Die größte Gruppe der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Migranten sind die türkischen Arbeitsmigranten. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen ist in dieser Bevölkerungsgruppe sehr hoch.
In der amerikanischen Soziologie sind Migranten schon früh zum Forschungsthema geworden. Im Mittelpunkt des Interesses standen Fragen nach der Assimilation und Integration, abweichendem erhalten und ethnischer Identität. In der deutschen Soziologie entstand dieser Forschungsschwerpunkt erst nach der Anwerbung der Gastarbeiter (ab 1955). Auch hier wurden ähnliche Fragen bearbeitet. Die Forschung orientiert sich dabei oft an den kulturellen und politischen Leitbildern westlicher Gesellschaften. (Beispielsweise in wiefern die Eingliederung gelingt.)
Auch die Jugendforschung hat sich in den letzten 20 Jahren zunehmend mit ausländischen Jugendlichen beschäftigt. Hier stehen vor allem Problemkonstellationen im Vordergrund. Dabei wird generell von einer strukturellen Benachteiligung und von einer Gefährdung der Identitätsbildung ausgegangen. Die Jugendlichen wachsen zwischen zwei Kulturen auf. Zum Teil müssen sie deshalb mit sehr gegensätzlichen Erwartungen umgehen. Hypothesen gehen von einer hohen Wahrscheinlichkeit für Kulturkonflikte aus. Aber auch Generationenkonflikte scheinen sehr wahrscheinlich, da die Jugendlichen stärker von den Werten des Aufnahmelandes geprägt werden als ihre Eltern.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen die Generationenbeziehungen in türkischen Migrantenfamilien in der Bundesrepublik Deutschland. Das Ziel ist die Determinanten, die die Eltern-Kind-Beziehungen beeinflussen zu beschreiben.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Familienform
2. Erziehungsziele
3. Geschlechtsrollenverständnis
4. Bezugsgruppen und Freizeit
5. Generationenkonflikte
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die größte Gruppe der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Migranten sind die türkischen Arbeitsmigranten. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen ist in dieser Bevölkerungsgruppe sehr hoch.
In der amerikanischen Soziologie sind Migranten schon früh zum Forschungsthema ge- worden. Im Mittelpunkt des Interesses standen Fragen nach der Assimilation und Integration, abweichendem Verhalten und ethnischer Identität. In der deutschen Soziologie entstand dieser Forschungsschwerpunkt erst nach der Anwerbung der Gastarbeiter (ab 1955). Auch hier wurden ähnliche Fragen bearbeitet. Die Forschung orientiert sich dabei oft an den kulturellen und politischen Leitbildern westlicher Gesellschaften. (Beispielsweise in wiefern die Ein- gliederung gelingt.)
Auch die Jugendforschung hat sich in den letzten 20 Jahren zunehmend mit ausländischen Jugendlichen beschäftigt. Hier stehen vor allem Problemkonstellationen im Vordergrund. Dabei wird generell von einer strukturellen Benachteiligung und von einer Gefährdung der Identitätsbildung ausgegangen. Die Jugendlichen wachsen zwischen beziehungsweise in zwei Kulturen auf und müssen deshalb teilweise mit sehr gegensätzlichen Erwartungen umgehen. So nimmt man an, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für Kulturkonflikte besteht. Aber auch Generationenkonflikte scheinen sehr wahrscheinlich, da die Jugendlichen stärker von den Werten des Aufnahmelandes geprägt werden als ihre Eltern.
Im Mittelpunkt dieser Hausarbeit stehen die Generationenbeziehungen in türkischen Migrantenfamilien in der Bundesrepublik Deutschland. Das Ziel ist es die Determinanten, die die Eltern-Kind-Beziehungen beeinflussen zu beschreiben.
Zur Beschreibung der Familienform (1. Kapitel), der Erziehungsvorstellungen (2. Kapitel)
und des Geschlechtsrollenverst ä ndnisses (3. Kapitel) werden die Normen und Werte der Herkunftskultur aufgegriffen, da die Sozialisation der ersten Generation in dieser Kultur stattgefunden hat. (Bei Arbeitsmigranten liegt keine grundsätzliche Ablehnung ihrer eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Werte vor. Im Gegenteil: Viele planten eine Rückkehr in ihr Heimatland und wollten daher ihren Werten treu bleiben.)
Im 4. Kapitel (Bezugsgruppen und Freizeit) steht die Jugendphase im Mittelpunkt. In dieser Lebensphase gewinnt neben den Eltern die Gleichaltrigengruppe an Bedeutung. Deshalb werden die Gleichaltrigengruppe und die Einstellungen der Eltern charakterisiert. Im 5. Kapitel geht es um die Generationenkonflikte in türkischen Migrantenfamilien.
Vorab wird darauf hingewiesen, dass sich die Kapitel 1.-4. auf Migrantenfamilien beziehen, die aus einer ländlichen Region der Türkei kommen. Ihre Einstellungen und Handlungen sind daher von traditionellen Werten geprägt. Für Familien aus städtischen Regionen gelten die folgenden Ausführungen daher nur teilweise. Die Studie in 5. Kapitel bezieht sich auf eine Stichprobe, die verschiedene Herkunftsregionen enthält. Unter den zitierten Forscherinnen und Forschern sind Deutsche, aber auch Türken sowie türkische Migranten und Migrantinnen, da Untersuchungen und Einschätzungen anderer Kulturen immer von eigenen kulturellen Leitbildern beeinflusst werden.
1. Familienform
Eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes (1996 zit. n. Lajios 1998: 9) zeigt, dass 72,9 % der in Deutschland lebenden Ausländer in den Familienverband eingebunden sind. Bei den Deutschen sind es 53,4 %.
Für türkische Migranten in Deutschland ist die Familie der Lebensmittelpunkt. Die Einstellung zu Familie und familiären Rollenbeziehungen wird wesentlich durch die eigenen Eltern geprägt. Das heißt, dass die Familienstrukturen und Binnenbeziehungen weitgehend durch die Sozialisation in der Türkei vermittelt sind.
Nach der Migration in Deutschland entwickeln sich Familienbeziehungen und Erziehung vor diesem Hintergrund und unter Rückgriff auf die kulturellen Handlungsmuster1, über die man verfügt. Während in Deutschland vom Funktionsverlust der Familie gesprochen wird und neben neuen Familien- auch neue Lebensformen entstehen, „erlebt der Familienverband unter den Migranten eine Renaissance“ (Lajios 1998: 9). Zur vorhandenen Familienorientierung kommt hier wahrscheinlich in besonderem Maße Prozesse der Identitätsstiftung und Identi- tätsbehauptung in der Fremde hinzu.
Die meisten Migrantenfamilien kommen aus ländlichen, traditionellen Gebieten der Türkei. Einige sind bereist innerhalb der Türkei in Städte gewandert. (Akgün 1993: 57; Özkara 1991: 93) Die Familienform in ländlichen Regionen ist die Großfamilie. Sie weist eine hohe Ge- burtenrate auf und besteht häufig aus Drei-Generationen-Haushalten. Die türkische Familie kann als patriarchisch und hierarchisch charakterisiert werden. Es besteht eine Rangfolge: Der Vater ist die unangefochtene Autorität in der Familie. Ihm folgen die Mutter und dann die Kinder. Der Status der Frau ist generell niedrig. Es herrscht strikte Arbeitsteilung. Die Unter- scheidung zwischen den Geschlechtsrollen ist eine geltende Norm. Viele Entscheidungen trifft der Mann alleine, wozu er befugt ist. In sehr traditionellen Familien verdrängt ein er- wachsener Sohn seine Mutter in der Familienhierarchie. (Kagitcibasi/Sunar 1997: 151; 156f.; Akgün. 1993: 58)
Die Binnenbeziehungen der Familie sind geprägt durch eine gemeinschaftliche oder kollektivistische Orientierung (vgl. Triandis 1990 zit. n. Kagitcibasi/Sunar 1997: 146). Es besteht eine „Kultur der Verwandtschaft“ (ebd.). Die Loyalität der Familie gegenüber ist wichtiger als die individuellen Interessen. So kann der Einzelne sich auf die Unterstützung der Familie verlassen, wird aber auch stark kontrolliert. Es bestehen gegenseitige finanzielle Ab- hängigkeiten der Familienmitglieder, aber auch starke emotionale Bindungen, die auch bei finanzieller Unabhängigkeit erhalten bleiben (vgl. Sunar 1988 zit. n. Kagitcibasi/Sunar 1997: 154, 157).
Im Aufnahmeland trifft dieses Familienverständnis auf andere Familienmodelle und Lebens- formen, die in der modernen Industriegesellschaft entstanden sind. Insbesondere die Autoritäts- und Rollenbeziehungen haben sich in Deutschland in den letzten 50 Jahren extrem gewandelt. Der Status der Frau hat sich erhöht. Die geschlechtsspezifische Rollen- und Arbeitsteilung egalisiert sich. Die Familienstruktur ist die der (isolierten) Kernfamilie mit niedriger Geburtenrate. Die Binnenbeziehungen werden beeinflusst von Werten wie Un- abhängigkeit, Selbstverwirklichung und Individualität, deren Bedeutung zunimmt und die die Erziehungsziele in Deutschland mitbestimmen. Permissivität charakterisiert den Umgang mit den Kindern. An die Stelle von autoritären Strukturen („Befehlshaushalt“) ist im Modernisierungsprozess der „Verhandlungshaushalt“ getreten (vgl. Bois-Reymond: 1998).
In Aufnahmeland sind durch den Nachzug der Angehörigen und Geburten Familienverbände entstanden. „Sie sind ein Stabilitätsfaktor, ein maßgeblicher Sozialisationsträger, ein Vermittler der heimatlichen Kultur und Identitätsstifter.“ (Lajios 1998: 9)
Im Bezug auf den feststellbaren Wandel nach der Migration sind das Absinken der Geburtenrate und die bessere Ausbildung der Töchter zu nennen. Nauck (1990: 95f.) erklärt das Absinken der Geburtenziffern bei türkischen Migranten mit dem Rational-Choice-Ansatz als Auswirkung der veränderten „Opportunitätenstruktur“. (Siehe 2. Kap.) Der Besitz von vielen Kindern führt im Aufnahmeland zu steigenden ökonomischen und psychologischen Kosten, während der Nutzen durch nachlassende ökonomische Beiträge der Kinder sinkt. Der Geburtenrückgang ist demnach nicht durch die Einflüsse der westlichen Kultur, sondern durch den niedrigeren Nutzen verursacht.
In einigen Familien ist nach der Migration ein deutlicher Rückbezug auf die Werte und Normen des Heimatlandes festzustellen. Dazu gehören z.B. auch die Rückbesinnung auf den Islam und die Betonung der eigenen Ethnie. Oft findet dabei eine starke Idealisierung des Heimatlandes statt. Der Rückzug auf die eigene Ethnie2 wird als Reaktion auf Dis- kriminierung gedeutet (Auernheimer 1990: 230; Nieke 1991: 16). Nieke (1991: 16) geht davon aus, dass sie hinter der „offensiven Präsentation von Ethnizität“ nicht unbedingt die Überzeugung des Eigenwertes der Kultur ausdrückt. Vielmehr geht es um eine „Abgrenzung zur Profilierung des Selbstbildes“ (Münchmeier 2000: 248). Nieke verweist auf Goffmans Konzept des offensiven Stigmata-Managements. Nach Neumann (1980: 183, zit. n Özkara 1991: 100) korrelieren die beiden traditionellen Orientierungsmuster Religiosität und Be- harren auf patriarchalische Familienstrukturen.
2. Erziehungsziele
Die Erziehungsziele in den ländlichen, traditionellen Regionen der Türkei und in der Bundesrepublik unterscheiden sich, wie bereits angedeutet, sehr stark voneinander. Im Aufnahmeland wandeln sich die Erziehungsziele kaum. Es wird weiterhin großer Wert auf Respekt, Ge- horsam und kollektive Orientierung gelegt.
Die Erziehungsziele sind geprägt durch den Wert, der Kindern beigemessen wird und die Erwartungen, die an sie gerichtet werden.
Die Hauptbefunde aus den Studien zum Wert der Kinder3 (value of the children=VOC) (Hoffmann 1973; 1982; 1987; Kagitcibasi/Esmer 1980; Kagitcibasi 1982; 1982a; 1982b zit. n. Nauck 1990: 87ff.; Kagitcibasi/Sunar 1997: 146ff.) zeigen folgende Gründe für den Kinder- wunsch in der Türkei und in der Bundesrepublik. Die Ergebnisse beruhen auf repräsentativen Querschnittsdaten, die in acht Staaten4 durchgeführt wurden. Die Türkei weist unter den er- hobenen Staaten bei den Gründen für den Kinderwunsch die höchste ökonomisch- utilitaristische (Nutzen-) Erwartung in intergenerative Beziehungen (finanzielle Hilfe, finanzielle Unterstützung im Alter, Hilfe im Alter) auf. Die hohe Geburtenrate wird als Folge dieser Nutzenorientierung interpretiert. Mehr Kinder - insbesondere Söhne - vergrößern den Wohlstand einer Familie.
Die Werte der Bundesrepublik Deutschland liegen auf der anderen Seite dieser Spanne. Hier sind die ökonomisch-utilitaristischen Erwartungen an die Kinder gering. Der Kinderwunsch ist an überdurchschnittlich hohe psychologische (Nutzen-)Erwartungen geknüpft. Hier steht die Freude an Kindern und sie aufwachsen zu sehen im Mittelpunkt. Türkische Eltern äußern eine geringere psychologische Nutzenerwartung.
Auch die Erziehungsziele wiesen unterschiedliche Orientierungen auf: Während in der Türkei Gehorsam als wichtigstes Erziehungsziel gilt, hat Deutschland die höchste Zustimmung von allen Staaten zur Selbständigkeit als Erziehungsziel. Hier wiederum liegt die Türkei im unteren Bereich. (Kagitcibasi 1982a, 1984 zit. n. Kagitcibasi/Sunar 1997; Nauck 1990: 94) Diese Ergebnisse werden durch eine weitere Frage in der VOC-Studie gestützt. Eltern wurden befragt, welche positiven Eigenschaften sie sich bei ihren Kindern am meisten wünschten. Am häufigsten wurde in der Türkei Gehorsam mit 60% genannt. Unabhängigkeit und Selbst- bewusstsein wurden mit 18 % am seltensten genannt (Kagitcibasi/Sunar 1997: 153).
In der Handlungspraxis kann man davon ausgehen, dass diese Wünsche zu einer Erziehung führen, die Gehorsam fördert beziehungsweise verlangt und Autonomie unterdrückt (ebd.). Die Vergleiche der VOC-Studie zeigen, dass in den Gesellschaften, in denen die Bedeutung von Kindern für die Altersversorgung besonders wichtig war, Gehorsam ebenfalls als be- sonders wichtig eingestuft wurde. Das liegt daran, dass bei gehorsamen Kindern davon aus- gegangen werden kann, dass sie später ihren Eltern gegenüber loyal sein werden, während unabhängige Kinder bevorzugt ihre eigenen Interessen verfolgen werden. (Kagitcibasi/Sunar 1997: 153f.)
Für die in Deutschland lebenden Türken könnte das bedeuten, dass der Gehorsam nicht mehr so stark gefordert wird, wenn die Eltern nicht so sehr auf die finanzielle Unterstützung an- gewiesen sind. Tatsächlich scheint aber oft das Gegenteil der Fall zu sein. Kagitcibasi/Sunar (ebd.) gehen auch dort, wo die materielle Abhängigkeit der Generationen innerhalb der Türkei sinkt, nicht davon aus, dass sich der Wert des Kindes und die Erziehungsziele in Richtung westlicher Werte wandeln.
Der Respekt vor Autoritäten spielt in der Erziehung türkischer Kinder weiterhin eine be- deutende Rolle. Erwachsene, insbesondere ältere Erwachsene, Männer und Väter, sind unan-greifbare Autoritätspersonen.
[...]
1 Der Begriff „Kultur“ bezeichnet hier Denk-, Auffassungs- und Wahrnehmungsstrukturen, die dem Menschen dienen sich mit der Welt auseinanderzusetzen und seine Handlungspräferenzen abzuleiten. Menschen sind „Träger“ einer Kultur, wenn sie deren „Benutzer“ sind. (Vgl. Goetze 1987: 68f.)
2 Interessant ist, dass es hier Unterschiede zwischen den türkischen Jugendlichen der zweiten Generation und anderen Gastarbeiter-Nationen gibt (vgl. Esser u.a. 1986). Die Shell Jugendstudie bestätigt beispielsweise einen Unterschied zwischen italienischen und türkischen Jugendlichen. Bei den türkischen Jugendlichen spielt die Ethnizität eine größere Rolle bei der Freizeitgestaltung als bei den italienischen Jugendlichen. Letztere sind stärker integriert. (Münchmeier 2000: 235)
3 [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]
4 Befragte Staaten: Türkei, Thailand, Korea, Philippinen, Taiwan, Singapur, USA, Bundesrepublik Deutschland.
- Arbeit zitieren
- Karin Tilch (Autor:in), 2002, Eltern-Kind-Beziehungen in türkischen Migrantenfamilien in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145427
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