Ein gehetzter Stratege?

Zur historischen Rolle des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg während der polnisch-sächsischen Krise von 1814/1815


Seminararbeit, 2009

40 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Zum Stand der historischen Hardenberg-Forschung

3. Zur Person Hardenberg - ein biographischer Wegweiser

4. Von Kalisch nach Paris - Die Vorgeschichte zum Wiener Kongress
4.1 Das Abkommen von Kalisch 1813
4.2 Der Erste Pariser Frieden von 1814

5. „Wir brauchen Sachsen.“ - Preußens Ziele auf dem Wiener Kongress
5.1 Grundlagen und Aussichten für die Totalannexion Sachsens
5.2 Die Aporie der preußischen Zielstellungen

6. Das „ Komplott vom 23.Oktober“ und der Ausbruch der Krise
6.1 Die Ergebenheit Friedrich Wilhelms III
6.2 Preußens Spiel zwischen den Machtblöcken

7. Metternichs Dezember-Note und die Eskalation des Konflikts
7.1 Eine Allgemeine Kriegspsychose
7.2 Die Defensiv-Allianz

8. Die Lösung der polnisch-sächsischen Krise

9. Resümee

10. Abkürzungsverzeichnis

11. Abbildungsverzeichnis

12. Bibliographie

1. Einleitung

Nach dem Westfälischen Frieden von 1648 erreichte wohl nur der Wiener Kongress von 1814/1815 den Status eines epochalen Großereignisses der europäischen Kabinettsdiplomatie. Fünf Jahre nachdem Napoleon in der Hauptstadt des Habsburgerreiches seinen Diktatfrieden erlassen und damit sein System der Universalherrschaft neu befestigt hatte, gingen die Siegermächte Europas in Wien daran, eine stabile Friedensordnung auszuarbeiten.1 Der Verhandlungskatalog umfasste die Konstituierung eines stabilen Mächtegleichgewichts, die Harmonisierung divergierender Territorialinteressen und die auf die Prinzipien der Legitimität und der Souveränität gestützte Restauration der politischen Ordnung in Europa. Die Instrumente dieser „Fürsten- und Länderbörse2 waren die traditionellen Werkzeuge der klassischen Diplomatie, der strategischen Berechnungen und der ideologischen Dogmen.

Als die strategische Kardinalsfrage und zugleich wichtigster Problemkomplex der Wiener Kongressverhandlungen kristallisierten sich die sogenannte polnische und die mit ihr eng verbundene sächsische Frage heraus. Die Ansprüche Russlands zur Schaffung eines von ihm abhängigen „Königreiches Polen“ und die preußischen Wünsche auf eine vollständige Einverleibung Sachsens kollidierten mit den Ordnungs- und Sicherheitsinteressen der übrigen Verhandlungsmächte Österreich, England und Frankreich.3

Der preußische Staatskanzler Karl August Fürst von Hardenberg (1750-1822),4 der als Abgesandter des Königreiches Preußen die Interessen seines Landes zu vertreten hatte, konstatierte bereits im Juli 1814 in einem Brief an den preußischen Minister des Königlichen Hauses Fürst zu Sayn-Wittgenstein, dass „die polnischen Angelegenheiten noch der Hauptstein des Anstosses und erst bey dem Congreßzu regulieren […]“5 seien. Wenig später, vertrat er in einem Brief an Wilhelm von Humboldt die Auffassung „Wir brauchen Sachsen. “6 und machte damit deutlich, dass die preußische Interessenpolitik entscheidend für den gesamten Verlauf des Kongresses sein würde. Eng verwoben mit den großpolnischen Begehrlichkeiten Russlands entwickelte sich die diplomatische Mission Hardenbergs gegen Ende des Jahres 1814 zu einer offenen Krise zwischen den Verhandlungsmächten, die kurzzeitig sogar auf einen Krieg zusteuerten. Heinrich von Treitschke bezeichnete den Kongress daher als „eine Hexenküche politischer Intriganten7 und attestierte Hardenberg zugleich eine durchweg negative diplomatische Verhandlungsbilanz. Auch der Historiker Wilhelm Maurenbrecher bewegte sich ganz auf dieser Linie und bescheinigte Hardenberg signifikante Defizite seines Charakters und seiner diplomatischen Expertise.8

Doch lassen sich die preußischen Verhandlungsergebnisse in der historischen Rückschau leichtfertig an das diplomatische Agieren eines einzelnen Akteurs knüpfen? Übersieht eine solch personenfixierte Wertung historischer Großereignisse nicht die strukturellen Determinanten wie beispielsweise die signifikante Einschränkung des politischen Handlungsspielraums Hardenbergs durch König Friedrich Wilhelm III.? Welche systemischen Handlungsimperative resultierten aus Preußens geographischer Lage in Ostmitteleuropa und welche besonderen sicherheits- und ordnungspolitischen Interdependenzen ergaben sich daraus für die benachbarten Großmächte? Welchen Einfluss zeigte die sybillinische Doppelstrategie des österreichischen Staatskanzlers Metternich auf den Verlauf der Kongressverhandlungen im Allgemeinen und die Realisierung der preußischen Interessenpolitik im Besonderen?

Aufbauend auf diesen komplexen Frage- und Problemstellungen vertritt der Autor nachfolgend die These, dass man für die Bewertung der Rolle und damit der historischen Leistungen Hardenbergs auf dem Wiener Kongress stärker die strukturellen Zwänge und systemischen Determinanten berücksichtigen muss. Hätten diese den Entscheidungsspielraum Hardenbergs nicht derart determiniert, wäre es ihm höchstwahrscheinlich gelungen, der preußischen Maximalforderung einer Einverleibung Sachsens vollends zu entsprechen und unter Umständen weitere Gebiete hinzufügen zu können. Die mit dem Kongressbeginn einsetzende spannungsgeladene Verdichtung des polnisch-sächsischen Krisenpanoramas entzog dem Fürsten jedoch gänzlich die essenzielle Gestaltungskompetenz und ließ ihn dergestalt als einen „gehetzten Strategen“ erscheinen. Der Auffassung des Historikers Karl Griewank beipflichtend, dass Hardenberg stets ein „unbeirrbarer Fechter für das im Augenblick Erreichbare9 sei, wird in der folgenden wissenschaftlichen Untersuchung versucht, aufzuzeigen, dass der Terminus des „gehetzten Strategen“ als angemessen erscheint, um die diplomatische Bilanz des Fürsten Hardenberg unter Berücksichtigung der systemischen Determinanten und akteursspezifischen Verflechtungen darzulegen.

Dazu erfolgt in einem ersten Schritt eine Darstellung des aktuellen Standes der historischen Hardenberg-Forschung. Darauf aufbauend werden in einem kurzen biographischen Wegweiser die wichtigsten Etappen aus der Vita Hardenbergs vorgestellt, um die strukturellen Einflussfaktoren und ideengeschichtlichen Strömungen, die ihn seinerzeit geprägt haben, hervorzuheben. Dabei richten sich die darstellungsrelevanten Wegpunkte seines Schaffens primär auf die außenpolitischen Meriten und vernachlässigen daher notgedrungen sein reformerisches Werk. Anknüpfend daran erfolgt in einem vierten Kapitel die Darstellung der Vorgeschichte zum Wiener Kongress mit dem für Preußen wichtigen Abkommen von Kalisch 1813 und dem Ersten Pariser Frieden 1814. Die geopolitischen Zielstellungen Preußens, allen voran die Betrachtung Sachsens als Restitutionsmasse der Siegermächte, werden anschließend erörtert. Der Ausbruch des polnisch-sächsischen Konflikts bis hin zur Eskalation um die Jahreswende 1814/1815 wird im sechsten und siebten Kapitel nachgezeichnet, gefolgt von einer Darstellung der Lösung des Konflikts im achten Kapitel. In einem abschließenden Resümee soll eine historische Bilanz und eine angemessene Wertung der Diplomatie des preußischen Staatskanzlers sowie eine Beurteilung der unter Systemzwängen erreichten preußischen Verhandlungsergebnisse gezogen werden.

Als primäre Quellengrundlage dient hierbei der bemerkenswerte Band „Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses 1814/1815“, welcher von Klaus Müller herausgegeben wurde. Er enthält ein reichhaltiges Konvolut der wichtigsten Instruktionen, Korrespondenzen, Noten und Notizen der Mächte zum Kongressgeschehen und fungiert auch post festum 200 Jahre später als ein unerlässliches historisches Werkzeug, um die diplomatischen Auseinandersetzungen, die staatspolitischen Reflexionen und die taktischen Raffinessen der maßgebenden Protagonisten aufzuzeigen. Der Briefwechsel zwischen Hardenberg und Wittgenstein, herausgegeben von Hans Branig, bildet das zweite Fundament relevanten Quellenmaterials. Ebenfalls erwähnenswert sind die beiden bedeutenden Hardenberg- Biographien von Hans Haussherr aus dem Jahre 1963 und von Peter Gerrit Thielen aus dem Jahre 1967. Das kürzlich von Ingo Herrmann erschienene Werk „Hardenberg - Der Reformkanzler“ von 2003 sowie die historische Abhandlung „Der Wiener Kongreß- Der Deutsche Bund im europäischen Staatensystem“ von Peter Burg runden das Quellenportfolio entsprechend ab.

2. Zum Stand der historischen Hardenberg-Forschung

In der historischen Forschung stand der preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg sehr lange im Schatten seines Zeitgenossen, Freiherr vom und zum Stein.10 Man warf ihm Opportunismus,11 eine zu sehr an den aufklärerischen Idealen der französischen Vorbilder entlehnte etatistische Haltung und eine nur ungenügende Eignung als Ikone der nationalen preußisch-deutschen Einigung vor. Seine zahlreichen Amouren, die permanenten finanziellen Schwierigkeiten und das oftmals nonchalante Kredo seines weltmännischen Habitus12 trugen unter seinen Zeitgenossen wie zahlreichen offen pro-preußischen Historikern zu einer minderen Wertschätzung seiner Person bei und waren maßgeblich ausschlaggebend, dass ihm bis zum Zweiten Weltkrieg keine Biographie gewidmet wurde.13

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aufgrund des eingeschränkten archivarischen Zugangs zu relevanten Beständen im Deutschen Zentralarchiv in Merseburg lange Zeit eine komplette historische Aufarbeitung über den preußischen Staatskanzler erschwert. So standen bis Mitte der 1960er Jahre nur zwei größere Biographien über Hardenberg zur Verfügung: Zum einen die unvollendet gebliebene, als dreibändiges Werk konzipierte Biographie des Historikers Hans Haussherr, die in seinen beiden 1943 und 1963 veröffentlichten Teilen die Zeit von 1750 bis 1800 und von 1810 bis 1812 umfassend behandelt und noch von einer auffallend kritischen Sicht auf Hardenberg bei gleichzeitiger Hochschätzung des Freiherrn vom und zum Stein geprägt ist. Zum anderen das 1967 von Peter Gerrit Thielen veröffentlichte biographische Werk, das ein positiveres Bild Hardenbergs zeichnet und erstmalig stärker auf den Privatmenschen eingeht.14

Am Beispiel des verdienten Hardenberg-Biographen Hans Haussherr lässt sich derweilen die im Spiegel der Nachwelt ideologisch verzerrten Gesamtbewertungen der historischen Person Hardenberg aufzeigen. So kann sein 1943, auf dem Höhepunkt nationalsozialistischer Herrschaft, erschienenes Buch „Die Stunde Hardenbergs“ als Paradigma der weltanschaulich motivierten Beugung bewährter traditioneller Erkenntnismethoden in den historischen Wissenschaften bezeichnet werden.15 Haussherr bezichtigt Hardenberg einer „törichten Judenfreundlichkeit“,16 bezeichnet ihn wiederholt als Freimaurer und verfällt damit den damals gängigen Klischees einer internationalen Verschwörung des Judentums. Unter der Regierung des Staatskanzlers Hardenberg, argumentiert Haussherr, „erlangte der Jude alles, was er nur wünschen konnte.17 Eingedenk des von Hardenberg verabschiedeten Edikts über die Gleichstellung der Juden aus dem Jahre 1812, lässt sich nachfolgend eine regelrechte Kontinuität historischer Skepsisbekundungen über diese Reformtat von der preußischen Monarchie über das Deutsche Kaiserreich bis hin zum Dritten Reich ablesen. Sie mag ein Grund sein, warum die preußisch-deutschen Apologeten der Historikerzunft der Wirksamkeit Hardenbergs keinerlei Aufmerksamkeit widmeten. Der 1963 erschienene Band seiner Biographie war dann von allen ideologischen Elementen der nationalsozialistischen Sprachpolitik bereinigt.

Im Zuge einer verstärkten Zunahme bundesdeutscher Reformdiskurse in Politik und Gesellschaft in den 1960er Jahren erlangte die Modernisierungspolitik des Staatskanzlers in der Historiographie zunehmend an Bedeutung und erfuhr - auch in Abgrenzung des Freiherrn vom Stein - eine grundlegende Neubewertung. Dennoch nahm das dezidiert biographische Interesse an der Person Hardenberg erst in den letzten Jahren spürbar zu. Pünktlich zum 250. Geburtstag Hardenbergs legte der Historiker Thomas Stamm-Kuhlmann eine Edition der Tagebücher Hardenbergs vor und postulierte sie zusammen mit einer von ihm 2001 herausgegebenen Aufsatzsammlung als „Bestandsaufname der Hardenberg-Forschung“.18

2003 erschien die bisher letzte größere Abhandlung zur Biographie Hardenbergs. Das von Ingo Hermann veröffentlichte Werk „Hardenberg - Der Reformkanzler“ ist weniger ein weiterführender Beitrag zur historischen Hardenberg-Forschung als ein für den historisch- interessierten Leser geschriebenes Sachbuch. Evident wird dies durch das von Hermann verwendete Quellenmaterial, das sich vorrangig auf einschlägige Publikationen und Editionen und weniger auf den 2001 in Lietzen errichteten Nachlass der Familienarchive stützt. Hinzu kommt, dass sich Hermanns leitendes Interesse primär an der für ihn relevanten Frage entzündet: „Aus welchem Holz […] ein Charakter geschnitzt [ist] , der fähig und lebenslang motiviert ist, Reformen zu konzipieren, zu wagen und gegen starke Widerstande durchzusetzen?19 Folglich stehen weniger die Gestalt des Politikers als die des Privatmannes im Vordergrund seiner Darstellung. Kindheit, Jugend- und Studienjahre, ein detailliertes Familienkolorit sowie die zahlreichen Beziehungen Hardenbergs zu den Frauen werden ungeschönt und mit pedantischer Akribie nachgezeichnet und eröffnen dem Leser ein bislang wenig bekanntes Charakterbild des preußischen Staatskanzlers Hardenberg.

3. Zur Person Hardenberg - ein biographischer Wegweiser

Karl August erblickte am 31. Mai 1750 auf Gut Essenrode, zwischen Braunschweig und Gifhorn gelegen, das Licht der Welt. Zum Zeitpunkt seiner Geburt war seine Mutter, Anna Sophia Ehrengart von Bülow (1731-1809) gerade einmal 19 Jahre alt, während sein Vater Christian Ludwig von Hardenberg (1700-1781) bereits im 49. Lebensjahr stand. Sieben weitere Geschwister sollten aus dieser Ehe hervorgehen, und als Ältestem oblag es Karl August schon sehr früh, für Interessenausgleich unter den Geschwistern zu sorgen und die damit verbundenen familiären Sachzwänge zu „verwalten“.20

Die Hardenbergs gehörten dem landständischen Adel an, und der Diensttätigkeit des Vaters als Oberst, später als Feldmarschall und Oberkommandierender der hannoverschen Truppen war es zu verdanken, dass die Familie begütert und wirtschaftlich abgesichert lebte.21 Der damalige Landesherr war König Georg III., König von Großbritannien und Irland und seit 1714 Kurfürst von Hannover. Mit der Heirat seiner Eltern erweiterte sich der Familienbesitz der Hardenbergs um die Bülowschen Güter auf der Halbinsel Wagrien in Holstein, zwischen der Kieler und der Mecklenburger Bucht.22 Für Karl August bedeutete dies eine Erweiterung seines Lebensradius` in Richtung Norden, was später in einer engen Bindung mit Holstein und Dänemark evident wurde.

Aus den Kinder- und Jugendjahren Karl Augusts von Hardenberg sind der Nachwelt bis heute nur wenige Einzelheiten überliefert. Fest steht, dass der Vater bereits sehr früh großen Wert auf eine umfassende Erziehung des jungen Karl August legte. Sein ihm aufgetragener Erziehungsplan orientierte sich an den Gewohnheiten der Zeit und des gesellschaftlichen Standes. In der Familie sprach man französisch und aufklärerisches Gedankengut fand frühzeitig Einzug in die väterlichen Erziehungsgrundsätze. Neben dem Erwerb umfangreicher lateinischer und griechischer Sprachfertigkeiten nahm das für den hannoverschen Adel lebenswichtige Englische einen besonderen Stellenwert ein. Hinzu kam, dass durch den Besuch öffentlicher Schulen dem jungen Hardenberg die Welt des wohlhabenden Bildungsbürgertums erschlossen und dadurch sein gesellschaftlicher Lebenshorizont enorm erweitert wurde.23 Diese frühe fortschrittliche und an modern- aufklärerischen Idealen orientierte Lebensschule der Toleranz, die sich für den jungen Karl August als „Interessengemeinschaft des Adels mit dem bürgerlichen Patriziat24 darstellte, legte den Grundstein für das spätere Wirken des liberalen Reformers und weltgewandten Staatskanzlers.25

Mit der Immatrikulation an der juristischen Fakultät zu Göttingen 1766 legte Carolus Augustus ab Hardenberg26 den beruflichen Grundstein für seine spätere Laufbahn im Staatsdienst Hannovers. Dem historischen Kairos seiner Zeit ist es zu verdanken, dass der junge Student in der Zwischenzeit des Übergangs vom monarchischen Staatsabsolutismus hin zum aufgeklärten Staatsdenken seinen akademischen Werdegang begann, und somit mit den damals modernsten Staats- und Gesellschaftstheorien in Berührung kam. Diese ideengeschichtlich bedeutsame Epochenfühlung entfachte seine reformerische Energie.

Auf einer Bildungsreise (Kavalierstour), die ihn durch mehrere deutsche Fürstentümer führte und auf der er die Verfahrensweisen der deutschen Reichsgerichte in Erfahrung bringen konnte, lernte er erstmalig den maroden, zerschlagenen und im Untergang begriffenen Verwaltungsapparat des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation kennen. In der Sprache Bismarcks sah er „das Reich bereits 1772 […] als Exerzierplatz der Politik seiner bedeutendsten Glieder.27 Diese Erlebnisse im Allgemeinen und die Erfahrungen an allen seinen reformerischen Wirkungsstätten von Hannover, über Braunschweig bis Ansbach- Bayreuth und Berlin im Besonderen, trugen zur Ausbildung eines komplexen vernetzten Denkens bei, das innen- wie außenpolitische Problemfelder synergetisch zu vereinen suchte. Hardenberg war daher mehr als ein bloßer Verwaltungsbeamter. Ihm ging es darum, die Macht des Staates mittels einer achtunggebietenden Streitmacht nach außen zu stärken, um damit die Grundlage für die Entwicklung einer selbstständigen Außenpolitik zu legen.

Dafür bedurfte es jedoch erhöhter staatlicher Einnahmen und einer effizienten, zentralistisch organisierten Verwaltungsstruktur. Dass er einen fähigen administrativen Staatsapparat im Inneren als unerlässlichen Nukleus für die Profilierung staatlicher Interessenpolitik nach außen erachtete, lässt sich auch an folgender Bemerkung ablesen, in der er apostrophierte, dass ihm „ein halbes Bataillon braver Truppen lieber [ist] als eine ganze Schar m üß iger Kammerherrn, Kammerjunker, Mundköche, Bratenmeister usw. “28 Gleichzeitig verrät sie, dass Hardenberg immer ein „Herzensfreund29 des Militärs war, was zur damaligen Zeit fast schon als eine Selbstverständlichkeit erachtet wurde.

1803 gelang Hardenberg, mittlerweile im Rang eines preußischen Kabinettsministers, der Eintritt in die große Politik. In den Folgejahren erwarb er sich dann den Ruf eines entschlossenen Gegners der napoleonischen Eroberungspolitik.30 Preußen, das seit der Aushandlung des Basler Friedens 1795 von einer Friedensperiode profitiert hatte, geriet gegen Ende des Jahres 1806 in wachsende Spannungen mit Frankreich.31 Im Bündnis mit Russland und weiteren deutschen Mittelmächten stehend, begann Preußen den Vierten Koalitionskrieg. Dieser endete jedoch kurze Zeit später in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstädt mit einer katastrophalen Niederlage. Für Hardenberg begann nun die Zeit im Exil und im erzwungenen politischen „Wartestand“.32 Erst 1810 gelang ihm, auf Einlenken Napoleons, der Wiederaufstieg in den preußischen Staatsdienst. Nunmehr im Amt des preußischen Staatskanzlers, initiierte er in der Folgezeit umfangreiche Reformprojekte.

Nachdem sich 1811 abzeichnete, dass das labile Vertragsband zwischen Frankreich und Russland gemäß seiner politischen Natur brüchig wurde, trat Hardenberg dafür ein, dass es nun an der Zeit sei, sich von Frankreich zu lösen und Russland zuzuwenden. Doch noch dominierte der politische Kurs des preußischen Monarchen, der eine Revitalisierung des französisch-preußischen Allianzvertrags vorsah. Als jedoch das ungewisse Jahr 1813 eingeläutet wurde, ereilte Berlin die Nachricht, dass der preußische General York bei Tauroggen eigenmächtig ein Stillhalteabkommen mit den russischen Truppen ausgehandelt habe. „Jetzt oder nie“, schrieb York dem Monarchen, „ist der Moment, Freiheit, Unabhängigkeit und Gr öß e wiederzuerlangen, ohne zu große und zu blutige Opfer bringen zu müssen. In dem Ausspruch Ew. Majestät liegt das Schicksal der Welt.33

[...]


1 Vgl. Thielen, Peter Gerrit: Karl August von Hardenberg 1750- 1822. Eine Biographie, G. Grote`sche Verlagsbuchhandlung KG, Köln und Berlin 1967, S. 308.

2 Griewank, Karl: Der Wiener Kongress und die Neuordnung Europas 1814/15, Leipzig 1942, S. 89.

3 Das besiegte Frankreich wurde zwar formell erst am 31. Dezember 1814 in den Kreis der Verhandlungsmächte aufgenommen, konnte jedoch abseits des offiziellen Kongressgeschehens seine Interessen durch seinen Vertreter Talleyrand einbringen und so den Verlauf der Ereignisse indirekt mit beeinflussen.

4 Ein Porträt Hardenbergs befindet sich als Abbildung 1 im Abbildungsverzeichnis auf Seite 34.

5 Brief Hardenberg an Wittgenstein, Paris, den 7. Juli 1814, in: Branig, Hans: Briefwechsel des Fürsten Karl August von Hardenberg mit dem Fürsten Wilhelm Ludwig von Sayn-Wittgenstein 1806- 1822, G. Grote`sche Verlagsbuchhandlung KG, Band 9, Köln und Berlin 1972, S. 206- 207.

6 Hardenberg an Humboldt, 3. Sept. 1814, hier zitiert nach: Thielen (1967), S. 312.

7 Treitschke, Heinrich von: Der Wiener Kongreß, Berlin 1943, S. 8.

8 Maurenbrecher, hier zitiert nach: Jenak, Rudolf: Die Teilung Sachsens. Zur Geschichte der Teilung des Königreichs Sachsen auf der Grundlage der Entscheidungen des Wiener Kongresses 1814- 1815, HellerlauVerlag Dresden GmbH 2007, S. 10.

9 Griewank, Karl: Der Wiener Kongress und die Neuordnung Europas 1814/15, Leipzig 1942, S. 89.

10 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Thomas: Karl August Fürst von Hardenberg, in:

http://www.uni-greifswald.de/~histor/~neuest/biografie.html, letzter Zugriff: 10.06.2009.

11 Kein Urteil über Hardenberg ist weiter verbreitet worden und hat mehr zur Verzerrung seiner Person beigetragen, als das der Amalie von Beguelin. Über ihn schrieb sie: „Den Kanzler beherrschten die allmächtigen Stunden, und die Gegenwart galt ihm oft zu viel im Vergleich mit der Zukunft, die er nicht immer scharf ins Auge faßte.“; Beguelin, hier zitiert nach: Thielen (1967), S. 248.

12 Vgl. Thielen (1967), S. 249.

13 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Thomas: Karl August Fürst von Hardenberg, in:

http://www.uni-greifswald.de/~histor/~neuest/biografie.html, letzter Zugriff: 10.06.2009.

14 Vgl. ebd.

15 Vgl. Hermann, Ingo: Hardenberg. Der Reformkanzler, Siedler-Verlag, Berlin 2003, S. 304.

16 Haussherr (1943), hier zitiert nach: Hermann (2003), S. 306.

17 Ebd., S. 305.

18 Stamm-Kuhlmann, Thomas: Karl August Fürst von Hardenberg, in:

http://www.uni-greifswald.de/~histor/~neuest/biografie.html, letzter Zugriff: 10.06.2009.

19 Hermann, Ingo: Hardenberg. Der Reformkanzler, Siedler-Verlag, Berlin 2003, S. 412.

20 Hermann (2003): S. 23.

21 Vgl. Haussherr, Hans: Hardenberg. Eine politische Biographie, I.. Teil 1750- 1800, Kölner Historische Abhandlungen, Band 8, Köln 1963, S. 24ff.

22 Vgl. Hermann (2003): S. 27.

23 Vgl. Hermann (2003), S. 36ff.

24 Haussherr, Hans: Hardenberg. Eine politische Biographie, I.. Teil 1750- 1800, Kölner Historische Abhandlungen, Band 8, Köln 1963, S. 29ff.

25 Vgl. Thielen, Peter Gerrit: Karl August von Hardenberg 1750- 1822. Eine Biographie, G. Grote`sche Verlagsbuchhandlung KG, Köln und Berlin 1967, S. 18ff.

26 So der der Vermerk der Immatrikulationsurkunde vom April 1766, siehe dazu: Hermann (2003), S. 43.

27 Haussherr, Hans: Hardenberg. Eine politische Biographie, I.. Teil 1750- 1800, Kölner Historische Abhandlungen, Band 8, Köln 1963, S. 58.

28 Haussherr (1963), S. 72.

29 Ebd., S. 72.

30 Vgl. Karl August Fürst von Hardenberg, in: http://www.berliner-klassik.de/forschung/Nathaus- Minister/hardenberg, letzter Zugriff: 10.06.2009.

31 Vgl. Hein, Dieter: Deutsche Geschichte in Daten, Becksche Reihe, München 2005, S. 85.

32 Thielen (1967), S. 205.

33 Immediatbericht Yorks, 3. Jan. 1813, hier zitiert nach: Thielen (1967), S. 283.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Ein gehetzter Stratege?
Untertitel
Zur historischen Rolle des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg während der polnisch-sächsischen Krise von 1814/1815
Hochschule
Technische Universität Chemnitz  (Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts)
Veranstaltung
Der Wiener Kongress 1814/1815
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
40
Katalognummer
V145372
ISBN (eBook)
9783640549405
ISBN (Buch)
9783640551637
Dateigröße
826 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stratege, Rolle, Staatskanzlers, Karl, August, Hardenberg, Krise
Arbeit zitieren
Jakob Kullik (Autor:in), 2009, Ein gehetzter Stratege?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145372

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