Die französische Wesenskunde von 1914 bis 1933 am Beispiel Eduard Wechsslers Esprit und Geist


Seminararbeit, 2006

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Entwicklung der Romanistik und politischer Hintergrund
1.1 Entwicklung der Romanistik bis 1914
1.2 Politische Ereignisse und Auswirkungen auf die Romanistik bis 1933

2. Die Wesenskunde Wechsslers
2.1 Biographischer Hintergrund Wechsslers
2.2 Entwicklung und Ziele der Wesenskunde
2.3 Differenzierung zwischen der Methodik der Kultur- und der Wesenskunde
2.4 Anwendung der wesenskundlichen Methode in Esprit und Geist

3. Darstellung französischer und deutscher Wesensart in Esprit und Geist
3.1 Entstehung des französischen und deutschen Volkscharakters
3.2 Französischer Verstand und deutsche Vernunft
3.3 Naturferne der Franzosen und deutsche Natürlichkeit
3.4 Gesellschaftlicher Charakter der Franzosen und deutscher Individualismus

4. Rezeption und Wirkung von Wechsslers Wesenskunde
4.1 Reaktionen auf Esprit und Geist
4.2 Auswirkungen auf den Französischunterricht
4.3 Instrumentalisierung der Wesenskunde im Dritten Reich

Zusammenfassung

Literatur

Einleitung

„Und da wir immer neue Mühe haben, uns geistig und staatlich gegen den westlichen Nachbar zu behaupten, [...], lohnt es sich vielleicht die Schilderung deutschen Wesens von der des französischen grundsätzlich abzuheben und am Franzosen den Deutschen zu erkennen.“ So schreibt der Romanist Eduard Wechssler im Vorwort seines 1927 erschienenen Werks Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen (Wechssler 1927: V). Dieses Zitat lässt erkennen, worauf die Wesenskunde Wechsslers, der einer der bedeutendsten Romanisten der Weimarer Republik war, abzielt: Wechssler befasst sich mit der französischen Kultur, um Deutschland von Frankreich abzugrenzen und dadurch die eigene Nation zu stärken. Dieser wechselseitige Bezug zwischen der untersuchten und der eigenen Kultur ist typisch für die Methodik der Wesenskunde, als deren Begründer Wechssler angesehen wird.

Die Wesenskunde ist eine Richtung innerhalb der kulturkundlichen Romanistik, die während des ersten Weltkriegs entstand und die Peter Jehle als „ebenso einflussreiche wie umstrittene Forschungsrichtung“ bezeichnet (Jehle 1996: 38). Sie befasst sich mit der Erforschung der Eigenschaften eines Volks, die sie als dauerhaft und charakteristisch betrachtet und die als „Wesen“, „Wesensmitte“ oder „Volkscharakter“ einer Nation bezeichnet werden.

In dieser Arbeit soll die Wesenskunde Eduard Wechsslers dargestellt und seine Beschreibung der französischen und deutschen Wesensart in Esprit und Geist analysiert werden. In dieser 600- seitigen Studie, die vom Romanisten Viktor Klemperer als eines von den „Werken, von denen die stärksten und geschlossensten, die bildsetzendsten Wirkungen ausgehen“ bezeichnet wird, stellt Wechssler antithetisch französisches und deutsches Wesen gegenüber (Klemperer 1963: 70. Posthum veröffentlicht. Original 1933). Die Analyse der in Esprit und Geist beschriebenen Wesensart soll exemplarisch die Methodik von Wechsslers Wesenkunde verdeutlichen.

Zum besseren Verständnis dieser Forschungsrichtung wird im 1. Kapitel ein Überblick über die Entwicklung der Romanistik bis zur Entstehung der Wesenskunde ab dem ersten Weltkrieg gegeben und der politische Hintergrund in der Weimarer Republik dargestellt, der sie prägte. Im dritten Kapitel wird als Grundlage für die Analyse des in Esprit und Geist beschriebenen französischen und deutschen Charaktermerkmale auf die Wesenskunde Wechsslers eingegangen. Im dritten Kapitel folgt die eigentliche Darstellung des Werks. Im vierten Kapitel wird auf die Rezeption und die Wirkungsweise der Wechsslerschen Wesenskunde eingegangen. Eine kurze Zusammenfassung schließen die Arbeit ab.

1. Entwicklung der Romanistik und politischer Hintergrund

1.1 Entwicklung der Romanistik bis 1914

Die Romanistik entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts als wissenschaftliche Disziplin in Deutschland und umfasste die Sprach- und Literaturwissenschaft aller romanischen Sprachen und Literaturen (vgl. Bott 1992: 7f). Nach und nach rückte die Erforschung der romanischen Sprachen als einzelne Philologien in den Mittelpunkt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominierten in den Geisteswissenschaften die Prinzipien positivistischer Wissenschaft, d.h. der Forschungsgegenstand wurde mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht und jeglicher Idealismus und Subjektivismus wurde ausgeblendet (vgl. Ebd.: 10ff).

Die Begründung einer Methodologie der Geisteswissenschaften durch den Philosophen Wilhelm Dilthey um 1900, der sich gegen den Positivismus wandte, führte zu einer „Schicksalswende für das wissenschaftliche Leben in Deutschland“ (Werner Krauss zitiert nach Ebd.: 14). Dilthey geht davon aus, dass keine objektive Wissenschaft möglich sei, da jedes Individuum subjektiv unterschiedliche Erfahrungen der Welt mache und diese nach seinem Willen strukturiere. Dieser Strukturbegriff ist die methodische Grundlage eines Großteils der subjektiv geprägten Kulturkunde, die sich ab 1914 in Ergänzung zur Sprach- und Literaturwissenschaft entwickelte (Ebd.: 14ff). Wechssler schließt sich Diltheys Kritik am Positivismus an und stellt ihn im Vorwort zu Esprit und Geist kontrastiv seiner Wesenskunde gegenüber: „Einzelforschung und strenge Texterklärung [...] wachsen nicht hervor aus Wesenstiefen und werden keinem Jünger wahrhaft helfen. Nur der Gelehrte, der von jedem geistigen Gebilde nachweisen kann, wie es in einer Wesenseinheit gründet [...] ist wahrhaft gründlich“ (Wechssler 1927: VI).

Eine weitere wichtige Entwicklung in den Geisteswissenschaften, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts stattfand, war die Begründung der Phänomenologie durch den Philosophen Edmund Husserl. Wie Dilthey kritisiert Husserl den Positivismus und geht davon aus, dass psychische Gegenstände, die er als „Phänomene“ bezeichnet, sich der objektiven Erkenntnis entzögen. Phänomene könnten deshalb nicht erfasst, sondern nur „erschaut“ werden (zitiert nach Bott 1992: 17). Der phänomenologisch arbeitende Wissenschaftler nimmt die sprachlichen Bezeichnungen zum Ausgangspunkt und ermittelt das Wesen der bezeichneten Phänomene durch subjektives Erlebnis. Trotz der Subjektivität der Sichtweisen ist es Husserls Ziel, eine „strenge Wissenschaft“ zu begründen, indem der Erkenntnis eine rational wissenschaftliche Form gegeben wird (vgl. Bott 1992: 16ff). Eduard Wechssler übertrug die Phänomenologie Husserls, den er als „Theoretiker der neuen Wesensforschung“ bezeichnet, auf die Romanistik und wendete die phänomenologische Methode auf seine Wesenskunde der Franzosen und der Deutschen an (zitiert nach Paff 2005: 176).

1.2 Politische Ereignisse und Auswirkungen auf die Romanistik bis 1933

Das 19. Jahrhundert war von einer Radikalisierung der nationalen Konzeptionen in Deutschland gekennzeichnet. Ab dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 wurde das Bild einer Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland stilisiert. Es fand in der Folgezeit eine scheinbare Verwissenschaftlichung dieser Feindschaft und des Gegensatzes zwischen Deutschland und Frankreich statt, die sich in zahlreichen Veröffentlichungen deutscher Romanisten in dieser Zeit widerspiegelte (vgl. Gross 1980: 11).

Der Konflikt zwischen den beiden Ländern eskalierte 1914 mit dem Beginn des ersten Weltkriegs. Viele Romanisten sahen sich gezwungen, die Existenz ihres Faches, das sich hauptsächlich mit der Kultur des so genannten „Erbfeinds“ beschäftigte, zu verteidigen. Ein Großteil von ihnen setzte sich aktiv auf wissenschaftlicher Ebene für den Krieg gegen Frankreich ein (vgl. Bott 1992: 30). Gleichzeitig führte der Krieg in Deutschland zu einem verstärkten psychologischen Interesse am Wesen des französischen Nachbarn, da man nun feststellte, dass man bisher ein falsches Bild von ihm gehabt hatte. Dadurch wurde ein Wandel, in der zuvor auf Sprach- und Literaturwissenschaft konzentrierten Romanistik, ausgelöst. Mehrere Wissenschaftler – darunter Wechssler – wandten sich der Ausarbeitung national-charakteristischer Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich zu und begründeten somit die Kultur- und Wesenskunde, die die Romanistik der Weimarer Republik dominieren sollte (vgl. Gross 1980: 12).

Auch nach der Kriegsniederlage des Deutsches Reichs im Jahr 1918 blieb das angespannte politische Verhältnis zu Frankreich bestehen, vor allem aufgrund der Nachwirkungen der Kriegspropaganda und des im Versailler Vertrag festgeschriebenen Mächteverhältnisses. Dieses wurde von den Deutschen als ungerecht empfunden und das Deutsche Reich zielte auf dessen Revision ab (vgl. Bock 2005a: 21ff). Diese konfliktäre Situation prägte auch die Romanistik in den 1920er Jahren, wie Wechsslers Ausruf „Der Krieg geht weiter“ bei einem Vortrag im Jahr 1922 zeigt (vgl. Jehle 1996: 165).

Die Verträge von Locarno, ein 1925 zwischen Frankreich, dem Deutschen Reich und drei weiteren europäischen Staaten abgeschlossener Sicherheitspakt, führten schließlich zu einer Entspannung in den deutsch-französischen Beziehungen. In der darauf folgenden, als Locarno-Ära bezeichneten Zeit, entstanden verstärkt deutsch-französische Verständigungsprojekte mit dem Ziel, den Frieden in Europa zu sichern (vgl. Bock 2005a: 24f). Obwohl Wechsslers Werk Esprit und Geist durch ein sehr negatives Frankreichbild geprägt ist, enthält es Elemente, die das auf Versöhnung abzielende „Geistige Locarno“ der 1920er Jahre widerspiegeln (Bock 2005a: 25). So schreibt Wechssler zum Beispiel im Vorwort von Esprit und Geist: „Wie lange soll es noch dauern, daß der Bürger irgend eines Staats indem er Hass und Abscheu weiterpflanzt, seiner vaterländischen Pflicht zu genügen meint?“ (Wechssler 1927: IX).

Mit dem Wahlsieg der Nationalsozialisten 1930 und dem dadurch wachsenden Misstrauen Frankreichs gegenüber Deutschland trat der Konflikt zwischen den beiden Nationen wieder stärker in den Vordergrund (gl. Bock 2005a: 26). Welchen Einfluss die Herrschaft der Nationalsozialisten auf die Romanistik hatte und welche Rolle die Wesenskunde in dieser Zeit spielte, wird in Abschnitt 4.3 dargestellt.

Nach dieser Übersicht über die Entwicklung der Romanistik ab dem 19. Jahrhundert und den politischen Kontext, in dem die Wesenskunde entstand, soll nun im nächsten Kapitel Wechsslers Wesenskunde vorgestellt werden. Dabei wird zuerst auf den biographischen Hintergrund des Romanistens eingegangen, da dieser zum Verständnis der von ihm entwickelten Wissenschaft beiträgt.

2. Die Wesenskunde Wechsslers

2.1 Biographischer Hintergrund Wechsslers

Eduard Wechssler wurde 1869 in Ulm geboren. Er studierte in Tübingen, Heidelberg und München klassische, romanische, germanische und orientalische Philologie. Der Philologe spezialisierte sich auf die Romanistik und promovierte in Halle über die romanische Marienklage des Mittelalters und habilitierte über den altfranzösischen Lancelot-Gral-Prosaroman. Wechssler lehrte von 1903 bis 1920 als Professor für Romanistik in Marburg und forschte in dieser Zeit vor allem im Bereich der Mediävistik und der modernen französischen Literatur, für deren Anerkennung als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand er sich einsetzte (vgl. Geisler 1949: 60).

Mit Ausbruch des ersten Weltkriegs begann Wechssler völkerpsychologische Studien über das Wesen der Franzosen und der Deutschen zu verfassen. Er sah es als Aufgabe der Wissenschaft an, sich ganz in den Dienst der Nation zu stellen (vgl. Bott 1992: 108). 1915 veröffentlichte er die Studie Die Franzosen und wir mit dem Ziel, anhand der neueren französischen Literatur den Hass Frankreichs gegenüber Deutschland darzulegen, und nachzuweisen, dass Frankreich die alleinige Kriegsschuld trage (Wechssler 1915). Diese Kriegspropagandaschrift Wechsslers ist eines der ersten romanistischen Werke, das sich mit der französischen Wesensart auseinandersetzt und wurde von Viktor Klemperer als „die erste bewusst und rein ‚kulturkundliche’ Studie, den wirklichen Anfang einer neuen Disziplin“, der systematischen Wesenskunde, bezeichnet (Klemperer 1961: 54. Posthum veröffentlicht. Original 1933). In diversen Kriegsvorträgen rief Wechssler zur Bekämpfung des französischen Feindes durch sprachwissenschaftliche Forschung auf, die zur Erkenntnis seines Charakters beitragen sollte: „Diese Wortforschung soll dem deutschen Neuphilologen und jedem deutschen Wehrmann zeigen, wo der geistige Feind sitzt, den er bekämpft“ (zitiert nach Hausmann 2000: 53). Es ging Wechssler also darum, den Charakter der Franzosen zu erkennen, um zu ihrer Besiegung beizutragen.

Ab 1920 war Eduard Wechssler bis zu seiner Emeritierung Direktor des Romanischen Seminars der Universität Berlin, woran seine wichtige Position innerhalb der deutschen Romanistik deutlich wird. Von 1921 bis 1924 war der Romanist Autor der Preußischen Jahrbücher in denen er Frankreich-kritische Aufsätze veröffentlichte, die laut Michel Grunewald vor „negativen Stereotypen strotzen“ (Grunewald 1992: 375). 1926 erschien sein Lesebuch zur Wesenskunde Frankreichs. L'Esprit français (Wechssler 1926), ein Schulbuch für den Französischunterricht in Deutschland, womit Wechsslers Wesenskunde erstmals an deutschen Schulen gelehrt wurde.

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Details

Titel
Die französische Wesenskunde von 1914 bis 1933 am Beispiel Eduard Wechsslers Esprit und Geist
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Interkulturelle Europa- und Amerikastudien )
Veranstaltung
Kulturmittler und -institutionen im deutsch-französischen Kontext
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
22
Katalognummer
V145415
ISBN (eBook)
9783640560516
ISBN (Buch)
9783640560707
Dateigröße
528 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wesenskunde, Beispiel, Eduard, Wechsslers, Esprit, Geist
Arbeit zitieren
Susanne Held (Autor:in), 2006, Die französische Wesenskunde von 1914 bis 1933 am Beispiel Eduard Wechsslers Esprit und Geist, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145415

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