrfachen Problembelastung ihr Leben nicht in einem befriedigendem Maße bewältigen können und daher auf die Hilfe verschiedenster Dienste angewiesen sind. Es agiert in einem Spannungsfeld, in dem die Interessen der KlientInnen, der Dienstleistungsanbieter (im weitesten Sinne) und der Kostenträger aufeinandertreffen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Grafik 1 Spannungsfeld vgl. IfeS 2002 S.21)

Die Case ManagerInnen übernehmen die Funktion eins Systemagenten, verwalten, überblicken und kontrollieren ein Netzwerk aus formellen und informellen Unterstützungsmöglichkeiten und Aktivitäten.

Die Hilfeleistung geschieht auf zwei Ebenen. Zum einen geht es darum, Netzwerk-Ressourcen zu erschließen oder bereits vorhandene zu verbessern. Zum anderen sollen die KlientInnen befähigt werden, diese zu nutzen (vgl. Wendt: 1991 S.56). Um dies zu erreichen, erfüllt der Case Manager drei Funktionen:

Koordinator:

In dieser Funktion schätzten die Case ManagerInnen den individuellen Hilfebedarf der NutzerInnen ein. Sie erarbeiten einen Hilfeplan und stellt den Kontakt zu den notwendigen Hilfsangeboten her. Sie fungieren als Bindeglied zwischen den einzelnen HelferInnen sowie zwischen den HelferInnen und den KlientInnen.

Anwalt:

Fehlt den NutzerInnen der Zugang zu gewissen benötigten Ressourcen oder wird ihnen gar der Zugang verweigert, wirken Case ManagerInnen als anwaltliche Führsprecher mit dem Ziel, die nötige Hilfe zu erreichen. Sind KlientInnen von gesellschaftlichen Ansprüchen überfordert, so versuchen die Case ManagerInnen die Forderung den Fähigkeiten der Hilfesuchenden anzupassen oder befähigt die NutzerInnen den Anforderungen besser gerecht zu werden.

Berater:

Als Beraterin fällt den Case ManagerInnen die Aufgabe zu, den NutzerInnen beizubringen, wie man sich Ressourcen-Netzwerke er­schließt und diese nutzt und erhält. Dazu ist es nötig, störendes Verhalten aufzuzeigen, zu reduzieren oder gar zu beseitigen. Um dies zu erreichen werden den NutzerInnen alternative Verhaltensmuster aufgezeigt und verständlich gemacht. (vgl. ebenda: S.58)

Dabei sind Case ManagerInnen bestrebt, die Fähigkeit zur Wahrnehmung sozialer Unterstützungs- und Dienstleitungen zu entwickeln und sowohl die Potentiale verschiedener Netzwerke und wichtiger sozialer Dienste zu fördern, als auch die Effektivität und Effizienz sozialer Dienstleistungserbringung zu steigern. Sie helfen den KlientInnen, das persönliche Unfeld (Familie, Freunde, usw.) zu aktivieren und das soziale Dienstleistungssystem zu nutzen. Des weiten helfen sie den von KlientInnen in Anspruch genommenen Dienstleistungserbringern, den Ansprüchen der KlientInnen gerecht zu werden. Die Case ManagerInnen nehmen eine das gesamte Unterstützungsumfeld umfassende Schlüsselposition ein und übernehmen dabei folgende Aufgaben:

Koordination von Zielen, Dienstleistungen und Informationen. Zwischen formellen und informellen Leistungsbereichen. Dies geschieht organisationsübergreifend und über die Fachbereichsgrenze von Diensten hinweg.

AnsprechpartnerInnen für KlientInnen und alle am Hilfeprozess beteiligten Personen und Institutionen. Sie geben ein Feedback und greift gegebenenfalls korrigierend ein.

- Sie liefert relevante Informationen an alle am Hilfeprozess beteiligten Personen und Institutionen.
- Sie verschafft den KlientInnen Zugang zu den Hilfesystemen.
- Sie kontrolliert die Qualität.
- Sie vermeidet sich überschneidende Unterstützungsangebote. (Brader, Faßmann, Wübbeke. 2002, S. 22ff)

3. Behinderung

„Behinderung" ist ein relativ junger Terminus, zunächst wurde er als juristischer Begriff verwendet. Die Anwendung in seiner heutigen Bedeutung wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Usus. Noch im Jahre 1906 wurde eine Körperbehindertenzählung als Krüppelzählung bezeichnet. Den Ausschlag für die Begriffsänderung gaben die Folgen des 1. Weltkrieges (1914 - 1918), die Bezeichnung Krüppel für Kriegsgeschädigte wurde als diskriminierend empfunden. Außerdem deckte der Krüppel-Begriff nicht die Verschiedenartigkeit der im Feld erlittenen Schädigungen ab. (vgl. Hensle/Vernooij : 2002 S.8).

Von da an beginnt der Behinderungs-Begriff sich zu etablieren. Das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 spricht in § 6 bereits von „Schulpflicht für geistig und körperlich behinderte Kinder".[4] Im Körperbehindertengesetz von 1957 wurde die Bezeichnung Krüppel konsequent durch Körperbehinderte ersetzt. Mit der Zeit setzte sich der Begriff auch für die anderen Behinderungsarten durch (ebenda S.9).

3.1 Definition

„Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in ihrem Lernen, in ihrem sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in der psychomotorischen Fähigkeit soweit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. Deshalb bedürfen sie besonderer Förderung" ( Deutscher Bildungsrat: 1973 S.32;).

„Behinderungen können ihren Ausgang nehmen von Beeinträchtigung des Sehens, des Hörens, der Sprache, der Stütz- und Bewegungsfunktionen, der Intelligenz, der Emotionalität, des äußeren Erscheinungsbildes sowie von be­stimmten chronischen Krankheiten; häufig treten auch Mehrfach­behinderungen auf" (ebenda).

Bei der quasi-offiziellen Definition des Deutschen Bildungsrats ist festzuhalten, dass zwar die Aufzählung der einzelnen Behinderungsbereiche darin beinhaltet ist, sie jedoch einem finalen Kriterium untergeordnet wird: Behinderung ist nicht durch die bloße Funktionsbeeinträchtigung bereits eine Behinderung, sondern erst durch die Erschwerung der gesellschaftlichen Partizipation, die diese mit sich bringt. Merkmale des Behinderten und Merk­male seiner Gesellschaft bewirken also erst gemeinsam das Phänomen der Behinderung (vgl. Bärsch: 1973 a, S.7 zit. n. Hensle / Vernooij 2002 S 9.ff).

Aus den oben genannten Definitionen geht hervor, dass Behinderung als das Zusammenwirken der Beeinträchtigung von körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionen und den daraus resultierenden Auswirkungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft zu sehen ist . (vgl. Hensle / Vernooij : 2002 S. 11).

3.2 Definition nach dem SGB IX

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX gelten Menschen als behindert, wenn zwei Faktoren zusammentreffen: Ihre körperlichen bzw. geistigen Funktionen oder ihre seelische Gesundheit muss mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Alter typischen Zustand abweichen, als Folge dessen muss die Teilhabe der Betroffenen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sein. Menschen sind von Behinderung bedroht, sobald eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Das Gesetz unterscheidet:

Körperliche Behinderungen

Motorische Behinderung: Einschränkungen der Funktionen des Bewegungsapparates.

Organische Behinderung: Einschränkung oder Ausfall der Funktionen eines Körperorgans, z.B. Blindheit, Schwerhörigkeit.

Geistige Behinderungen: Liegt vor, wenn bei körperlicher Unversehrtheit eine Fehlfunktion des Geistes diagnostiziert wird, wobei die Intensität sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Man unterscheidet zwischen:

„hochgradigem Schwachsinn (Idiotie)" (Wagner / Kaiser: 2004 S. 2)

„mittelgradigem Schwachsinn (Imbezillität)"(ebenda)

„leichtem Schwachsinn (Debilität)" (ebenda)

Seelische Behinderungen, sind eng mit psychischen Behinderungen verwandt. „Seelisch behinderte Menschen sind, die an Traumen, Wahnvorstellungen leiden, die zwar kaum körperlich festgestellt werden können, aber doch als Behinderung anerkannt werden. Bei seelisch behinderten Menschen ist infolge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in erheblichem Umfang beeinträchtigt ist."(Metzler / Wacker zit. n. Wagner / Kaiser: 2004 S.2) Gemeint sind:

- körperlich unbegründbare Psychosen,
- seelische Störungen in Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns oder Anfallsleiden,
- Suchtkrankheiten,
- Neurosen,
- Persönlichkeitsstörungen,
- Legasthenie,
- Autismus sowie
- Mager- und Fettsucht.

Abgesehen davon können Behinderungen angeboren, krankheits­bedingt oder durch einen Unfall hervorgerufen sein. (vgl. Wagner/Kaiser: 2004 S.2ff)

3.3 Neuer Begriff der Behinderung

Mit der [zum Teil skandalösen (siehe Unterpunkt „geistige Behinderungen")] Definition des § 2 Abs. 1 SGB IX hat der Gesetzgeber den im Rahmen der WHO stattfindenden Diskurs um eine Weiterentwicklung der Internationalen Klassifikation (ICDH-1) zur „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Behinderung" ( ICIDH-2) aufgegriffen, die nicht mehr eine defizitäre Sichtweise enthielt, sondern die Teilhabe an verschiedenen Lebensbereichen (Partizipation) in den Mittelpunkt stellte. (vgl. BT-Drucks. 14/5074, S. 98 zu § 2. zit. nach ebenda)

1980 führte die WHO ein dreistufiges Konzept für den Umgang mit dem Behinderungsbegriff, welcher seither laufend weiterentwickelt wird, ein. Die vom englischen Arzt P. Wood geprägten Begriffe:

- Impairment (Schädigung)
- Disability (Fähigkeitsstörung)
- Handicap (Beeinträchtigung)

Die Anfangsbuchstaben dieser negativ belegten englischen Begriffe bilden zusammen mit IC (International Classification) die Bezeichnung für die gängige WHO-Definition ICIDH. Der WHO-Begriff wurde 1999 in seiner Beta-2-Fassung „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Be­hinderung,, genannt. Die Funktionsfähigkeit wird in der ICIDH-2 in drei Dimensionen unterteilt, welche sich überlappen können und als wertneutral anzusehen sind:

- Körperfunktionen und Körperstrukturen
- Aktivitäten
- Teilhabe an den Lebensbereichen

Diese Begriffe und Leitlinien ermöglichen eine objektive Überprüfung, ob und in welchem Maße Menschen beeinträchtigt sind. Der ICIDH-2 soll als Basis einer Annäherung der häufig noch recht unterschiedlichen Definitionen von Behinderung und Rehabilitation in den Gesetzgebungen der verschiedenen Staaten dienen. Uneinheitliche Definitionen stehen jeglicher Vergleichbarkeit wissenschaftlicher Untersuchungen im Wege. Das kann zur Folge haben, dass bei internationalen Studien beispielsweise die Zahlen der von Behinderung betroffenen stark zwischen den einzelnen Ländern variieren. Selbst der von vielen behinderten Menschen geforderte grenzüberschreitend anerkannte Behindertenausweis und somit die mit diesem Dokument zu erlangenden Vergünstigungen scheitern an den unterschiedlichen Auslegungen des Behindertenbegriffs - sogar innerhalb der Grenzen der Europäischen Union.

Im Mai 2001 wurde auf der WHO-Vollversammlung die Revisionstätigkeit am ICIDH-Dokument laut Beschluss beendet und in ICF (Classification of Functioning, Disability and Health umbenannt.[5]

Von vielen wird der neue Behinderungsbegriff als nicht weitgehend genug angesehen. Als konsequentere Definition wird vorgeschlagen, „als Behinderung jede Verhaltensweise, Maßnahme oder Struktur anzusehen, die Menschen aufgrund nicht nur vorübergehender körperlicher, geistiger oder seelischer Beeinträchtigungen Lebens-, Entfaltungs- und Teilhabemöglich­keiten nimmt, beschränkt oder erschwert." (Schorn in: Soziale Sicherheit 2002, Heft 4, S127, 128, mit Bezug auf diesen Definitionsvorschlag in: BT-Drucks, 14/8382. zit. n. Wagner/Kaiser: 2004 S.2) ( vgl. Wagner/Kaiser: 2004 S.2ff)

4. Das Empowermentmodell

Empowerment stellt einen Bestandteil des Selbstbestimmt-Leben-Ansatzes dar.

Dieser findet seinen Ursprung in der internationalen Bürgerrechtsbewegung von Menschen mit Behinderung, die sich gegen Diskriminierung wehren. Sie setzt sich für mehr persönliche, soziale und politische Entscheidungsrechte für behinderte Menschen ein. Die Wurzeln hierfür finden sich in den 60er Jahren der vergangenen Jahrhunderts in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung ist in vielen Ländern gegenwärtig. Durch sie entstanden Netzwerke, die in einigen Ländern politische Einflussnahme und Akzeptanz gewannen.

- Die Forderungen der Selbstbestimmt- Leben- Bewegung sind folgende:
- Kontrolle über die eigenen Organisationen
- Anti-Diskriminierung
- „Peer Counseling" - Beratung von Behinderten für Behinderte
- Integration und Nicht-Aussonderung
- Abkehr vom medizinischen Krankheitsbild (vgl. Frevert2000, S.65ff)

Weitere Bestandteile des Selbstbestimmt-Leben-Ansatz sind außerdem: Kundenmodell, persönliche Assistenz und persönliches Budget. Empowerment stellt ein Grundelement des Selbstbestimmt-Leben-Ansatzes dar, was folgend näher beschrieben wird. Gegenwärtig gibt es kein ein­heitliches Konzept zu Empowerment, jedoch lassen sich konforme Ziele herausfiltern.

Empowerment ist als ein Verlauf zu betrachten, in dem Menschen als „Experten in eigener Sache" ihre Angelegenheiten selbst(bestimmt) in die Hand nehmen, sich dabei ihrer eigenen Fähigkeiten bewusst werden, eigene Kräfte entwickeln und soziale Ressourcen nutzen". (vgl. Theunissen 2000, S. 47)

Für das professionelle Handeln stellt Empowerment einen Prozess dar, behinderte Menschen darin zu unterstützen, Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln beziehungsweise zu entdecken, ihre Interessen durchzusetzen, Entschlossenheit zu zeigen und somit ihre Lebenswelt zu verbessern, zu kontrollieren und zu gestalten. Es versteht sich nicht als eine gesellschaftliche Angleichung, sondern betrachtet Betroffene nicht mehr aus dem Blickwinkel der hilfebedürftigen, almosenempfangenden, versorgungsbedürftigen Menschen.

Die Hauptaussage vermittelt die Haltung, dass jeder Mensch in schwierigen Lebenslagen zu individuellen und kompetenten Lösungsstrategien finden kann.

4.1 Menschenbild und Wertebasis

Das Empowerment-Konzept vollzieht einen radikalen Bruch mit der herkömmlichen defizitären Sichtweise in der Heilpädagogik, behinderte Menschen werden nicht mehr unter dem Blickwinkel von Mängel, Versagen, Hilflosigkeit, Inkompetenz oder gar pathologischer Auffälligkeit betrachtet. Empowerment hat sich einem optimistisch gestrickten Menschenbild verschrieben, wie es z. B. der Psychologe C. Rogers (1974) ausgearbeitet hat. „Demnach entwickelt sich die Persönlichkeit eines Menschen nach Maßgabe einer im Organismus festgelegten Tendenz zur Selbstaktualisierung im Rahmen sozialer Beziehungen, in denen der Betreffende dieses, sein Selbstwerden erfährt. Die Selbstentfaltung gilt als gelungen, wenn ein Individuum sein Wachstumspotential ausschöpft, ohne dies auf Kosten anderer zu tun. Das damit einhergehende unbedingte Vertrauen in Stärken und Potentiale eines jeden Menschen, Lebenssituationen in Eigenregie produktiv zu gestalten,":(Theunissen / Plaute 2002, S.20) „ist der Kern und Kristallisationspunkt aller Empowerment-Gedanken."(Herringer 1997, S.73. zit. n. ebenda) In der amerikanischen Sozialarbeit wird dies als strengths perspective bezeichnet. Diese Stärken-Perspektive gründet sich auf die Würdigung der positiven Attribute und Fähigkeiten. Auf Wege, wie sich sowohl individuelle als auch soziale Ressourcen entdecken, entwickeln und unterstützen lassen. Außerdem legt die Stärken-Perspektive die Annahme zugrunde, dass alle Individuen über eine „innere Kraft", die auch als „Lebenskraft" oder „regenerative, heilende Kraft" bezeichnet werden könnte, verfügen. (vgl. Weick 1986,S. 556, 1992, S. 24 zit. n. Theunissen / Plaute 2002, S.21) Diese Kraft kann sich zu einer Wiederstandskraft (resilience), einer Wiederstandsressource entwickeln. Diese resultiert jedoch nicht alleine aus personinhärenten Merkmalen, vielmehr aus dem Zusammenspiel von sozialen und individuellen Schutzfaktoren. Soziale Schutzfaktoren beziehen sich vor allem auf die Verfügbarkeit von Vertrauenspersonen für emotionale Unterstützung in Belastungssituationen und auf das Vorhandensein von sozialen Netzwerken z.B. Freundeskreis, Selbsthilfegruppen oder auch soziale Dienstleistungssysteme. Neben dem Vertrauen in individuelle und kollektive Stärken sowie Umfeldstärken (environmental strengths) im Sinne sozialer Ressourcen sind aus der Stärke-Perspektive für die Praxis wegweisende, spezifische Leitprinzipien hervorgegangen. z.B.:

- Verzicht auf etikettierende, entmündigende, und denunzierende Expertenurteile
- Respekt vor der Sicht des Anderen und seinen Entscheidungen
- Das respektieren des So-Seins des Anderen
- Die Orientierung an der Rechte-Perspektive
- Die Orientierung an der Bedürfnis- und Interessenlage
- Die Orientierung an der Lebenszukunft (vgl. Theunissen / Plaute 2002, S.21ff)

4.2 Grundsatz der Selbstbestimmung

Ein wesentlicher Grundwert von Empowerment ist die Selbstbestimmung (Autonomie). Dies bedeutet aber nicht, dass Empowerment und Selbst bestimmung gleichzusetzen sind. Im Empowerment-Ansatz bezieht sich der Grundwert der Selbstbestimmung „auf Einstellungen und Fähigkeiten, die für ein Individuum nötig sind, um als primär kausaler Agent [ primary causal agent] das eigene Leben zu gestalten und in Bezug auf die eigene Lebensqualität frei von allen unnötigen, übermäßigen externen Einflüssen, Einmischungen oder Beeinträchtigungen eine Auswahl von Dingen und Entscheidungen zu treffen. (Wehmeyer 1992, S.305 zit. n. Theunissen / Plaute 2002, S.22) Selbstbestimmung ist in diesem Zusammenhang als lebenslanger Entwicklungsprozess zu sehen der auf Handlungen basiert, welche nach Wehmeyer (1998) unter anderem durch folgende spezifische Charakteristika gekennzeichnet werden können:

- Autonome Entscheidung der Person durch eine „Selbstaktualisierung", z.B. Nutzung eigener Stärken
- Selbstgeregeltes Verhalten in Verbindung mit einer Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle
- Sich Ziele selbst zu setzen und danach zu handeln
- Eigeninitiative
- Selbstbewusstes auftreten
- Kontrolle und Verfügung über die eigenen Lebensumstände
- Lebensverwirklichung nach eigenen Vorstellungen

Wehmeyer und Bolding (1999) lenkten mit diesem Operatonalisierungsversuchen den Blick auf die Funktion bzw. die Absicht eines selbstbestimmten Verhaltens, gleichzeitig ziehen sie eine „Richtschnur" für pädagogische Unterstützungsleistungen. Ihrer Meinung nach haben drei Faktoren maßgebenden Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung von Selbstbestimmung:

- Individuelle Kapazität, wie Selbstbestimmung vom Lernen und der Entwicklung beeinflusst wird
- Möglichkeiten wie Selbstbestimmung von Erfahrungen und dem Umfeld beeinflusst wird
- Unterstützungen und Versorgungsleistungen

„Somit gehört Selbstbestimmung wesenhaft zum Menschsein" (Speck 2000, S.17ff zit. n. Theunissen / Plaute 2002, S.23) Doch ergibt sich ihre Ent­wicklung und Gestaltung aus dem Zusammenspiel sozialer Faktoren. Das soeben beschriebene Modell versteht Selbstbestimmung als soziale Kategorie und hat zugleich eine heuristische Funktion um „Autonomie­prozesse zu unterstützen, Chancen für Selbstbestimmung auszumachen oder auch „kritische Situationen" zu eruieren, die Freiheitsberaubung, Unter­drückung, Fremdbestimmung oder Entfremdung bedeuten und einer psychischen Gesundheit abträglich sind. Hemmnisse der Selbstbestimmung (geistig) behinderter Menschen sind etwa die Infantilisierung, Überbehütung, Überversorgung, ständige Kontrolle, Ignoranz individueller Wünsche, oder Interessen, ein durch Hinweis- und Stoppschilder gekennzeichnetes Lebens­milieu, ständige Reglementierung"... (Theunissen 1998a, S76f.;1999a, S.173ff zit. N. ebenda) Die Wichtigkeit diese Blickwinkels lässt sich laut Theunissen „allein daran festmachen, dass sich viele Menschen mit geistiger Behinderung in einem „Mehr an sozialer Abhängigkeit" (Hahn 1981) befinden und damit der Gefahr einer negativen Zuschreibung (Stigmatisierung; Betrachtung im Lichte eines Nicht-Könnens"; Defizitorientierung) ausgesetzt sind." (ebenda) Doch genügt es nicht, dem Empowermentansatz allein Wehmeyers Konzept der Selbstbestimmung zugrunde zu legen, da die Frage der individuellen Selbstverantwortlichkeit und die soziale Bezogenheit des Individuums als „fundamentale Tatsache menschlicher Existenz" ( Buber zit. n. ebenda) außen vor bleibt. Speck (2000) sieht darin die Gefahr, dass Wehmeyers Konzept zur „Ideologie gerinnt", (ebebda, S.24) wenn das Selbst nur als „egobezogene Größe" angesehen wird und das Selbst als Prozess der Auseinandersetzung mit anderen und der Umwelt ausgeblendet wird. „Denn Selbstbestimmung ist ein moralischer Begriff. In der Moral geht es um die Grundfrage: Was soll ich tun? Ich als Mensch gegenüber anderen und zusammen mit anderen? Ich habe mein Handeln zu begründen vor dem Hintergrund eines menschlich sinnvollen Zusammenlebens. Meine Freiheit kann nicht Belieben und Willkür sein." (Speck 2000, S.18f zit. n. ebenda).

[...]


[1] An dieser Stelle möchte ich auf die Berufsethische Prinzipien des DBSH (Deutscher Berufsverband für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik e.V. hinweisen

[2] engl. Begriff

[3] Dies ist bei Menschen mit Behinderung eher nicht der Fall. Doch habe ich diesen Punkt der Vollständigkeit halber aufgenommen.

[4] In diesem Zusammenhang möchte ich auf meine Veröffentlichung „Behinderung im Nationalsozialismus" 2007 im Grin Verlag hinweisen.

[5] Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Quelle (2004) war noch keine Übersetzung aus dem Englischen verfügbar.

Ende der Leseprobe aus 111 Seiten

Details

Titel
Casemanagement in der Behindertenarbeit
Untertitel
Ein Überblick
Hochschule
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg  (Sozialpädagogik)
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
111
Katalognummer
V145319
ISBN (eBook)
9783640564026
ISBN (Buch)
9783640564248
Dateigröße
1832 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Casemanagement, Behindertenarbeit, Behinderung Hilfeplanung
Arbeit zitieren
Diplom Sozialpädagoge Michael Großkopf (Autor:in), 2008, Casemanagement in der Behindertenarbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145319

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