Warum sollten sich Ethnologen mit dem Phänomen ‚Gedächtnis’ auseinandersetzen? Die Antwort hierauf gibt Ralf Ingo Reimann (1998: 149):
„Die unabdingbare Voraussetzung für Informationsverarbeitung ist Gedächtnis. Gedächtnis ist die Fähigkeit, Informationen für mehr oder weniger lange Zeitabschnitte bewahren zu können. Ohne die Möglichkeit, Informationen zu erhalten, gäbe es kein Leben und keine Evolution, keine sinnvolle Objekt- oder Situationswahrnehmung, kein konzeptuelles Verstehen, keine Sprache, keine Kultur und auch keine Identität. (...) Ohne Gedächtnis könnten wir keine Erfahrungen machen. (...) Ohne Gedächtnis könn- ten wir auch nicht denken, denn ohne erinnerbare Schemata, Konzepte und Kategorien gäbe es keine lohnenswerten mentalen Repräsentationen. (...) Die Welt wäre ein einziges Rauschen und das Gehirn vielleicht ein Klumpen Porridge, aber keinesfalls mehr ein Gehirn.“
Das Gedächtnis ist demnach eine zentrale, wenn auch in der ethnologischen Forschung relativ neue Erscheinung, der man sich widmen sollte, wenn man die Denk- und Handelsweisen eines Volkes begreifen will. Zunächst möchte ich in dieser Arbeit klären, WIE die Informationen verarbeitet und gespei- chert werden, die unseren Wissensbestand ausmachen und somit auch unsere Identität und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und Gesellschaft. Dann gilt es als zentrale Frage zu klä- ren, WO dieses Wissen produziert und gespeichert wird. Ist unser Gedächtnis eine reine ‚Kopfsache’ oder kann man es irgendwo außerhalb des Gehirns, sogar außerhalb unseres Körpers verorten? Schließlich soll auch beantwortet werden, WER entscheidet, an was wir uns erinnern und was in Vergessenheit gerät. Liegt diese Entscheidung beim Individuum oder beim Kollektiv, in dem es sich befindet?
Um Antworten auf die genannten Fragen zu finden werde ich Ansätze aus Kognitions- und Kulturwissenschaften aufzeigen, welche die Funktionsweisen und Eigenschaften des Phänomens ‚Gedächtnis’ zu erklären versuchen. Anhand eines Beispiels aus Australien werde ich zeigen, wie Gedächtnis sowohl im Kopf als auch außerhalb dessen, und zwar in der Landschaft, verortet wird. Auch die Frage, ob eher Individuum oder Kollektiv über die Art und Weise sowie den Inhalt unserer Erinnerung entscheiden, soll hier geklärt werden.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Gedächtnis
- Das Gedächtnis liegt im Kopf: Theorien aus der Kognitionswissenschaft
- Das Gedächtnis liegt außerhalb des Kopfs: Theorien aus Soziologie und Kulturwissenschaft
- Landschaft
- Die Landschaft als „Bühne“ für den Körper
- Der Körper als Teil einer dynamischen Landschaft
- Landschaft und Gedächtnis bei den Yolngu in Nord-Australien
- Landschaft als Kosmologie und Lebensweg
- Das Gedächtnis: im Kopf und in der Landschaft
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Hausarbeit befasst sich mit der Frage, wie Gedächtnis in ethnologischer Forschung verstanden werden kann. Sie untersucht, wie Informationen verarbeitet und gespeichert werden und wie diese Prozesse mit der menschlichen Identität und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zusammenhängen. Insbesondere wird die Frage nach dem Ort des Gedächtnisses – im Kopf oder außerhalb des Körpers – beleuchtet. Die Arbeit analysiert verschiedene Theorien aus Kognitions- und Kulturwissenschaften, um diese Frage zu beantworten.
- Die Funktionsweisen und Eigenschaften des Gedächtnisses
- Die Rolle des Kollektivs in der Gestaltung des individuellen Gedächtnisses
- Der Einfluss von Landschaft auf das Gedächtnis
- Die Verortung des Gedächtnisses im Kopf und außerhalb des Körpers
- Das Verhältnis von Individuum und Kollektiv in Bezug auf Erinnerung und Vergessen
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel 2: Gedächtnis
Dieses Kapitel stellt verschiedene Theorien zur Funktionsweise des Gedächtnisses vor. Es werden Ansätze aus der Kognitionswissenschaft beleuchtet, die die Informationsverarbeitung in drei Phasen (Encodieren, Speichern, Abrufen) unterteilen und die Bedeutung neuronaler Netzwerke und mentaler Repräsentationen hervorheben. Außerdem wird die Schematheorie diskutiert, die abstrakte Modelle zur Organisation von Wissen im Gedächtnis beschreibt.
Kapitel 3: Landschaft
Dieses Kapitel untersucht verschiedene Landschaftskonzepte. Es wird zwischen einem statischen Verständnis von Landschaft, wie es in der westlichen Kultur verbreitet ist, und einem dynamischen Verständnis unterschieden, das für das regionale Beispiel in Nord-Australien relevant ist. Hierbei wird die Landschaft als ein aktiver und lebendiger Raum betrachtet, der mit dem Körper und dem Gedächtnis in Beziehung steht.
Kapitel 4: Landschaft und Gedächtnis bei den Yolngu in Nord-Australien
Dieses Kapitel beleuchtet die Rolle der Landschaft im Gedächtnis der Yolngu in Nord-Australien. Es wird gezeigt, wie die Landschaft sowohl als Kosmologie als auch als Lebensweg verstanden wird und wie sie mit dem Gedächtnis der Menschen eng verbunden ist.
Schlüsselwörter
Gedächtnis, Kognitionswissenschaft, Kulturwissenschaft, Soziologie, Kollektives Gedächtnis, Landschaft, Kosmologie, Yolngu, Nord-Australien, Identität, Zugehörigkeit.
- Quote paper
- Carolin Duss (Author), 2007, Unser Gedächtnis - reine Kopfsache?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145742