Das Attentat Friedrich Adlers auf Ministerpräsident Stürgkh


Hausarbeit, 2007

29 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Paragraph 14

3. Der Täter: Friedrich Adler und seine Entwicklung hin zum Attentat

4. Das Opfer: Karl Graf Stürgkh

5. Das Attentat

6. Erste Reaktionen nach der Tat

7. Die Voruntersuchung und Reaktionen bis Prozessbeginn

8. Prozess und Urteile

9. Begnadigung, Haftentlassung und Friedrich Adlers Zeit danach

10. Fazit

11. Bibliographie.

1. Einleitung

Politische Attentate können als historische Ereignisse gesehen werden, „in denen lange aufgestaute Spannungen aufbrechen und Kräfte sich melden, die den Gang der Geschichte aufzuhalten oder zu beschleunigen versuchen.“[1]

Als der Sozialdemokrat Friedrich Adler den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Reichsgraf Stürgkh im Wiener Restaurant „Meißl und Schadn“ am 21. Oktober 1916 um 14.45 Uhr mit drei Schüssen aus einer Browning-Pistole niederstreckte, fiel diese Tat in die sowohl außen- als auch innenpolitisch sehr turbulente und brisante Phase des ersten Weltkriegs.

Im Zuge der folgenden Arbeit sollen zentrale Aspekte des Attentates wie Ursachen, Umstände und Reaktionen näher untersucht werden. Bevor aber auf die eigentliche Tat eingegangen wird, werden in den ersten Kapiteln die angespannte innenpolitische Situation und die restriktive Politik basierend auf dem Paragraphen 14, der Täter Friedrich Adler und seine Entwicklung hin zum Attentat und sein Opfer Karl Graf Stürgkh näher beleuchtet, um in den folgenden Kapiteln Tat, Untersuchungshaft, Prozess und Urteile zu erläutern.

Weitere Untersuchungsgegenstände werden die Reaktionen der Presse und der Öffentlichkeit auf die Tat und die sich in der Folge des Prozesses verändernde Meinung sein. In der Herangehensweise an den Forschungsgegenstand wird die gesamte Zeitspanne vom Attentat über den Prozess bis hin zur Haftentlassung Adlers als geschlossene Einheit betrachtet.[2]

Der Autor ist sich dabei der Tatsache bewusst, dass im Rahmen einer Arbeit von dieser Kürze das Thema keinesfalls erschöpfend behandelt werden kann, hofft aber einen guten Einblick in das behandelte Feld zu geben.

2. Paragraph 14

Aus staatsrechtlicher Perspektive war der Reichsrat zwar das Parlament, doch konnte von dort aus kein rechtlicher Einfluss auf die Regierungsbildung oder Regierungspolitik geltend gemacht werden, von einem Misstrauensvotum ganz zu schweigen. Die Kompetenzen des Reichsrates waren auf die Budgetbewilligung für die cisleithanische Reichshälfte und auf die Aktivitäten in der Legislative begrenzt. Die Zuständigkeit für Regierungsgeschäfte lag bei den Mitgliedern des Ministerrats und beim Monarchen, welcher zudem in der Lage war den Reichsrat einzuberufen und aufzulösen und auch zeitlichen Auftakt, Vertagung und Schluss der Reichsratskonferenzen festlegen konnte.[3]

Zusätzlich erschwerten die defizitären Einflussnahmen und das mangelnde Gewicht gegenüber den politischen Entscheidungen der Regierung eine wirkliche Differenzierung zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen. Die Mehrheitsfindungen des Kabinetts im Reichsrat gestalteten sich durch diesen Umstand schwierig. Für den Fall, dass Mehrheiten über einen längeren Zeitraum nicht erreicht werden konnten, existierte die Option den Reichsrat aufzulösen und die Regierung durch Notverordnungen weiterzuführen.[4]

Die Rechtsbasis dieser Bestimmung, die vor allem ab der Obstruktionskrise 1897 immer häufiger als Drohgebärde und als eines der zentralen Druckmittel des Kabinetts in Richtung des Parlaments zum Einsatz kam, bildete Paragraph 14 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867. Dadurch wurde es der Regierung erlaubt, „in Zeiten, in welchen der Reichsrat nicht versammelt war, mittels kaiserlicher Verordnungen, welche provisorische Gesetzeskraft hatten, Maßnahmen zu erlassen, wenn die dringende Notwendigkeit solcher Anordnungen vorlag und solche keine Abänderung des Staatsgrundgesetzes bezweckten.“[5]

Nachdem bereits das von 1907 bis 1911 bestehende Kabinett Bienerth in seinen letzten Amtsmonaten diese Möglichkeit zu nutzten wusste, fand die „§ 14-Praxis“ während der Regierung Stürgkh ihre häufigste Anwendung. In der Folge brachte das Kabinett Stürgkh das Parlament in ausschlaggebenden Momenten durch die wiederholte Androhung und Praktizierung der Anwendung §14 in starke Bedrängnis. Die Folge war nicht nur der konsequent beschleunigte Verfall des parlamentarischen Systems in der cisleithanischen Reichshälfte, sondern auch die Etablierung eines zunehmend autoritären Regimes. Diese Tendenz verstärkte sich bereits während der ersten Phase von Stürgkhs Amtszeit. Sein Kalkül wurde bereits im Sommer 1911 offensichtlich, als er zum Kaiser sagte, „daß man das Experiment einer parlamentarischen Regierung neuerlich machen müsse, schon um vor der Öffentlichkeit zu zeigen, daß es mit einer Parteienregierung in Österreich nicht geht.“[6]

Mit der zeitweißen Sistierung der böhmischen Landesverfassung und der Auflösung des dortigen Landtages am 26. Juli 1913, vermochte es Stürgkh sich die tschechischen Obstruktionen, besonders für eine phasenweiße Abkehr von der Verfassungsordnung des Jahres 1867, zu Nutze zu machen. Die am 16. März 1914 durchgeführte Vertagung des Reichsrates bildete die letzte Station von Stürgkhs kalkulierten Maßnahmen.[7]

Die Haltung der Parlamentsfraktionen gegenüber den Maßnahmen Stürgkhs war gespalten. Die Christsozialen und vor allem der Deutsche Nationalverband sympathisierten mit dessen Vorgehen. Die Sozialdemokraten hingegen versuchten zwar ihrem Protest Nachdruck zu verleihen, doch war die SDAP[8] in der Frage weiterer Schritte innerlich gespalten und konnte sich daher nicht zu einheitlichen Maßnahmen durchringen.[9]

So installierte die Regierung Stürgkh noch vor dem eigentlichen Kriegsbeginn teils in Ausübung geltender Gesetze, teils auf kaiserlichen Verordnungen basierend, aufgrund des erwähnten §14 eine Ausnahmegesetzgebung, die eine vollständige Vernichtung bestehender verfassungsmäßiger Rechte und die Verschärfung staatlicher Sanktionierungsmöglichkeiten bedeutete.[10] Bereits in der ersten Woche vom 25. Juli - 31. August 1914 wurden 23 Verordnungen erlassen, bis zur Widereinberufung des Reichsrates am 30. Mai 1917 insgesamt sogar 181.[11]

3. Der Täter: Friedrich Adler und seine Entwicklung hin zum Attentat

Friedrich Adler wurde am 9. Juli 1879 in Wien geboren[12] und war im Moment des erfolgten Attentates auf Karl Graf Stürgkh 27 Jahre alt, verehelicht und Vater von drei Kindern. Als Abkomme des Gründers und damaligen Vorsitzenden der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Viktor Adler, erlebte Friedrich eine Kindheit in großbürgerlichen Verhältnissen. Bereits als heranwachsender Jüngling wird Friedrich reges Interesse für die Politik nachgesagt. Die labile Gesundheit des Sohnes soll einer der Gründe gewesen sein, warum ihn sein Vater versuchte von dieser fernzuhalten.[13]

So studierte Friedrich nach dem Abitur fernab seiner Heimatstadt Wien von 1897 bis 1902 Physik und Mathematik in Zürich und promovierte darauf bei Ernst Mach.[14] Nachdem Friedrich Adler für zwei Jahre eine wissenschaftliche Beschäftigung am Deutschen Museum in München übernommen hatte, versuchte er durch eine Bewerbung für die Stelle eines Extraordinarius für theoretische Physik und zugleich für den Assistenzposten von Ernst Mach auf die Universität Zürich zurückzukehren. Mitbewerber für die Stelle war der ihm bereits während seiner Züricher Studienzeit verbundene Albert Einstein, zu dessen Gunsten Adler seine Bewerbung zurückzog. Dieser Schritt war aber nicht nur auf die wissenschaftlichen Leistungen Einsteins und den dadurch bei Adler hervorgerufenen tiefen Respekt zurückzuführen, sondern auch auf sein verstärktes Engagement in der lokalen schweizerischen Arbeiterbewegung.[15]

Der Leitung des Verbandes der Internationalen Arbeitervereine in der Schweiz im Jahre 1901 ging bereits vier Jahre zuvor die Mitgliedschaft im „Verband der österreichischen Sozialdemokratie in der Schweiz“ voraus. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Gedankengut des gesamten linken Spektrum Europas, das in der Schweiz durch linke Exilanten aus dem ganzen europäischen Kontinent vertreten war, und vor allem eine grundlegende persönliche Analyse des Anarchismus, den er in der Folge grundlegend negierte, bewogen Adler zum Beitritt in eine sozialdemokratische Initiative.[16]

Ab 1898 war Adler als Mitarbeiter für das neu gegründete sozialdemokratische Züricher Blatt „Volksrecht“ tätig, welches er nach seinem wiederholten Aufenthalt in Zürich von 1910 bis 1911 als Chefredakteur leitete.[17] Doch sollte sich diese Beschäftigung in der Folge als persönliche Interimsphase herausstellen, da er bereits im Mai 1911 nach Wien zurückging, um dort seiner neuen Tätigkeit als Parteisekretär nachzukommen.[18] Nichtsdestotrotz blieb er auch weiterhin politisch-journalistisch tätig. So folgten den Beiträgen in den wichtigen sozialdemokratisch theoretischen Blättern „Neue Zeit“ und „Der Kampf“, mehrere Artikel in der „Arbeiterzeitung“. 1912 wirkte er zusätzlich als Herausgeber der alle zwei Wochen veröffentlichten Zeitschrift „das Volk“.[19]

Als Parteisekretär in Wien arrangierte er die SDAP-Kampagne für die Reichsratswahlen im Juni 1911 und wurde mit der Aufgabe betraut, mit dem Büro der Internationale und den internationalen sozialdemokratischen Fraktionen zu korrespondieren. Noch vor dem ersten Weltkrieg wurde ihm deshalb auch die Organisation für den im Sommer 1914 vorgesehenen Kongress der II. Internationalen zugeteilt.[20]

Nachdem der Reichsrat durch die autoritäre Vorgehensweise des Ministeriums Stürgkh und der daraus resultierenden verstärkten Anwendung des § 14 praktisch außer Kraft gesetzt wurde,[21] versuchte Adler vor allem über das Sprachrohr der sozialdemokratischen Zeitungsmedien dagegen anzukämpfen, doch schien er damit auf öffentlicher Front und auch in den Reihen seiner eigenen Partei weitestgehend alleine zu stehen. Auch innerhalb der SDAP isolierte er sich zusehends, da eine von ihm verlangte, vehemente und einheitliche Erklärung der Partei gegen den bevorstehenden Ersten Weltkrieg ausblieb. In der Folge des Kriegsausbruches trug die SDAP zwecks der Burgfriedenspolitik die Bestimmungen der Regierung Stürgkh mit und unterstützte eine kriegerische Auseinadersetzung mit Russland. Friedrich Adler, der sich dieser Parteilinie entzog und diese bereits vor Kriegsanfang aufgrund ihrer Passivität kritisierte, befand das Verhalten der SDAP als „einen Verrat an den Idealen der internationalen sozialdemokratischen Tradition“, an welche er sich nach wie vor definitiv gebunden sah.[22]

Doch die Konzeption der internationalen Solidarität innerhalb der1889 konstituierten Zweiten Internationalen, die sich in mehreren Resolutionen gegen eine potenzielle Kriegspolitik der entsprechenden Nationen zur Lösung der Konflikte am Balkan ausgesprochen hatte, hielt den nationalen Interessen der Mehrzahl ihrer Mitglieder bei Ausbruch des Krieges nicht stand. Die Folge waren größtenteils nationale Burgfriedenspolitikinitiativen, da die Resolutionen im Vorfeld nur vereinzelt, aber nicht effizient und kriegsverhindernd durchgesetzt werden konnten. Die hauptsächlich auf Internationalismus und Pazifismus basierende Haltung Friedrich Adlers fand nun weder international, noch national Gehör.[23]

Dennoch versuchte er auch jetzt noch die eigene Partei etwa während Parteikonferenzen oder mit Artikeln in der Parteipresse von seiner Meinung zu überzeugen. Dieses Vorhaben war aber aufgrund der vorherrschenden Mehrheitsattitüde in der SDAP zum Scheitern verurteilt. Öffentliche Vorträge, wie jener in Zürich am 15. April 1915, fielen zudem der Zensur zum Opfer. Trotz schwieriger Umstände und mehrerer Offerten aus dem Ausland kehrte Friedrich Adler Österreich aber nicht den Rücken, da auch er der allgemeinen Überzeugung war, dass der Krieg nicht von langer Dauer sein würde.[24]

Nachdem am 22. Oktober 1914 im primären parteipolitischen Blatt der SDAP, der „Arbeiter Zeitung“, den nationalen Entwicklungen von Chefredakteur Friedrich Austerlitz innerhalb eines bewusst patriotischen Beitrages besonderes Wohlwollen entgegengebracht wurde, wuchs die Isolation Adlers weiter, da er sich nun dazu bewogen sah, auch hinsichtlich des rasanten Zerfalls der internationalen sozialdemokratischen Parteisolidarität, der Parteiführung seinen Rücktritt vom Posten des Parteisekretärs zu unterbreiten. Obwohl er diese Offerte auf Anraten seiner Vertrauten alsbald wieder zurückzog, führte er in seinen Presseartikeln nun einen noch vehementeren Kampf gegen die Notverordnungspraxis des Ministeriums Stürgkh, griff nun auch offen die Parteiführung an und attackierte damit zugleich seinen Vater Victor Adler. Friedrich Adler war mit seinen Positionen nun zwar auf ein paar Gesinnungsgenossen innerhalb des Vereines „Karl Marx“ isoliert,[25] versuchte seine Kampagne aber dennoch weiterzuführen. Am 20. Oktober 1916 übte er im Zuge einer Ansprache nochmals eine außerordentlich heftige Kritik an der Parteiführung, bevor er einen Tag darauf seine Worte einen Moment lang gegen eine Waffe tauschte.[26]

4. Das Opfer: Karl Graf Stürgkh

Am 30. Oktober 1859 in Graz geboren, entstammte Karl Graf Stürgkh einem alten steiermärkischen Dienstadelsgeschlecht, das „traditionell Beamte und Offiziere stellte.“[27]

Dieser Etikette bewusst oder unbewusst entsprechend entschied sich sein Bruder Josef, der dem Stürgkh-Attentat in seinem Memoiren später gerade mal zwei Seiten widmen wird, für eine militärische Laufbahn bis zum k.u.k.-General, während Karl nach seinem Jurastudium in Graz 1881 als kaiserlich-königlicher Beamter in den Staatsdienst eintrat. Seine Arbeitsweise wurde als „unauffällig aber mit großem Fleiß und Arbeitswillen“[28] beschrieben.

Mit einer nur zweijährigen Unterbrechung bekleidete Karl Stürgkh im Zeitraum von 1891 bis 1907 ein Abgeordnetenmandat im Reichsrat für die Kurie des „Verfassungstreuen Großgrundbesitzes“. Erst durch seine oppositionelle Haltung zur Walrechtsreform gelang es ihm 1907 nicht sein Mandat für das Abgeordnetenhaus zu behalten. Daraufhin berief ihn Kaiser Franz Josef I. noch im selben Jahr in das Herrenhaus. Trotz jahrelangem und fast permanentem Sitz im Abgeordnetenhaus, begann sein politischer Aufstieg erst jetzt. Der Ernennung zum Unterrichtsminister im Jahre 1908 im Kabinett Bienerth, folgte 1911 die Ministerpräsidentschaft und der kaiserliche Auftrag zur Bildung eines Kabinetts.[29]

Offensichtlich war man über die Stürgkh’sche Person geteilter Meinung. Während Standesgenossen und politische Freunde Stürgkh als den kaiserlich loyalen und treu ergebenen Beamten sahen, nannte man ihn in sozialdemokratischen Kreisen nur karikierend „Das Nullerl“.[30] Nicht nur nach Meinung der SDAP prägten andere die tatsächliche Politik der Regierung Stürgkh. Etwa Erzherzog Franz Ferdinand, der österreichische Justizminister Hochenburger oder Außenminister Graf Berchthold. Auch noch während der ersten Phase des Ersten Weltkriegs, als sich die allgemeine Einschätzung über die politische Gewichtung von Stürgkhs Person konsequent änderte, wurde er vor allem in der sozialdemokratischern Presse, bis hin zum Attentat auf seine Person, stark polarisierend dargestellt, etwa als „gut funktionierende Marionette des ungarischen Ministerpräsidenten Tisza.“[31] Das in sozialdemokratischen Medien propagierte Bild Stürgkhs entsprach dabei auch dem Bild Friedrich Adlers, der diesen am ersten Verhandlungstag als „Mann, der mit klarer Absicht und festem unbeugsamen Willen etwas bestimmtes anstrebte, nämlich die Aufrichtung des Absolutismus in Österreich“, beschrieb.[32]

5. Das Attentat

Therese Schlesinger, die sich neben Friedrich Adler als eine der führenden Persönlichleiten des „linken Flügels“ in der SDAP gegen den Krieg aussprach[33] und zurückblickend ein Attentat Adlers schon Ende 1915 befürchtet haben will, schrieb 1923:

„Nichts vermochte das Proletariat aus seiner Stumpfheit zu reißen [...]. Es war tatsächlich zum verzweifeln und Fritz Adler, der all das am tiefsten empfand, sagte mehr als einmal, es müsste in Wien selbst zu Hinrichtungen kommen, damit die Arbeiter endlich begreifen, wohin wir steuern. Einer von uns müsste aufgehängt werden.“[34]

Die Vermutung eines bevorstehenden Attentates ließ Schlesinger wieder fallen als nichts geschah. Überdies konstatierten die Behörden in einem Schreiben des Monats April 1915, „daß die politische Organisation der deutschen sozialdemokratischen Partei […] durch die infolge des Krieges eingetretene Schwächung nahezu zur Untätigkeit verurteilt“[35] ist.

Es war Samstag, den 21. Oktober 1916, als Herr Dr. Friedrich Adler im Anzug gekleidet mit einem im Februar 1915 in Zürich erworbenen und vollgeladenen Browningrevolver sein in der Wiener Sonnenhofgasse gelegenes Appartement am frühen Morgen verließ, um sich zu seinem Arbeitsplatz in der Rechten Wienzeile 97 zu begeben. Im Sekretariat der Sozialdemokratischen Partei angelangt, ging Adler anstehenden Aufgaben nach[36] und setzte sich in telefonischen Kontakt mit seiner Mutter, welcher er seine Absage für das sonst übliche Mittagessen mitteilte.[37]

Von der Arbeit kehrte er daraufhin nochmals in seine Wohnung zurück, um sich von dort aus mit der Straßenbahn um 13.00 Uhr zum Neuen Markt zu begeben. Nachdem er die Schwelle des Hotels „Meißl & Schadn“ überschritten hatte, gelangte er über die Treppe in den Speisaal im ersten Stock des Gebäudes. Da Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh dort nahezu täglich sein Mittagessen zu sich nahm, positionierte sich Adler an einem Tisch gegenüber seiner Zielperson und ließ sich die Identität von Stürgkh nochmalig vom Kellnerpersonal bestätigen. Zum Tisch von Stürgkh gesellten sich in der Folge unerwartet Friedrich Graf Toggenburg, Statthalter von Tirol, und Rittmeister Franz Freiherr Lexa v. Aehrenthal und auch der Tisch direkt hinter der Zielperson war besetzt.[38]

Da Adler es vermeiden wollte Unbeteiligte in Gefahr zu bringen, wartete er noch ab. Nachdem der Tisch hinter Stürgkh bereits um 14.15 Uhr frei wurde, dauerte es noch bis 14.30 Uhr bis der geeignete Moment für die Tat gekommen schien und der Weg zu Stürgkh völlig offen stand.[39] Den Revolver aus seiner Rock-Tasche gezogen, schritt Adler „in etwas beschleunigtem Gange“ an den Tisch Stürgkhs und zielte unmittelbar aus 30 Zentimeter Entfernung viermal direkt auf den Kopf seines Opfers. Drei Schüsse waren tödlich, einer streifte die Schulter. Obwohl Adler in späteren Vernehmungen wiederholt betonte das Attentat mit dem Ausruf „Nieder mit dem Absolutismus, wir wollen Frieden!“[40] ausgeführt zu haben, konnte dies in den späteren Untersuchungen niemand aus den Reihen der bei der Tat anwesenden Zeugen bestätigen.[41]

Da Adler eine Lynchjustiz durch die Anwesenden, vor allem durch anwesende deutsche Offiziere, befürchtete und dies sein Kalkül eines öffentlichen Auftritts bei einem Gerichtprozess zu Nichte gemacht hätte, versuchte er nach ausgeführter Tat den Speisesaal so schnell wie möglich zu verlassen, wurde aber vom Zahlkellner Fruhmann mit Gewalt daran gehindert. Adler wurde von mehreren Anwesenden überwältigt und auf den Boden gerissen. Dort löste sich nun unabsichtlich ein weiterer Schuss, der Rittmeister Aehrenthal in den Fuß traf. Als Adler in den darauf folgenden Momenten einen anstürmenden Offizier mit gezücktem Säbel erblickte, rief er:„Ich stelle mich dem Gerichte; ich heiße Dr. Adler!“[42]

Adler wurde unmittelbar darauf vom anwesenden Polizisten Müller verhaftet, der als einer der beiden für den Schutz von Stürgkh verantwortlichen Polizeiagenten das Attentat nicht verhindern hatte können. Adler wurde vorerst in das Kanzleizimmer des Hotels gebracht, wo er eine Stunde auf seine Abführung ins Polizeigefängnis wartete. Zeugenberichten nach, machte Adler in dieser Zeit einen gefassten und ruhigen Eindruck und tätigte dabei gegenüber dem Polizeipräsidenten folgende Aussage: „Wenn sie wüssten, was wir seit zwei Jahren erlebt haben bis zum Versammlungsverbot! Den Beschluß habe ich gestern gefaßt, als ich hörte, daß die Versammlung für morgen verboten sei.“[43]

Diese Aussage bezog sich auf eine für den 23. Oktober vorgesehene, geschlossene und von Universitätsdozenten organisierte Konferenz, in welcher Abgeordnete aus der Volksversammlung und die Präsidenten des Abgeordnetenhauses hätten Reden halten sollen.[44] Da gleichzeitig die Kritik am autoritären Kurs der Regierung, am Gebrauch des Notverordnungsgesetzes mit § 14 und an der dadurch verursachten zeitweißen Aufhebung des Parlaments immer lauter wurde, ließ Stürgkh diese Versammlung mit der Begründung verbieten, dass diese „keinerlei Relevanz“ habe, und verstärkte gleichzeitig die Pressezensur.[45]

In späteren Verhören gab Adler an, dass er, nachdem er am 20. Oktober von Stürgkhs Vorgehen gegen die Konferenz gehört habe, sich dazu entschlossen hatte, „daß man sich das diesmal unter keiner Bedingung gefallen lassen dürfe und daß jetzt der Moment sei, den langgehegten Plan auszuführen, nämlich den Grafen Stürgkh zu töten.“[46]

Während Adler vom Kanzleizimmer des Hotels ins Polizeigefängnis eskortiert wurde, entgegnete Adler Polizeirat Schober auf die Frage „Was ist Ihnen denn eingefallen?“: „Eingefallen? Können Sie sich nicht in mein Innerstes hineindenken? Ich habe mein Leben in die Schanze geschlagen, um den Zuständen ein Ende zu machen!“[47] Bis zur Ankunft beim Polizeigefängnis erläuterte er Schober im weiteren Gespräch weitere Beweggründe:

„Ich habe schon lange Zeit an die Notwendigkeit, irgendeine befreiende Tat zu verüben gedacht. Unsere Zustände waren eine Schande! Diese Zensur und dieser Widerstand gegen das Parlament. Wegen der Zensur dachte ich zuerst an Hochenburger, dann erschien mir dieser zu unbedeutend, später gab ich den Gedanken auf, als sich die Zensur besserte. In der letzten Zeit reizte mich der Widerstand des Ministerpräsidenten gegen die Einberufung des Parlaments; das Verbot der für den Sonntag anberaumten Versammlung hat den letzten Anstoß gegeben. Da habe ich mich entschlossen, den Ministerpräsidenten zu töten. Ich erwarte meine Verhandlung. Diese Verhandlung wird sehr wichtig sein, dann werden Sie mich verstehen.“[48]

[...]


[1] Alexander Demandt, Das Attentat als Ereignis, in: Alexander Demandt (Hrsg.), Das Attentat in der Geschichte (Suhrkamp Taschenbuch 2936), Berlin – Köln 1999, S. 535 - S. 551.

[2] Zimmermann, Von der Bluttat eines Unseligen. Das Attentat Friedrich Adlers und seine Rezeption in der sozialdemokratischen Presse (Studien zur Zeitgeschichte 19), Hamburg 2009, S. 8f.

[3] Zimmermann, Bluttat, S. 37ff.

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Ebd., S.43ff.

[7] Ebd.

[8] Sozialdemokratische Arbeiterpartei

[9] Zimmermann, Bluttat, S.43ff.

[10] Julius Braunthal,, Victor und Friedrich Adler. Zwei Generationen Arbeiterbewegung, Wien - Wiener Neustadt 1965, S. 192ff.

[11] Zimmermann, Bluttat, S. 40.

[12] Ardelt, Rudolf G., Friedrich Adler. Probleme einer Persönlichkeitsentwicklung um die Jahrhundertwende, Wien 1984, S. 14.

[13] Braunthal, Victor und Friedrich, S. 192ff.

[14] Ebd.

[15] John Zimmermann, Von der Bluttat eines Unseligen. Das Attentat Friedrich Adlers und seine Rezeption in der sozialdemokratischen Presse (Studien zur Zeitgeschichte 19), Hamburg 1996, S, 72f.

[16] Ebd.

[17] Ardelt, Friedrich, S. 200ff.

[18] Braunthal, Victor und Friedrich, S. 201.

[19] Zimmermann, Bluttat, S. 72.

[20] Ebd., S. 73f.

[21] Braunthal, Victor und Friedrich, S. 74f.

[22] Zimmermann, Bluttat, S. 74f.

[23] Braunthal, Victor und Friedrich, S. 213ff.

[24] Ebd., S. 227f.

[25] Wolfgang Maderthaner, Friedrich Adler und Graf Stürgkh. Zur Psychopathologie eines Attentats, In: Maier, Michaela Maier/Wolfgang Maderthander (Hrsg.), Physik und Revolution. Friedrich Adler - Albert Einstein. Briefe - Dokumente – Stellungnahmen, Wien 2006, S.21.

[26] Zimmermann, Bluttat, S. 74ff.

[27] Ebd., S. 40ff.

[28] Ebd.

[29] Ebd.

[30] Ebd.

[31] Ebd.

[32] Wolfgang Maderthaner, Friedrich Adler und Graf Stürgkh, Zur Psychopathologie eines Attentates, In: Michael, Gehler/Hubert Sickinger (Hrsg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, Innsbruck 2007, S. 135.

[33] Das rote Wien - Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie (Hrsg.), Therese Schlesinger, o.D., [http://wien.spoe.at/online/page.php?P=11630&PHPSESSID=d98e765cc3369a0e210af1f38ce19e87], 08.01.09.

[34] Zimmermann, Bluttat, S. 76f.

[35] Ebd.

[36] Braunthal, Victor und Friedrich, S. 229ff.

[37] Maderthaner, Adler und Graf , S. 131ff.

[38] Ebd.

[39] Braunthal, Victor und Friedrich, S. 229ff.

[40] Ebd.

[41] Maderthaner, Adler und Graf, S. 131ff.

[42] Ebd.

[43] Maderthaner, Adler und Graf, S. 134.

[44] Braunthal, Victor und Friedrich, S. 228.

[45] Maderthaner, Adler und Graf, S.134f.

[46] Braunthal, Victor und Freidrich, S. 228f.

[47] Maderthaner, Adler und Graf, S. 134.

[48] Ebd., S. 134f.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Das Attentat Friedrich Adlers auf Ministerpräsident Stürgkh
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck  (Institut für Geschichte und Ethnologie)
Veranstaltung
Politische Skandale und Gewalt in Österreich-Ungarn
Autor
Jahr
2007
Seiten
29
Katalognummer
V146080
ISBN (eBook)
9783640565528
ISBN (Buch)
9783640565221
Dateigröße
478 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Attentat, Attentate, Skandale, Österreich, Ungarn, Friedrich Adler, Adler, Sozialdemokratie, Ministerpräsident, Stürgkh, Paragraph 14, Paragraph, 14, Täter, Opfer, Reaktion, Reaktionen, Untersuchung, Voruntersuchung, Prozess, Urteil, Begnadigung, Haftentlassung, Haft, 1. Weltkrieg, Weltkrieg
Arbeit zitieren
Hubert Feichter (Autor:in), 2007, Das Attentat Friedrich Adlers auf Ministerpräsident Stürgkh, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146080

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