Bewegung und Sprache

Bewegungsorientierte Sprachförderung im Elementarbereich - Theoretische Begründungen und Praxisbeispiele


Hausarbeit, 2008

26 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Theoretische Begründungen für eine bewegungsorientierte Sprachförderung und deren Implikationen

2. Bewegung
2.1 Bedeutung von Bewegung
2.2 Aspekte von Bewegung

3. Sprache
3.1 Bedeutung von Sprache
3.2 Förderungsrelevante Aspekte der Sprache
3.3 Sprachentwicklungsauffälligkeiten

4. Wie kann Sprache durch Bewegung gefördert werden?
4.1 Fördermöglichkeiten
4.2 Spiele

5. Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die menschliche Sprache ist eine spezifische Kommunikationsfähigkeit, die bei allen bekannten Kommunikationsformen anderer Erdbewohner ihresgleichen sucht. Sie ist ein Kulturgut, für dessen Übernahme fast jedes Menschenkind ausgeprägte Lernfähigkeit mitbringt. Sprache ermöglicht Kommunikation, und dies scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Darüber hinaus beeinflusst Sprache die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen und schafft damit wiederum Voraussetzungen für erweiterte Lernfähigkeit, neues Wissen und noch mehr Kultur!

Außerdem setzt eine erfolgreiche Laufbahn durch das deutsche Schulsystem mit einem darauffolgenden erfolgreichen Eintritt in den deutschen Arbeitsmarkt eine ausreichende Sprachfähigkeit voraus, welche in Nordrhein-Westfalen seit März 2007 durch den sog. Delfin 4-Test bei vierjährigen Kindern überprüft wird.

Sprache folgt komplexen konventionellen Regeln und funktioniert durch diese Regeln innerhalb einer Sprachgemeinschaft mehr oder weniger gut. Um sich verständlich zu machen und um verstanden zu werden, muss man sich weitestgehend an die Regeln halten. Es wäre gewagt aber berechtigt, zu behaupten, dass ein Mensch auch ohne sprechen zu können überleben würde. Damit Kinder sich jedoch besser verständlich machen können, damit sie gut verstanden werden, damit sie ihrem Bedürfnis nach Kommunikation und Beziehungsaufbau nachgehen können, damit sie an der Kultur der Menschheit teilhaben können, damit ihnen alle Möglichkeiten und Freuden, die Sprache bietet, offen stehen, sollten sie in ihrer Sprachentwicklung Unterstützung erfahren. Außerdem werden sie auf diese Weise ein Stück begleitet auf ihrem Weg in Richtung Schulfähigkeit.

Diese Arbeit geht nicht von einer defizitären Betrachtungsweise von Kindern und kindlicher Entwicklung aus. Schon der Säugling ist ein äußerst kompetentes Wesen, welches mit den beiden wichtigsten Fähigkeiten, der Wahrnehmungs- und der Lernfähigkeit, ausgestattet ist. Aus diesem Grund sollten die Menschen darauf vertrauen, dass jedes Kind mit seinen persönlichen Selbstbildungspotentialen in der Lage ist, sich in seinem eigenen Tempo und individuellen Rhythmus zu entwickeln.

Die Umwelt spielt eine ebenso große Rolle, da Lernen sich in ihr und durch sie vollzieht. Leider können sowohl Anlagebedingungen als auch Umweltfaktoren die gesunde und Freude bereitende Entwicklung eines Menschen behindern. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass es für eine lustvolle individuelle Entfaltung und ein genussreiches und glückliches Leben mit den gegebenen Anlage- und Umweltbedingungen der Beziehung zu anderen Menschen, der Interaktion mit ihnen und an manchen Stellen auch der Unterstützung und Intervention durch sie bedarf.

Konventionelle Sprachfördereinheiten für Kinder wollen mit gezielt eingesetzten Spielen ihre individuellen und aktuellen Schwierigkeiten beim Sprechen aufgreifen und Abhilfe schaffen. Im Folgenden wird dargestellt, dass Bewegung auf vielfältige und komplexe Weise wichtig für die Sprachentwicklung ist. Es ist daher wünschenswert, durch eine verstärkt bewegungsorientiert gestaltete Sprachförderung die Kinder auf effektivere Weise in ihrer Sprachentwicklung begleiten zu können.

Diese Arbeit stellt theoretische Begründungen für eine bewegungsorientierte Sprachförderung zusammen (Teil 1). Nach einer kurzen Vorstellung von Bedeutung und relevanten Aspekten sowohl von Sprache (Teil 2) als auch von Bewegung (Teil 3), wird versucht, die beiden Bereiche in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Daraus sollen sich Fördermöglichkeiten ableiten und konkrete Spiele entwickeln lassen (Teil 4). Das Fazit beinhaltet weitere wichtige Perspektiven und soll so den Gesamtblick auf die Thematik abrunden (Teil 5).

Im Rahmen dieser Arbeit wird kein diagnostisches oder therapeutisches Wissen über Sprachheilverfahren verwendet. Auch wenn sich Therapie und Förderung schwer voneinander abgrenzen lassen, beziehen sich die hier dargelegten Überlegungen auf eine allgemeine Sprachförderung und nicht auf eine Therapie expliziter Störungen.

1. Theoretische Begründungen für eine bewegungsorientierte Sprachförderung und deren Implikationen

Im Folgenden werden empirische Befunde, kleinere Studien und theoretische Überlegungen zusammengestellt, aus denen sich vorläufige Aussagen zum Zusammenhang zwischen Bewegung und Sprache und deren Entwicklung ableiten lassen. Um den Leser in die Vielfalt der möglichen Dimensionen dieser Aussagen einzuführen, bilden detaillierte Fragestellungen den Ausgangspunkt: Gibt es Verbindungen zwischen Sprache und Bewegung? Stehen die sprachliche und die motorischen Entwicklung in einem Zusammenhang? Wenn ja, wie?

Gemeinsamkeiten

Zuvorderst muss nach Gemeinsamkeiten bei Bewegung und Sprache gefragt werden. Gemein ist beiden Fähigkeiten, dass sie ihren Entstehungsort im Körper haben. Ł Was bedeutet das? Es ist vermutlich sinnvoll, eine ganzheitliche Förderung einzusetzen, welche besonders die körperlichen Aspekte berücksichtigt. Körperliche Aspekte sind unter anderem Wohlbefinden, Wahrnehmungen und Bewegung. Gemein ist beiden Bereichen weiterhin, dass sie Ausdrucksmittel sind. Mit beiden Formen können Intentionen und Gefühle ausgedrückt werden. Etwas „auszudrücken“, ist mindestens eine metaphorische Bewegung, die ihren Ausgangspunkt im Körperinneren hat und etwas aus ihm heraus nach außen befördert. Ein Mensch sendet allein durch seine Körperhaltung eine Menge selbstoffenbarender Signale. Diese Anspannung der Muskeln, aber auch Gestik, Mimik oder der Gang sind Teil der sogenannten nonverbalen Kommunikation. Da die Körpersprache nie unterbrochen werden kann, treten also verbale und nonverbale Kommunikation immer gemeinsam auf. Ł Was bedeutet das für die Begründung einer bewegungsorientierten Sprachförderung? Da sowohl Bewegung als auch Sprache Ausdrucksmittel sind, ist zu vermuten, dass sie sich gegenseitig bedingen und/oder unterstützen. Dies bekräftigt die Überzeugung, dass eine effektive Sprachförderung immer Handeln, Spiel und Bewegung miteinbeziehen sollte, da sie die verbale Sprachproduktion initiieren und begleiten.

Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass ein Mensch sowohl durch Bewegung als auch durch Sprache auf seine Umwelt Einfluss nehmen kann. „Sprache und Bewegung haben also eine expressive, als auch eine instrumentelle Funktion“[1] Ł Für die Sprachförderung bedeutet das, dass auch diese gemeinsame Funktion als Anlass für ein ganzheitliches Vorgehen genommen und für Spiele mit synergetischen Effekten genutzt werden kann.

Voraussetzungen

Sind Bewegung und Sprache auf ähnliche Anlage- und Umweltbedingungen für ihre erfolgreiche Entwicklung angewiesen? Jeder Bereich ist natürlich auf die Funktionstüchtigkeit der für ihn wichtigen Organe und Körperteile angewiesen. Einige Organe sind für beide Bereiche vonnöten, zum Beispiel Gehirn, Herz und Lunge. Andere Körperteile spielen verstärkt für den jeweiligen Bereich eine Rolle, zum Beispiel Arme und Beine für Bewegung, Lippen und Zunge für Sprache. Das Ohr könnte ein verbindendes Element zwischen Bewegung und Sprache darstellen, da es sowohl die auditive als auch die vestibuläre Wahrnehmung beherbergt. Ł Um mit einer bewegungsorientierten Sprachförderung zu beginnen, sollte selbstverständlich vorher abgeklärt werden, ob eine organische Störung vorliegt, besonders des Bewegungsapparates, der Sprechwerkzeuge, des Ohrs und der anderen Sinne.

Beide Bereiche sind Entwicklungsbereiche, das heißt, es findet immer ein Lernprozess im Wechselspiel zwischen Anlage- und Umweltfaktoren statt. Günstig sind natürlich möglichst bewegungs- und sprachfreundliche Umweltfaktoren. Doch welche sind das? Ł Gibt es Faktoren, die gleichermaßen bewegungs- als auch sprachanregende Qualitäten besitzen? Denkbar wären das Umgehen mit Material im sozialen Kontext oder sprachlich begleitete Bewegungsspiele. Zimmer stellt in ihrer Expertise „Möglichkeiten einer Begegnung von Bewegungs- und Sprachhandlungen“[2] tabellarisch dar. Sie beschreibt, dass über Bewegung sprachliche Begriffe erfahren werden können. Zum Beispiel werden über das Laufen Begriffe wie schnell und langsam, weit und nah unterschieden und „in ihrer Bedeutung erfahren“[3].

Sind Bewegung und Sprache auf die erfolgreiche Entwicklung anderer Bereiche angewiesen? Für beide Bereiche ist eine kreuzmodale Wahrnehmung erforderlich, das heißt, mehrere Sinnesmodalitäten kommen gleichzeitig zum Einsatz. Daher ist anzunehmen, dass grundsätzliche Wahrnehmungsfähigkeit und Informationsverarbeitung Voraussetzung für beide Bereiche sind. An kindlicher Entwicklung wird deutlich, dass sich in dem Maße, in dem sich die Wahrnehmungsverarbeitung verbessert und im dem der Erfahrungsschatz reicher wird, sich Bewegungsabläufe ausdifferenzieren und sich sprachliche Komplexität erhöht. Affolter schreibt, dass „Wahrnehmungsprozesse die Grundlage jeglichen Lernens dar[stellen]“[4]. Ł Dies kann für die Sprachförderung nur bedeuten, dass eine dauerhafte Wahrnehmungsschulung für Kinder, die in diesem Bereich Schwierigkeiten haben, grundsätzlich von Vorteil für ihre Gesamtentwicklung ist. Jedoch wirkt sich eine solche Förderung nicht prinzipiell auf alle Bereiche positiv aus. Grammatikalischen Schwierigkeiten oder einem geringern Wortschatz beispielsweise muss sich anders genähert werden.

Bewegung und Wahrnehmung sind Voraussetzung für die Entwicklung anderer Bereiche Beeinflussen beide Bereiche die Entwicklung anderer Bereiche? Sowohl Bewegung als auch Sprache beeinflussen auf starke Weise das Denken. Man könnte sagen, dass Bewegung das Denken initiiert, welches auf einer späteren Entwicklungsstufe durch Sprache revolutioniert wird.

Nach der Theorie von Piaget hat ein Säugling noch keine Vorstellungen, Verinnerlichungen oder gar Symbole im Kopf, mit denen er flexibel denken könnte. In diesem Stadium vollzieht sich das Denken im konkreten Handeln, das heißt, die hauptsächliche geistige Tätigkeit des Säuglings sind die sensomotorische Wahrnehmung und deren Verarbeitung und Speicherung zu Wahrnehmungserfahrungen. Nach häufiger Wiederkehr ähnlicher Situationen und Wiedererkennen dieser durch den Säugling, verinnerlicht er nach und nach Wahrnehmungen und eigene Handlungen. Mit diesen Verinnerlichungen wird dann das Denken losgelöst von aktuellen Situationen möglich. Piaget beschreibt den Übergang von der Bewegung zum Denken folgendermaßen: „Die verinnerlichten Handlungen, die das Denken ausmachen, müssen nun zunächst einmal in ihrem konkreten Vollzug beherrscht werden. Sie erfordern ein System effektiver, materieller Handlungen. Denken heißt u.a. ordnen, gleichsetzen, vereinen oder trennen usw. All diese Operationen muss man jedoch ausgeführt haben, bevor man in der Lage ist, sie geistig zu vollziehen. (...) Es bedarf einer langen Übung der konkreten Handlungen, um die Teilstrukturen des späteren Denkens zu entwickeln“[5] Das bedeutet, dass ausreichende Bewegungserfahrungen die Grundlage für das Denken darstellen. Auch Zimmer schreibt: „Aus lernpsychologischer und neurophysiologischer Sicht bilden Wahrnehmung und Bewegung die Grundlage kindlichen Lernens. Die zunehmende Differenziertheit des Gehirns beruht auf den Wachstumsreizen, die von den Sinnesorganen ausgehen.“[6] Es ist anzunehmen, dass sinnvolle Kommunikation auf diesen kognitiven Strukturen beruht. Das heißt, um etwas auszudrücken, braucht es Denkschemata, die verbalisiert werden können. Vielleicht ist es u.a. deshalb so schwierig, Gefühle zu verbalisieren, weil diese erst in Denk-Muster übersetzt warden müssen. Ł Was bedeutet das konkret für eine Sprachförderstunde? Es ist sinnvoll, auf die Ausdruckfähigkeit der Kinder zu achten. Können sie das, was in ihrem Kopf vorgeht, verständlich und zeitnah ausdrücken? Übungen können ihnen dabei helfen, kleine Begebenheiten zu schildern, Wünsche und Bedürfnisse deutlich zu machen, Gefühle und Vorstellungen zu verbalisieren.

Sprache hingegen ist Voraussetzung für die erfolgreiche Weiterentwicklung des Denkens. Ihr kommt sogar eine überragende, revolutionierende Bedeutung zu, den „Durch die Aneignung der Sprache werden alle grundlegenden geistigen Aktivitäten neu organisiert und auf einem höheren Niveau integriert“[7] Durch die Verwendung eines Symbols für einen Gegenstand werden gewisse Besonderheiten, die den Gegenstand charakterisieren, abstrahiert und verallgemeinert. Die Symbolbildung und deren tägliche Verwendung strukturiert also die Gegenstände und Vorgänge auf neue Art und Weise. „Das Wort verändert die Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit, die Orientierung, die Kommunikation und das Wissen bzw. die Vorstellungen von Welt; es führt über diese Veränderungen zu einer aktiven Strukturierung der Umwelt.“[8] Ł Dieser Aspekt betont noch einmal die Wichtigkeit der Sprachentwicklung und könnte, wenn er gut in eine Förderstunde integriert wird, starken Einfluss auf die Motivation der Kinder nehmen. Wenn Kinder dazu angeregt werden, sich beispielsweise Phantasiegeschichten auszudenken und zu erzählen, werden sie mit Sicherheit enormen Spaß an ihren mentalen Fähigkeiten finden.

Neben der kognitiven Entwicklung beeinflusst Bewegung auch die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes. Der Körper ist das Medium des Ichs. Durch den Körper nimmt das Kind sich selbst wahr. Und mit diesem Körper identifiziert es sich. Das Kind definiert seine Persönlichkeit über Empfindungen, die es mit seinem Körper macht. Dazu zählen auch körperliche Anstrengungen und Leistungen im Spiel und im Sport. „Aus entwicklungspsychologischer Sicht haben Körpererfahrungen für das Kind eine wichtige identitätsbildende Funktion.“[9] Mit der Persönlichkeitsentwicklung gehen außerdem Aspekte der emotionalen Entwicklung und der Gesundheit einher. Bewegung ist allerdings nur ein Aspekt, der auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes Einfluss nimmt. Interaktion mit anderen Menschen und dabei stattfindende Spiegelprozesse spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Ł Für eine Sprachförderung ist es daher wichtig, die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder durch einen liebe- und respektvollen Umgang positiv zu beeinflussen. Denn die Persönlichkeit wirkt sich auf das Bewegungs- und Sprachverhalten von Kindern aus. Nur in einer Umgebung, in der sich Kinder wohlfühlen, können erfolgreiche Lernprozesse, ausgelassene Bewegungsspiele, kreative und flexible Sprachproduktion stattfinden und positive Erfahrungen gesammelt werden.

Wechselbeziehungen

Bestehen Wechselbeziehungen oder Überschneidungen zwischen den beiden Bereichen? Sprechen ist eine Bewegung! Sprechen wäre nicht möglich, wenn nicht Muskeln das Atmen und das feine motorische Zusammenspiel von Zunge, Lippen, Kiefer und Kehlkopf ermöglichten. Auch Stutzkowsky resümiert: „Am deutlichsten ist die Verbindung von Sprache und Bewegung wohl am eigentlichen Sprechakt, an der Artikulationsmotorik, erkennbar.“[10] Und andersherum werden „über das kinästhetische Sinnessystem die eigenen Sprechbewegungen wahrgenommen“[11] Ł Besonders bei Kindern mit Artikulationsschwierigkeiten ist ein Trainieren der feinmotorischen Fähigkeiten der Sprechwerkzeuge hilfreich. Es muss jedoch vorher geklärt werden, ob die Artikulationsschwierigkeiten nicht durch eingeschränkte auditive Wahrnehmung oder kognitive Behinderung ausgelöst werden.

Bewegung und Sprache können auf neurophysiologischer Ebene zwar als zwei Systeme lokalisiert werden, sie sind aber durch andere Systeme miteinander verbunden und können komplexe Aufgaben nur eng zusammenarbeitend bewältigen. Es ist offensichtlich, dass sowohl für Bewegung als auch für Sprache Wahrnehmung, Bewegung und Emotion bedeutend sind. Folglich spielen sensorische und motorische Bereiche im Großhirn und das limbische System im Hirnstamm eine verbindende Rolle für die Hirnregionen von Bewegung und Sprache.[12] Zimmer berichtet von Studien, bei denen eine Korrelation zwischen Defiziten in der Motorik und gestörter Sprachfähigkeit aufgefallen ist[13], und hat selbst ebenfalls eine Studie mit dieser Fragestellung durchgeführt. Ihr Fazit lautet wie folgt: „Der erwartete positive Zusammenhang dieser beiden Entwicklungsbereiche kann auf Grund der vorliegenden Ergebnisse bestätigt werden“[14]. Auch Stutzkowsky weist auf die „enge neurophysiologische Verknüpfung der Hände mit den Artikulationsorganen“[15] hin. Ł Für die Sprachförderung könnte das bedeuten, dass ein Lernen in Gesamtzusammenhängen nicht nur den Alltagsanforderungen entspricht, sondern auch der Arbeitsweise des Gehirns entgegenkommt. Es könnte weiterhin bedeuten, dass Spiele, welche die Feinmotorik fördern, auch zur Sprachentwicklung beitragen. Sprache kann helfen, sich Körperzustände bewusst zu machen. Sprache kann Handlungs- und Bewegungsanweisungen geben. Sprache kann Körperteile benennen (Substantive), Körperzustände beschreiben (Adjektive), Bewegungen bezeichnen (Verben) und Kausalzusammenhänge wiedergeben („Ich bin müde, weil ...“). Zimmer schreibt dazu: Die „körperlichen Erlebnisse ... stehen nicht immer ausdrücklich im Mittelpunkt der Bewegungshandlungen, oft laufen sie unbewusst ab. Deswegen kann es manchmal sinnvoll sein, sie – sprachlich – zu reflektieren und sich dadurch ihrer überhaupt erst einmal bewusst zu werden.“[16] Ł Durch entsprechende Bewegungen sind die dazugehörigen Begriffe erfahrbar. In einer Förderstunde könnte der Schwerpunkt jedoch ebenfalls einmal darauf gelegt werden, Sprache als ein Mittel der Bewusstwerdung zu erleben. Da jeder Mensch permanent in seinem Körper steckt, ist er sich dessen größtenteils nicht direkt bewusst. Sprache kann die Aufmerksamkeit auf unbewusste Körpervorgänge wie die Atmung, die Haltung, die Spannung etc. lenken. Die tiefgreifendste Wechselbeziehung zwischen Bewegen und Sprechen wird in der Ge- staltkreistheorie nach Viktor von Weizsäcker hypothetisiert. Bei diesem Modell wird angenommen, dass Bewegung und Wahrnehmung auf der einen Seite, Denken und Sprechen auf der anderen jeweils einen Kreis bilden. Das bedeutet, dass aus Bewegung Wahrnehmung resultiert und umgekehrt; und dass Denken das Sprechen initiiert und umgekehrt. Diesen beiden Kreisen übergeordnet steht das begreifende Ich, welches durch die besagten vielseitigen und sich abwechselnden Prozesse zur Erkenntnisgewinnung gelangt. Olbrich bringt es treffend auf den Punkt, indem sie schreibt: „Im begreifenden Ich werden die Gestaltkreise ‚Denken und Sprechen’ und ‚Bewegen und Wahrnehmen’ zusammengefasst, sie bedingen und aktivieren sich gegenseitig, beeinflussen sich und treiben sich an.“[17] Auch Zimmer nimmt diese Theorie in ihre Überlegungen auf und beschreibt den Vorgang so: „Beide Gestaltkreise stehen nicht in direktem Kontakt, sondern werden vom Subjekt zum Zwecke des Erkenntnisgewinns und der Exploration miteinander koordiniert.“[18] Affolter misst Wahrnehmung und Bewegung ebenfalls einen hohen Stellenwert bei, erklärt diese beiden Elemente jedoch für die Wurzel, von denen alle „Leistungen der verschiedenen Entwicklungsstufen ... abhängig“[19] sind. Auch die Psychomotorik schließt mit ihrem Bereich der Körpererfahrungen die Sinneswahrnehmung mit ein.[20] Ł Was bedeutet das für die Sprachförderung? Antwort auf diese Frage soll ein Zitat von Olbrich geben, welche ihr Modell der Integrierten Sprach- und Bewegungstherapie folgendermaßen kommentiert:

„In unserer Kultur werden Kinder durch institutionelle Erziehung viel zu früh mit abstraktem Lernmaterial konfrontiert, die Entwicklung der ... Sinne auf diesem Weg depriviert und die Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt. Die Integrierte Sprach- und Bewegungstherapie wendet sich gegen diese Paper-Pencil-Pädagogik und die Rücknahme auf den visuellen Kanal als Zugang zur Welt und versucht, durch handelnde Auseinandersetzung mit konkretem Material ... die Erfahrungsmöglichkeiten spielend zu erweitern.

... Fortschritte ... von Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit setzen das Potential im sprachlichen Bereich ebenfalls frei: Die Kinder werden sprachlich spontan, äußern sich frei und problem- oder ichbezogen; die vor der Aufnahme in die Therapie beobachtete Symptomatik wie Dyslalie, Dysgrammatismus, Redeflussstörungen bauen sich häufig ohne direkte Beeinflussung der Sprache ab.“[21]

Diese Beschreibung würde sogar den Schluss zulassen, dass Sprachauffälligkeiten durch unvorteilhafte Lern- und Rahmenbedingungen verursacht oder zumindest begünstigt würden. Die bewegungsorientierte Sprachförderung trägt eigentlich nur diesen Namen, weil sie ein wichtiges Element natürlichen, ganzheitlichen Lernens hervorheben will, um so auf das Fehlen desselben in institutionellen Konzeptionen hinzuweisen.

2. Bewegung

2.1 Bedeutung von Bewegung

Bewegung ist eine grundlegende und lebenswichtige Fähigkeit des Menschen. Bewegung besteht aus vielfältigen Aspekten und steht im Zusammenhang mit anderen wichtigen Fähigkeiten des Menschen.

Bewegung bedeutet Aktivität! Die erste Assoziation der meisten Menschen bei dem Wort Bewegung ist wahrscheinlich „Sport“. Doch abgesehen von den Sportarten, bewegen wir uns fast immer, jeden Tag! Das ganze Leben besteht aus Bewegung. Auch einfache Handlungen sind Bewegung: Gehen, Hochheben, Aufdrehen, etc. Hinzukommt, dass der menschliche Körper vielfältigste Bewegungsformen vollführen kann: Springen, Rutschen, Tanzen, etc. Diese Bewegungsformen können variiert und kombiniert werden. Für Kinder ist das Spielen und Erkunden die primäre Bewegungsform. Bewegung bedeutet also Handeln, Spielen und Sport.

Bewegungen lösen immer und unmittelbar Gefühle aus! Jede Bewegungsform kann ein andersartiges Gefühl verursachen. Wie ist es zum Beispiel, Karussell zu fahren? Wie ist es, jemanden zu umarmen? Auch Handeln kann eine unendliche Fülle von Gefühlen erlebbar machen. Die Dinge, mit denen die Menschen umgehen, haben eine Bedeutung für sie. Handeln bewirkt Veränderung in der umliegenden Welt und die Wirkungen, die ein Mensch verursacht, wirken auf ihn selbst zurück. Beziehungen zu bestimmten Menschen, Dingen oder Orten bedeuten den Menschen viel. Und Beziehungsaufbau erfolgt durch Interaktion. Das kindliche Spielen und Erkunden sind auch Handlungen, mit denen Kinder täglich neue und aufregende Dinge erleben.

Die Verbindung zwischen Gefühlen und Bewegung besteht auch reziprok. Gefühle machen etwas mit dem Körper, sie bringen dort etwas in Bewegung. Im Deutschen gibt es die Ausdrücke „Was bewegt dich?“, „Das berührt mich.“, „Das trifft mich tief.“ oder „Das haut mich vom Hocker.“ Auf diese Weise ist der Bereich der Bewegung eng mit den Aspekten Erleben, Wahrnehmung und Körpererfahrung verbunden.

Bewegung bedeutet Beziehungsaufbau! Interaktion findet durch Bewegung statt und ist Grundstein des Beziehungsaufbaus. Geben und Nehmen, Wiegen und Pflegen sind Aktionen, durch die ein Säugling erste Beziehungen zu seiner Umwelt und seinen Eltern aufbaut. Die neue Erzieherin spielt mit dem Kind, damit sich beide kennenlernen und sich eine vertrauensvolle Beziehung zwischen ihnen entwickelt. Durch Bewegung findet außerdem ein Sich-in-Bezug-Setzen zur dinglichen Umwelt statt. Während des Umgehens mit Gegenständen und Materialien bewertet ein Kind deren Qualitäten z.B. als angenehm oder unangenehm, aufregend oder langweilig und positioniert sich somit selbst in Bezug auf seine Umwelt z.B. durch Beziehungsmerkmale wie „Gefällt mir.“, „Möchte ich mehr von haben.“, „Sollte mir nicht noch ein mal passieren.“.

Bewegung bedeutet Wahrnehmung und Erkenntnisgewinnung! Bewegung ermöglicht vielfältigste Wahrnehmungserfahrungen. Ein Säugling kann sich einen Gegenstand näher anschauen (visuell), den er sich herangezogen hat. Er hört (auditiv) die Rassel, die er mit seinem Händchen in Bewegung versetzt. Er ertastet (taktil) die weiche und warme Haut der Mutterbrust. Er fühlt sich auf eine beruhigende Art und Weise gehalten (emotional), während die Mutter ihn wiegt (vestibulär). Er fühlt die eigenen Bewegungen beim Strampeln (kinästhetisch). Ein Kind verarbeitet und speichert alle Informationen aus den Sinneserfahrungen, welche die Grundlage jeden Wissens sind. Bewegung hat also eine rezeptive und eine explorative Funktion.

[...]


[1] Zimmer, S. 21.

[2] Zimmer, S. 23ff.

[3] Zimmer, S. 23

[4] Affolter: Wahrnehmung, Wirklichkeit und Sprache. Villingen-Schwenningen, 1987. Zit. in Zimmer, S. 13

[5] Piaget: Probleme der Entwicklungspsychologie. Frankfurt, 1976. S. 16. Zit. in: Aupperle, S. 142

[6] Zimmer, S. 5.

[7] Luria/Judowitsch: Die höheren corticalen Funktionen des Menschen und ihre Störungen bei örtlichen

Hirnschädigungen. Berlin, 1970. Zit. in: Aupperle, S. 211

[8] Aupperle, S. 211.

[9] Zimmer, S. 5.

[10] Stutzkowsky, S. 81.

[11] vgl. Wiedenmann: Handbuch Sprachförderung mit allen Sinnen. Weinheim, 1997. Zit. in Zimmer, S. 13.

[12] vgl. Neuhäuser: Neurophysiologische Aspekte von Bewegung und Sprache. In: Irmischer, S. 13ff

[13] siehe Zimmer, S. 13

[14] Zimmer, S. 19.

[15] Stutzkowsky, S. 79.

[16] Zimmer, S. 23.

[17] Olbrich: Die Integrierte Sprach- und Bewegungstherapie. In: Grohnfeldt (Hrsg.), S. 254

[18] Zimmer, 12.

[19] Affolter, S. 187. Vgl. auch Kapitel 3.2 Das Entwicklungsmodell, S. 186f.

[20] siehe bspw. bei Zimmer, S. 6.

[21] Olbrich: Die Integrierte Sprach- und Bewegungstherapie. In: Grohnfeldt (Hrsg.), S. 256

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Bewegung und Sprache
Untertitel
Bewegungsorientierte Sprachförderung im Elementarbereich - Theoretische Begründungen und Praxisbeispiele
Hochschule
Universität zu Köln  (Humanwissenschaftliche Fakultät)
Veranstaltung
Rhythmik, Sport, Psychomotorik
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
26
Katalognummer
V145959
ISBN (eBook)
9783640567317
ISBN (Buch)
9783640567140
Dateigröße
1009 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bewegung, Sprache, Sprachförderung, Elementarbereich, Kindergarten, Bewegungsspiele
Arbeit zitieren
Anna Bachem (Autor:in), 2008, Bewegung und Sprache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145959

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