Die Industrialisierung in Rilkes "Sonette an Orpheus"


Seminararbeit, 2009

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Die Maschinensonette
1.1. Sonett 1/XVIII
1.2. Sonett 1/XXIV
1.3. Sonett 2/X

2. Die Position der Sonette zur Industrialisierung
2.1. Spiritualitätsverlust
2.2. Geschichtsverlust
2.3. Naturentfremdung
2.4. Verzweckung und Mechanisierung des Lebens

3. Traditionen der Industrialisierungsdeutung
3.1. Die Mythologie
3.2. Die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts
3.3. Von der Neuromantik zur Neuen Sachlichkeit
3.4. Andere Industrialisierungsdeutungen

Ergebnis

Literatur:

Einleitung

Fritz Martini nennt Rilke "scheinbar zeitfern".[1] Walter Euchner konstatiert "Rilkes Abneigung [gegenüber] gesellschaftlichen Realia".[2] So sind es auch in den Sonetten an Orpheus die überzeitlichen Themen, denen Rilke sich widmet: Tod, Spiritualität, der Kreislauf des Lebens, Harmonie und Schönheit der Natur und die Kunst. Verdeutlich werden diese Themen immer wieder an Orpheus, dem mythischen "Gott mit der Leier" aus Ovids Metamorphosen.

Die Wortwahl der Sonette wird bestimmt von Göttern, Leiern, Blumen und Tempeln. Die Sonette an Orpheus scheinen sich damit in rückwärtsgewandte Traditionen der romantischen und romantisch beeinflussten deutschen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einzuordnen. Ein Zeitgenosse wertete die Sonette an Orpheus so auch als "spätromantische Nachgeburten".[3]

Wie Fremdkörper treten daneben aber im weiteren Verlauf der Sonette Wörter wie Maschine, Apparat, Dampfkessel und Fabrik hinzu, Wörter, die zunächst nicht zu Thematik und Duktus der Sonette und zu ihrer klassisch orientierten Formgebung passen wollen.

Die Maschine steht metonymisch für die Industrialisierung. Sie wird in den Sonetten 1/XVIII und 2/X zentral behandelt. In zweiten Terzett des Sonetts 1/XXIV wird sie ebenfalls angesprochen. Diese drei Sonette möchte ich nach Ernst Leisi Maschinensonette[4] nennen. Durch nähere Betrachtung dieser drei Sonette soll diese Arbeit die dichterische Verarbeitung der Industrialisierung und die Position der Sonette dazu klären.

Ein Überblick über das Technikverständnis der deutschen Literatur vom Beginn der Industriellen Revolution bis zum Zeitpunkt der Niederschrift der Sonette an Orpheus soll hierzu geboten werden, um die Position der Sonette an Orpheus gegenüber der Industrie in die Literaturgeschichte einzuordnen. Da Mythologie und mythologischem Denken in den Sonetten an Orpheus ein besonderer Stellenwert zukommt, unter anderem auch in Bezug zum Thema Maschine, soll das Verhältnis von Mythologie und Industrie angesprochen werden. Geistige Vorbilder und Verwandtschaften bei der Darstellung von Industrie in den Sonetten sollen benannt werden.

Als Primärquelle wurde die Reclam Ausgabe der Sonette an Orpheus von 1997 benutzt.[5] Bei Zitaten aus einzelnen Sonetten wird das Sonett in einer Form angegeben, bei der eine arabische Zahl angibt, ob sich das entsprechende Sonett im ersten oder im zweiten Teil befindet. Die Nummer des Sonetts wird in römischen Zahlen angegeben. Auf eine Quellenangabe über die Angabe des Sonetts hinaus wird im Text verzichtet.

1. Die Maschinensonette

1.1. Sonett 1/XVIII

Mit Sonett 1/XVIII beginnt ein neuer thematischer Abschnitt innerhalb des ersten Teils der Sonette an Orpheus. Stand zuvor der ursprungsbezogene Charakter der menschlichen Kultur im Vordergrund, so widmen sich 1/XVIII und die folgenden sechs Sonette der Kultur der Gegenwart, wobei sie von den beiden Maschinensonetten 1/XVIII und 1/XXIV umrahmt werden.

Hörst du das Neue, Herr,

Dröhnen und Beben?

Kommen Verkündiger,

die es erheben.

Orpheus wird hier als "Herr" angesprochen. Ihm, der für Harmonie steht, wird das Industriezeitalter als im Augenblick der Ansprache hörbares, bebendes, dröhnendes Neues präsentiert, als Lärm und Unruhe. Wer die genannten Verkündiger sind, wird offen gelassen. Sind technikverklärende künstlerische Strömungen der Zeit gemeint, Wissenschaftler oder das rationalistische, utilitaristische Denken im Allgemeinen, das sich im diesem lauten Neuen manifestiert? Ebenso bleibt die Möglichkeit, dass das lyrische Subjekt sich selbst meint, denn im Fortgang des Gedichts wird eine Position für die Maschine eingenommen. Da diese Position jedoch zu vorsichtig und zu sehr relativierend ist, um von einem Erheben zu sprechen, ist diese Möglichkeit unwahrscheinlich.

Zwar ist kein Hören heil

in dem Durchtobtsein

Doch der Maschinenteil

will jetzt gelobt sein.

Zum zweiten Quartett wechselt das Metrum des Gedichts vom Daktylus zum Jambus. Trotz des nun gleichförmigeren, ruhigeren Rhythmus scheinen Lärm und Unruhe noch immer präsent zu sein. Wenn "kein Hören heil" ist, ist die Harmonie, für die Orpheus steht, abwesend. Es herrscht ein "Durchtobtsein", ein bedrohliches Chaos. In dieser negativ dargestellten Situation kündigt das lyrische Subjekt an, zu einem Lob der Maschine, des Urhebers dieser Situation als der Verkörperung des Neuen, ausholen zu wollen. Die Maschine steht in den Sonetten an Orpheus metonymisch für die Industrie. Der hier benutzte Ausdruck Maschinenteil betont nachdrücklich den Zweckcharakter der Maschine. Ein Maschinenteil hat den Zweck "der Maschine, einen schon an sich verzweckten Ganzen, zu dienen - Verzweckung in Potenz".[6]

Sieh, die Maschine:

wie sie sich wälzt und rächt

und uns entstellt und schwächt.

Mit dem Beginn der Terzette wird das Metrum unregelmäßiger und unruhiger.

Statt des angekündigten Lobs wird Orpheus und mit ihm der Leser aufgefordert, ein vom lyrischen Subjekt entworfenes Bild einer Maschine zu betrachten. Deren Tätigkeit besteht im Wälzen, Rächen, Entstellen und Schwächen, also wiederum in bedrohlichen Tätigkeiten. Sie scheint in unguter Absicht näher zu kommen. Die betonten letzten Silben des zweiten und dritten Verses scheinen dieses näher wälzen zu unterstreichen und evozieren maschinelle Bewegung.

Von Lob der Maschine kann bis hierhin keine Rede sein. Die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, der bei Rilke eine Schreibhemmung ausgelöst hatte, die erst zur Zeit des Abfassens der Sonette an Orpheus wieder gewichen war, sprechen aus diesem Bild der wälzenden, rächenden Maschine. Dazu passt auch ihr Entstellen und Schwächen, ein Bild, das sich aber weitergehend auch als umfassende Veränderung menschlichen Daseins durch die Industrialisierung und dem ihr zugrunde liegenden rationalistischen Denken, einer Mechanisierung und Entfremdung des Menschen, deuten lässt.

Hat sie aus uns auch Kraft,

sie ohne Leidenschaft,

treibe und diene.

Das letzte Terzett bringt nun das angekündigte Lob, das allerdings in einer Forderung an die Maschine besteht. Die Maschine soll treiben, also ihrer Aufgabe als Werkzeug des Menschen nachkommen und damit dem Menschen dienen. Diese Forderung ist zugleich auch als Forderung an den Menschen zu verstehen. Er soll verhindern, dass die Industrie sein Leben bestimmt. Ohne Leidenschaft soll nicht nur die Maschine arbeiten, ohne Leidenschaft soll der Mensch sie auch betrachten, anstatt sie, wie es die Verkündiger des ersten Quartetts tun, erheben zu wollen. Sie würde sonst zu einer Kraft, die das Denken und Leben des Menschen bestimmt, ihn ihrem mechanischen Rhythmus unterwirft und ihn so schwächen und entstellen kann.

1.2. Sonett 1/XXIV

Sonett 1/XXIV, das letzte der gegenwartsreflektierenden Sonette im ersten Teil, bemüht Hexameter, um eine Verbindung zur klassisch-griechischen Lyrik herzustellen und eine Vergangenheit zu beschwören in der das Denken mythologisch bestimmt war. Im Vergleich zum zuvor behandelten Sonett fallen so zunächst die größeren Verslängen auf. Ebenfalls auffallend sind die teilweise semantisch willkürlich scheinenden Strophengrenzen.

1/XXIV schließt an zwei Sonette an, in denen die Fliegerei behandelt wurde, wobei in Sonett 1/XXII der technische Fortschritt als "Kleinigkeit im immer Bleibenden" bezeichnet wurde.

Das Sonett 1/XXIV ist als Klage zu verstehen, "Klage unserer zunehmenden Entfremdung von den alten Göttern durch die Technisierung, was sich äußert als Abgehen von den uralten, uns gemäßen Lebensformen".[7]

Sollen wir unsere uralte Freundschaft, die großen

niemals werbenden Götter, weil sie der harte

Stahl, den wir streng erzogen, nicht kennt, verstoßen

oder sie plötzlich suchen auf einer Karte?

Mit den Göttern sind in den Sonetten an Orpheus nicht die Götter einer bestimmten Religion gemeint. Sie stehen vielmehr allgemeiner für Spiritualität, für die geistigen Grundlagen eines geschichtlich, wie auch in der Natur verwurzelten, harmonischen Lebens, das den Tod selbstverständlich einbezieht. Sie bilden den Gegenpol zu rationalistisch und utilitaristisch begründetem Denken, zu Entfremdung.

Die Götter und unsere Freundschaft zu ihnen sind das Uralte, von dem es in 1/XIX heißt: "Wandelt sich rasch auch die Welt / wie Wolkengestalten. / Alles Vollendete fällt / heim zum Uralten", zu einem geistigen Grundfundus, der den Menschen seit Anbeginn der Kultur begleitet. Der erste Vers stellt somit einen Verweis auf 1/XIX und zum "immer Bleibenden" aus 1/XXII dar. Der Stahl, also Technik, und die Karte, auf der wir suchen, also Wissenschaft, zählen im Vergleich dazu - analog zu 1/XIX - zum Unvollendeten oder zu den "Kleinigkeiten", wie es wiederum in 1/XXII heißt.

Gewarnt wird hier vor einem Verlust an Spiritualität im Namen einer Entwicklung, die dem Menschen der Moderne ein sich letztgültig und objektiv gebärdendes Weltbild beschert, das aber, im Rahmen der gesamten Menschheitsgeschichte betrachtet, unbedeutend ist. Ohne Spiritualität droht Geschichtsverlust.

Die Karte, auf der wir unsere uralte Freundschaft, die Götter, suchen wollen, ist ein Werkzeug der rationalistischen, technischen Welt, mit dem wir den Zugang zu einem spirituell begründeten Leben nicht finden können. Der Rationalismus insgesamt entfremdet uns.

Diese gewaltigen Freunde, die uns die Toten

nehmen, rühren nirgends an unsere Räder

Unsere Gastmähler haben wir weit-, unsere Bäder,

und ihre uns lang schon zu langsamen Boten

Die rationalistische Weltdeutung wird hier als nicht geeignet zum Umgang mit dem Tod dargestellt, dessen Entschleierung in 1/XIX als große, alte geistige Aufgabe der Menschheit genannt wird. Um den Tod verstehen zu können bedarf es Transzendenz und Spiritualität.

In II/XVI heißt es: "wenn der Gott ihm schweigend winkt, dem Toten // Uns wird nur das Lärmen angeboten", wobei das Lärmen wiederum mit Rationalismus und technischem Fortschritt gleichgesetzt werden kann, mit dem "Dröhnen und Beben" aus 1/XVIII, während der Tod in die Sphäre des Spirituellen gehört.

Die Räder, an die die Götter nicht rühren, sind nicht klar zu deuten. Sind alle Räder gemeint, dann wirft das die Frage auf, an welchen Punkt der Technikskeptizismus der Sonette beginnt. Bei der Erfindung des Rads? In Berufung auf vorrationalistisches, mythisches Denken ergäbe dies Sinn. Vielleicht beziehen sich die genannten Räder aber eher auf Zahnräder, die wiederum für das Industriezeitalter stehen können.

Die Boten des letzten Verses stellen die Verbindung zur Spiritualität her. Ihre Langsamkeit steht im Kontrast zur Schnelligkeit, vor der in I/XXII gewarnt wird. Die Geschwindigkeit des Technikzeitalters verhindert unseren Blick hin zu den Urgründen des Lebens.

überholen wir immer. Einsamer nun auf einander

ganz angewiesen ohne einander zu kennen,

führen wir nicht mehr die Pfade als schöne Mäander

Ein Leben ohne Spiritualität wird als vereinsamend unsicher dargestellt. Der Mensch kann dem Menschen nicht das geben, was er mit dem rationalistischen Weltbild verloren hat. Ein Bild für diesen Verlust findet sich im Straßenbau. Die Wege fügen sich nicht mehr harmonisch in die Landschaft ein, sie durchschneiden sie in Geraden und wirken wie Fremdkörper.

sondern als Gerade. Nur noch in den Dampfkesseln brennen

die einstigen Feuer und heben die Hämmer, die immer

größern. Wir aber nehmen an Kraft ab wie Schwimmer.

Die Feuer, die in vorrationalistischen Zeiten als Tempel- oder Opferfeuer eine religiöse Bedeutung hatten, brennen im Industriezeitalter zweckbestimmt im Dienst von rationellen Produktionsabläufen. Sie treiben Hämmer, die immer größer werden, also eine Industrie, die immer mehr anwächst und immer mehr in das menschliche Leben und Denken hineingreifen kann. Die Feuer sind somit utilitarisiert und entspiritualisiert. Gleichsam ist der Mensch des rationalistischen Industriezeitalters entspiritualisiert und bewegt sich dadurch im "fremden Element"[8], in einer Welt, zu der er den Kontakt verliert wie ein Schwimmer, der keinen festen Grund findet. Er wird geschwächt und droht unterzugehen. Rationalistisches Denken wird so zu einer elementaren Gefahr.

Das Motiv der Schwächung schlägt eine Brücke zu 1/XVIII.

1.3. Sonett 2/X

Bei Sonett 2/X ist eine Zweiteilung feststellbar. Während die Quartette erneut vor der Industrie warnen, werden in den Terzetten die Kunst und die Spuren des Ursprünglichen in der Moderne beschworen.

Der Gebrauch des antikisierenden Distichon stellt wiederum auf der Ebene der sprachlichen Signifikanten eine Verbindung zur griechischen Klassik (oder zum Klassizismus[9]) her. Auffällig ist auch die Verwendung von Alliterationen in beiden Quartetten und von Assonanzen im ersten Quartett und in beiden Terzetten.

Alles Erworbne bedroht die Maschine, solange

sie sich erdreistet im Geist, statt im Gehorchen zu sein.

Daß nicht der herrlichen Hand schöneres Zögern mehr prange,

zu dem entschlossnern Bau schneidet sie steifer den Stein

Die ersten beiden Verse lassen sich so lesen, dass die Maschine "sich gegen [...den Menschen kehrt...] und beginnt, ihn zu beherrschen, statt ihm zu dienen".[10]

Die Maschine bedroht alles Erworbene, das lässt sich auch so lesen, dass die Industrie durch eine Mechanisierung und Rationalisierung des Lebens uralte kulturelle und religiöse Traditionen zerstört. Wirklich real wird diese Bedrohung aber erst dadurch, dass der Mensch der Maschine einen eigenen Willen zugesteht, das heißt, dadurch, dass er die Maschine so wichtig nimmt, dass er sich selbst ihr unterwirft. Das Wort "solange" drückt die Option aus, dies zu verhindern. Passt der Mensch die Maschine seinen Bedürfnissen als bloßes Werkzeug an und unterwirft sie seinem Lebensrhythmus, anstatt sich selbst einem Maschinenrhythmus zu unterwerfen, kann die Bedrohung gebannt werden. Das letzte Terzett aus 1/XVIII klingt hier deutlich wieder an.

Die Maschine ist zwar enorm effektiv, sie schneidet den Stein tiefer, als Menschen dies mit Muskelkraft vermögen, aber in ihrer Entschlossenheit liegt auch eine Schwäche. Der Maschinenarbeit fehlt das Menschliche und Geistige: Gewissen, Phantasie, Sinn für Schönheit und schöpferische Energie. Es wäre ein Fehler, wollte der Mensch sich diesen Defizit der Maschine zu eigen machen und sich dadurch entmenschlichen. Er verliehe der Maschine so selbst den Geist, mit dem sie sich gegen ihn wenden würde.

Nirgends bleibt sie zurück, daß wir ihr einmal entrönnen

und sie in stiller Fabrik ölend sich selber gehört.

Sie ist das Leben, - sie meint es am besten zu können,

die mit dem gleichen Entschluß ordnet und schafft und zerstört.

Die Mechanisierung des Lebens wird hier als weit fortgeschritten dargestellt. "Auch in unseren Feierstunden lassen wir die Fabrik nicht hinter uns. Der Automatismus zwingt sich auch dem privaten Dasein auf".[11] Der Mensch kann der Maschine nirgends mehr entrinnen. Sie beginnt, ihn zu beherrschen. Das Leben verläuft bereits so sehr im Rhythmus der Maschine, dass diese sich schon anmaßen kann, es mit ihrer gleichförmigen Konsequenz besser bewältigen zu können als der Mensch selbst.

Ein Traum bleibt dabei die Maschine, die zweckfrei sich selbst gehört.

In diesem Quartett kommt "metrischer Humor"[12] zum Tragen. Die beiden ersten Verse machen "das Wesen der Maschine, auf die sie sich beziehen, direkt hörbar, indem sie sich als hyperkorrektes Distichon lesen lassen, das die klassizistische Form des Wechsels von Hexameter und Pentameter in der Elegie unüberhörbar parodiert [...und...] zum Eindruck der poetischen Schwerelosigkeit [der Sonette ] beiträgt".[13] Dieses Stilmittel verbindet und kontrastiert gleichzeitig die industrielle Gegenwart mit einer alten, heileren Vergangenheit.

Aber noch ist das Dasein verzaubert; an hundert

Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen

Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.

Hier ändert sich der Ton des Sonetts. Es verlässt die Welt der Maschinen präsentiert nun die Welt als nicht unentrinnbar von Maschinen beherrscht, sondern als Ort, in dem noch ein ursprünglicher Charakter erhalten ist, den der, der bereit ist, ihn zu erkennen, auch in der Moderne noch finden kann. Dieser Charakter ist aber "nur noch auf einen kleinen Spiel- und Schonraum eingeschränkt [, wo er den] Imperativen der Zweckdienlichkeit entgeht: >noch< entgeht (wie lange?)".[14]

"Aber noch ist das Dasein verzaubert" stellt hier einen Gegenpunkt zu "Alles Erworbne bedroht die Maschine" vom Beginn des Sonetts dar, als "dialektische Spannung zwischen orphischer Innerlichkeit und einer funktionalistisch entleerten Welt".[15] Die Vokabel "noch" im ersten Vers dieses Terzetts verkörpert dabei die Eile, die geboten ist, wenn man den ursprünglichen Charakter der Welt noch erhalten will. Dagegen steht die Vokabel "solange" aus dem ersten Vers der ersten Quartetts für die reale Möglichkeit des Menschen, dies zu bewerkstelligen und weist den Weg dahin.

Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus...

Und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen

baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.

Hier tritt die Kunst als Bollwerk gegen den Rationalismus auf. Sie, der die niemals ganz gelingende könnende Suche nach letztendlichem Ausdruck genügen kann, braucht den nutzenentlasteten Raum, um existieren zu können. So öffnet sie den Blick auf das Spirituelle, Metaphysische und Transzendente.

2. Die Position der Sonette zur Industrialisierung

2.1. Spiritualitätsverlust

Es wird der industriellen Moderne in den Sonetten an Orpheus vorgeworfen, dass sie dem Menschen ein rein nutzenorientiertes, geistig leeres Wirklichkeitsbild aufzwängt, das ihn seiner Verbindung zur Spiritualität beraubt, deren Existenz vom rationalistisch geprägten Menschen einfach verneint wird. Verkörpert wird dies durch die Metonymie des Feuers im zweiten Terzett in 1/XXIV, das nicht mehr geistige, spirituelle Funktion hat, wie das Feuer in den Tempeln der Vergangenheit, sondern nur noch zu Produktionszwecken in Fabriken eingesetzt wird. Der den Göttern unbekannte Stahl im ersten Quartett und die die Götter nicht berührenden Räder im zweiten Quartett des gleichen Sonetts stehen für die Beziehungslosigkeit von Spiritualität und industrieller Moderne. Im ersten Quartett des Sonetts steht die Landkarte, auf der man die Götter nicht finden kann, metonymisch für rationalistisch-wissenschaftliches Denken, das kein probates Mittel zur Klärung metaphysischer Fragen zur Verfügung stellt. Die Wissenschaft verwaltet die Natur, indem sie sie rationalistisch erklärt, verstellt so aber den Weg zur Auseinandersetzung mit den ewigen Fragen des Menschen. Die Sterblichkeit und der Sinn des Lebens beispielsweise sind nicht mit wissenschaftlichen Mitteln zu ergründen. Auch die Kunst kann nur in einem Raum existieren, der sich dem rationalem Nutzendenken der Industriegesellschaft entzieht, wie das zweite Terzett in 2/X zum Ausdruck bringt.

2.2. Geschichtsverlust

Ein Geschichtsverlust, den die Industriegesellschaft erleidet, wird genannt. Im ersten Quartett von 2/X bedroht die Maschine alles Erworbene, also die menschliche Kultur mit ihren Traditionen. Im den Terzetten des gleichen Sonetts bedrohen Rationalismus und Industrie das im orphischen Sinn Ursprüngliche, das der Kunst als Basis dient. Sie bringen die Menschen dazu, ihre "uralte Freundschaft", die sich auch als die Mythen deuten lässt, zu verstoßen, wie es im ersten Quartett von 1/XXIV heißt. Dabei werden Stahl und Karte als Metonymien für Industrie und Wissenschaft der "uralten Freundschaft" im gleichen Quartett entgegengesetzt. Sie sind im Gesamtrahmen menschlicher Kulturentwicklungen sehr viel weniger bedeutsam, als es dem modernen Menschen scheint.

2.3. Naturentfremdung

Die Sonette beklagen eine Entfremdung von der Natur. Das Industriezeitalter wird in 1/XVIII als lautes, dröhnendes, bebendes Durchtobtsein dargestellt, in dem "kein Hören heil" ist, in dem der Mensch natürliche Zusammenhänge also nicht mehr erkennen kann. In 1/XXIV werden im zweiten Quartett weit fortgerückte Bäder und Gastmähler erwähnt, die die Naturentrücktheit der modernen Kultur symbolisieren. Die Geschwindigkeit des modernen Lebens überholt im gleichen Quartett die Boten der Götter, wodurch die Asynchronität des Industriezeitalters mit der Natur dargestellt wird. Im ersten Terzett des gleichen Sonetts sind es gerade Pfade, die die Natur rücksichtslos durchschneiden anstatt sich harmonisch in sie einzufügen. Sie versinnbildlichen, dass der Mensch in einem von ihm selbst geformten Raum lebt, gegen die Natur. Die Natur spielt in der Moderne keine Rolle als Lebensraum, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Der Mensch wird durch dieses Entfremdetsein geschwächt und gefährdet, wie es die Metapher vom Schwimmer im letzten Terzett von 1/XXIV zum Ausdruck bringt.

2.4. Verzweckung und Mechanisierung des Lebens

Gewarnt wird davor, der Industrie zu viel Raum zu geben. Im zweiten Quartett von 2/X wird die Maschine mit dem Leben gleichgesetzt, das sie glaubt, bereits besser als der Mensch bewältigen zu können, denn wenn die Prinzipien industrieller Produktion zum Maßstab für Alles werden, wird eine Maschine den Anforderungen der Welt natürlich besser gerecht als ein Mensch. Der Mensch scheint sich hier schon eine untergeordnete Rolle in seinem eigenen Leben zugewiesen zu haben und die Maschine an seine Stelle gesetzt zu haben. Im nächsten Vers wird aber gesagt, dass sie Maschine nur gleichförmige Handlungen ausführen kann. Ihr fehlt der Geist des Menschen, der sich in Gewissen und Sinn für Schönheit äußert, wie das erste Quartett des gleichen Sonetts mit der Metonymie der schön zögernden Hand betont. Dadurch, dass der Mensch sich der Maschine so unterwirft, gesteht er ihr Geist zu, sagt das erste Quartett von 2/X. Er gehorcht ihr, statt sie als Werkzeug zu gebrauchen. Die moderne Gesellschaft hat sich selbst also den Anforderungen industrieller Produktion unterworfen, deren eigentlich Vorteilhaftes, das Erleichtern von Arbeit, sich zu einem Fluch verdreht hat. Wesen und Werkzeuge der Industrie unterwerfen die Menschen unter ihren Rhythmus und unter ihre Rationalitätsprinzipien. Der Mensch wird zum Zweck der Maschine statt umgekehrt die Maschine nur für seine Zwecke zu nutzen. Wir werden dadurch entstellt, wie es in 1/XVIII heißt. Hierin liegt der Schlüssel zu einer Lösung des Problems. Wenn Maschinen dienen, wie es das zweite Terzett von 1/XVIII formuliert, und gehorchen, wie es im ersten Terzett von 2/X heißt, wenn sie also als Werkzeuge in den gewohnten menschlichen Lebensrhythmus eingepasst werden und nur produzieren zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, ist der Fluch gebannt. Die Kunst, in der ursprüngliche Denkmodelle ihr Asyl gefunden haben, kann den Weg weisen zu einer Umkehr und verspricht so Rettung, wie die Terzette von 2/X andeuten.

[...]


[1] Fritz Martini: Deutsche Literaturgeschichte. Stuttgart 1991, S. 570.

[2] Walter Euchner: Die Funktion der Verbildlichung in Politik und Wissenschaft. Münster 2008, S.11.

[3] Wolfgang Groddeck: Nachwort in: Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus. Stuttgart 1997, S. 137.

[4] siehe Ernst Leisi: Rilkes Sonette an Orpheus. Tübingen 1987, S. 109.

[5] Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus. Stuttgart 1997.

[6] Leisi, S. 109.

[7] Leisi, S. 119.

[8] Agnes Geering: Versuch einer Einführung in Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus. Frankfurt am Main 1948, S. 61.

[9] Siehe Groddeck, S. 146.

[10] Euchner, S. 23.

[11] Hermann Mörchen, zitiert nach Johan Hendrik Jacob van der Pot: Die Bewertung des technischen Fortschritts, Band II. Assen 1985, S.1005.

[12] Groddeck, S. 146.

[13] ebd.

[14] Manfred Frank: Gott im Exil. Vorlesungen über die neue Mythologie. II. Teil. Frankfurt am Main 1988, S. 208.

[15] Jochen Schmidt: Dichtung als esoterische Sinnstiftung: Rilkes Sonette an Orpheus. In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Hrsg. von Olaf Hildebrand. Köln 2003, S. 227.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Die Industrialisierung in Rilkes "Sonette an Orpheus"
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für deutsche Literatur)
Veranstaltung
Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
20
Katalognummer
V146129
ISBN (eBook)
9783640565641
ISBN (Buch)
9783640565313
Dateigröße
444 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rainer Maria Rilke, Rilke, Orpheus, Sonette an Orpheus, Sonette, Sonett, Industrialisierung, Fortschritt, Industrie, Lyrik, Rathenau, Nietzsche, Mythologie, Neue Sachlichkeit
Arbeit zitieren
Dirk Kranz (Autor:in), 2009, Die Industrialisierung in Rilkes "Sonette an Orpheus", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146129

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