Die Faszination für Hildesheimers Marbot mündet nicht allein in der authentischen Darstellung eines niemals gelebten Lebens − dem Spiel mit der Fiktion Marbot, der in das faktuale Geflecht im Kontakt mit herausragender Persönlichkeiten der Malerei, Literatur, Musik, Philosophie und in den sie umgebenden historisch-kulturellen Kontext ohne offensichtliche Nahtstellen hinein implementiert wurde. Der zentrale Movens der gesamten narrativen Anlage stellt der Inzest dar, den Marbot mit seiner zwanzig Jahre älteren Mutter Lady Catherine verbindet. Er konstituiert die Narration, indem er das dem Inzest übergeordnete Thema, nämlich das Verhältnis von Kunst und Leben miteinander in Verbindung bringt sowie Abhängigkeiten und Korrelationen aufzuzeigen im Stande ist. Demzufolge sind Kunst und Leben in Hildesheimers Marbot in enger Verschränkung zu verstehen, dessen Zirkelpunkt und Verbindungsstelle der Inzest darstellt. Ein Ineinandergreifen, wie es auch schon die Wahl der Darstellungsform im vorgeblichen Genre der Biographie selbst suggeriert in der Verbindung von “tatsächlichem“ Leben (Biographie) und Kunst (fiktive Biographie) . Dabei ist der Terminus Verschränkung durchaus in seinem eigentlichen Sinn im Rückschluss auf die Heraldik zu verstehen, indem sie mindestens zwei Wappen in einem Bild zu vereinigen sucht und als ein Handwerk, das auch Marbot betreibt, indem er die Instanzen der Kunst und des Lebens im Rahmen seiner psychoanalytisch begründeten Bildanalyse im wechselseitigen Prozess des (unbewussten) Hineinschreibens seiner Lebenserfahrung im Akt des visuell-hermeneutisch bestimmten “Herauslesens“ in einem von ihm ekphrastisch entworfenen “Bild“ − der Niederschrift der von ihm objektivierten Erkenntnisse − miteinander verbindet. Jedem Wappen wird dabei ein bestimmtes Feld, eine feste Position zugewiesen, wie auch Marbot versucht, zu ergründen, welcher Stellenwert dem eigenen Leben und der darin sich verbergenden Anomalien in Bezug auf ihre Wirkkraft gegenüber der künstlerischen Produktion zukommt. Der Frage nach diesem Beziehungsgeflecht, dem Status von Kunst und Leben, das seiner strukturalen Anlage nach in Marbot vom Inzest als das konstituierende Element und „vitale[r] Kontrapunkt“ (Hildesheimer) all der darauffolgenden Kunstanalysen des in der Pose des stets die Welt befragenden Rätselnden Marbot getragen wird, soll im Rahmen des Vorhabens dieser Arbeit nachgegangen werden.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitender Teil
- Fragestellung
- Begriff und Perspektivierung
- Das Inzest-Motiv in der Literatur und sein heterogenes Deutungsspektrum
- Theoretischer Teil - Der psychoanalytische Inzest-Diskurs
- Sigmund Freud: Psychoanalytische Perspektive
- Ödipus-Komplex und Narzissmus
- Psychoanalyse und Kunst - Die Ambivalenz einer Arbeit am Mythos
- Otto Rank: Psychologisierung der Kunst
- ,,Psychologie des dichterischen Schaffens"
- ,,Ubiquität des Inzestmotivs"
- Analytischer Teil - Der Inzest-Diskurs in Wolfgang Hildesheimers Marbot
- Die Transformation eines Begehrens - Marbots Tintoretto-Erlebnis
- Initiation und initiierende Bildwirkung – Erster Kontakt
- Terra incognita -,,which he was to explore and conquer later"
- Konstellation Bild – Körper – Text
- Der Inzestvollzug und die Rolle der Erzähler-Figur
- Distanzierung des Erzählers - Theatralisierung des Inzests
- Die (wertende) Instanz des Erzählers als Machtinstanz
- Inzest als Flucht - Der mütterliche Schoß und seine Kolonialisierung
- ,,in beauty softly embedded\" - „psychisch-physische Ganzheitserfahrung“
- ,,Longing is retroverted curiousity\" - Inzest als Revision des Lebens
- Flucht vor dem Inzest – Sublimation und Kunst als „point of escape“
- Kunst und psychoanalytische Kunstanalyse - Objekt und Mittel der Selbstbespiegelung: Marbots Suche nach dem Doppelgänger
- Die Portraitierung des Selbst in der Schrift - Das Portrait im Portrait
- Potenzierter Inzest - Die Konzentrizität Marbots Inzest im Inzestgefüge der Kunst
- ,,The Marbot Myth“ und Sophokles' Oedipus Tyrannos - Repetition eines Mythos und seiner psychoanalytischen Deutung
- Marbot -,,Hamlet als Gegenhamlet"
- Schlussbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Bedeutung des Inzest-Motivs in Wolfgang Hildesheimers fiktiver Biographie Marbot und analysiert dessen literarische Funktion im Kontext der psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud und Otto Rank. Ziel ist es, die vielschichtigen Bedeutungsdimensionen des Inzest-Motivs in Hildesheimers Werk aufzudecken und zu verstehen, wie es auf der narrativen Ebene mit der Konstruktion der Figur Marbot verwoben ist.
- Die psychoanalytische Interpretation des Inzest-Motivs
- Die literarische Funktion des Inzest-Motivs in Marbot
- Die Verbindung von Kunst und Leben in Hildesheimers Werk
- Die Rolle der Erzähler-Figur und ihre Interpretation des Inzest-Motivs
- Die Analyse des Inzest-Motivs im Kontext der Kunst
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einleitung, die die Fragestellung, den Begriff und die Perspektivierung des Inzest-Motivs in der Literatur skizziert. Anschließend wird im theoretischen Teil der psychoanalytische Inzest-Diskurs nach Sigmund Freud und Otto Rank vorgestellt.
Der analytische Teil konzentriert sich auf die Analyse des Inzest-Motivs in Marbot. Die Kapitel untersuchen verschiedene Aspekte des Themas:
- Die Transformation eines Begehrens: Marbots Tintoretto-Erlebnis
- Der Inzestvollzug und die Rolle der Erzähler-Figur
- Inzest als Flucht: Der mütterliche Schoß und seine Kolonialisierung
- Flucht vor dem Inzest: Sublimation und Kunst als „point of escape“
- Potenzierter Inzest: Die Konzentrizität Marbots Inzest im Inzestgefüge der Kunst
Schlüsselwörter
Inzest, Psychoanalyse, Wolfgang Hildesheimer, Marbot, Kunst, Literatur, Motiv, Interpretation, Erzähler, Figur, Sublimation, Doppelgänger, Mythos, Oedipus, Hamlet, Kunst und Leben, Psychologisierung der Kunst, Kunst und Literatur.
- Quote paper
- Susanne von Pappritz (Author), 2011, Die Verschränkung von Kunst und Leben. Der Inzest-Diskurs in Wolfgang Hildesheimers fiktiver Biographie "Marbot", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1453566