Milli Görüs: Vertreterin des Politischen Islam in der Türkei: eine historische Analyse 1970-2000


Diplomarbeit, 2003

120 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG
1.1. Problemstellung
1.2. Aufbau der Arbeit
1.3. Sozialwissenschaftliche Aspekte des politischen Islam und Diskussionen um Zivilisationstheorien

2. POLITISIERUNG DER RELIGION
2.1. Religion, Ideologie und Politik
2.2. Islamismus: islamistischer Fundamentalismus: Politischer Islam
2.3. Laizismus und Säkularismus
2.3.1. Türkische Version des Laizismus: moderate secularism

3. HISTORISCHE ANALYSE DES RELIGIÖSEN FUNDAMENTALISMUS IN DER TÜRKEI
3.1. Religionspolitik in der Einparteienherrschaft (1923-1946)
3.2. Der religiöse Fundamentalismus zwischen 1946-1980
3.3. Der religiöse Fundamentalismus zwischen 1980-2000
3.3.1. Neo-Liberalismus und seine Auswirkungen auf den Aufstieg des politischen Islam
3.3.2. Türkisch-islamische Synthese "TIS" als Staatsideologie
3.3.3. Religiöse Orden und Milli Görüş
3.3.4. Der radikale Fundamentalismus und Milli Görüş

4. ISLAMISTISCHE PARTEI: „MİLLİ GÖRÜŞ“, DIE NATIONALE SICHT-BEWEGUNG
4.1. Geschichtliche Entwicklung der Milli Görüş Bewegung
4.2. Rechtliche Rahmenbedingungen für die politischen Parteien im türkischen politischen System
4.3. Ideologie und Diskurs der Milli Görüş
4.3.1. Die Haltung der Refah zur Demokratie
4.3.2. Die Haltung der Refah zum Laizismus
4.3.3. Haltung der Refah gegenüber der Außenwelt in Theorie und im Praxis
4.4. Organisation der Refah Partei
4.5. Wählerschaft der Refah
4.6. Wirtschaftliche Macht des grünen Kapitals
4.7. Gründe für den Erfolg der Refah

5. KRISE DES POLITISCHEN ISLAM

6. SCHLUSSBEMERKUNGEN

7. LITERATURVERZEICHNIS
Türkische und internationale Tageszeitungen
Zeitschriften, Lexika, Broschüre u.a.
Lebenslauf

1. EINLEITUNG

1.1. Problemstellung

Die säkulare Türkische Republik, die einen strikten Laizismus, „die hemmungslose Trennung der Politik und Religion“ im Land durchgeführt hat und mehr als eine 50-jährige Demokratisierungstradition vorweist, ist besonders ab Mitte der 80er und in den ganzen 90er Jahren wegen zwei Ereignissen in aller Munde gewesen, und zwar wegen der Wiederkehr des politischen Islam und wegen des separatistischen Terrors der PKK, der Kurdischen Arbeiter Partei.

Unvermeidlicherweise bedrohten die oben genannten Entwicklungen die Existenz der Türkischen Republik, die auf der Asche und den Trümmern des Osmanischen Reiches als ein säkularer Staat nach westlichem Vorbild von Kemal Atatürk 1924 gegründet wurde. Tatsächlich nahm die Intensität der Bedrohung durch den separatistischen kurdischen Terror ab, nachdem Abdullah Öcalan, der Chef der PKK, 1999 festgenommen und hinter Gitter gebracht wurde. Was ist mit der Wiederbelebung des Islam? Der Aufstieg des politischen Islam wurde auch am 28. Februar 1997 von der Front der Laizisten zu bremsen versucht, deren bewerkenswertester Befürworter das türkische Militär ist. Der 28. Februar wird von den islamistischen Intellektuellen des Landes als die 3. Militärjunta anerkannt. Diese undemokratische Haltung scheint den Aufstieg des politischen Islam für bestimmte Zeit gestoppt zu haben. Vor den Toren Europas soll die Türkei es zulassen, den politischen Islam in das politische System zu integrieren.

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem politischen Islam in der Türkei insbesondere unter Berücksichtigung der Zeitspanne 1970-2000. Als der Brennpunkt des religiösen Fundamentalismus bzw. politischen Islam kann das Jahr 1946 in der Türkei wahrgenommen werden, weil es ein Kilometerstein für die Einführung des Mehrparteiensystems bzw. der Demokratie in der Türkei war. Das Mehrparteiensystem ermöglichte das Aufblühen der unterschiedlichen Ideologien in der Gesellschaft. Die vom Staat unterdrückten islamischen Bewegungen begannen mit der Einführung des Mehrparteiensystems ab 1946 wieder aufzublühen. Besonders in den 90er Jahren stand der politische Islam in höchster Blüte, obwohl die türkische Gesellschaft mit westlicher Kultur über Medien, Produkte, Mode und Lebensstile stärker bedrängt wurde als je zuvor. Was geschah in den letzten 20 Jahren und warum ist der Islam in die politische Arena der Türkei zurückgekehrt? Die Beantwortung dieser Frage war nur eines der Ziele dieser Arbeit.

Der Aufstieg des politischen Islam in der Türkei machte sich schon Anfang der 90er Jahre extrem bemerkbar. Der große Erfolg der Wohlfahrtspartei in den Kommunalwahlen 1992 war das erste Zeichen für das Kommen der Ideologie der „ Nationalen Sichtsweise: Milli Görüş[1] in die Agenda der Türkei. Bei den Kommunalwahlen 1992 gewannen in der Geschichte der kemalistischen Republik zum ersten Mal die Kandidaten der islamistischen Partei in den großen Metropolen des Landes, wie in Istanbul oder Ankara. Die Gemeinderegierungen der Wohlfahrtspartei in Istanbul unter Erdoğan und in Ankara unter Gökçek bewiesen in sehr kurzer Zeit große Erfolge. Probleme wie Trinkwasser und Müllabfuhr der Istanbuler wurden rasch gelöst. Maßnahmen gegenüber Luftverschmutzung in Winterzeiten in Ankara wurden getroffen und in kurzer Zeit hatte Ankara solche Probleme nicht mehr. Die neu gewonnen grünen Flächen durch die Gemeinderegierungen der Wohlfahrtspartei änderten das Gesicht von Ankara und Istanbul. Diese Städte gewannen ein modernes Outlook. Die neuen Projekte wie U-Bahn und Straßenbahn wurden geplant und ein Teil davon in kurzer Zeit realisiert. Gemeinderegierungen der Wohlfahrtspartei legten großen Wert auf public relations. Dies verbesserte die Beziehungen der Bevölkerung gegenüber den Gemeinderegierenden, weil das Volk davor sein Vertrauen gegenüber den Politikern und Staatsbediensteten infolge der Korruptionsaffären verloren hatte. Diese positive Entwicklung legte den Grundstein für den Erfolg der Wohlfahrtspartei bei den Nationalratswahlen von 1995.

Die allgemeinen Wahlen von 1995 werden als ein Wendepunkt für die Politik in der Türkei betrachtet. Die islamistische[2] Wohlfahrtspartei erwies sich als stimmenstärkste Partei. Als der Vertreter des politischen Islam in der Türkei seit den 70er Jahren tauchte die Ideologie der „Nationalen Sicht“ unter verschieden Namen auf. Die seit 1972 in der politischen Arena des Landes herrschende „Nationale Sichtsideologie“, unter Führung von Necmettin Erbakan, diesmal mit den Namen Wohlfahrtspartei, wurde die stimmenstärkste Partei mit 21,3 Prozent bei den Dezember-Wahlen von 1995. Die Wohlfahrtspartei hatte nicht die absolute Mehrheit erreicht, stellte aber in der Koalitionsregierung mit der Partei des Rechten Weges von Tansu Çiller den Parteiführer Erbakan als ersten islamistischen Premier Minister der laizistischen Republik. Die elfmonatige Koalitionsregierung der Wohlsfahrtspartei (RP) und des Rechten Weges (DYP) verursachte eine Krisenwelle in allen Gesellschaftsschichten, bei den politischen sowie den militärischen Kräften des Landes und endete unter dem heftigen Druck des Militärs.

Besonders kemalistisch orientierte Bevölkerungsschichten betrachteten die Koalitionsregierung zwischen der islamistischen „Wohlfahrtspartei“ und der Partei des rechten Weges 1997 als das Ende des demokratischen Systems. Die Massen sorgten sich um ihre gesetzlich garantierten demokratischen Rechte. Dabei spielten auch die populistischen Wahlaussagen und die Versprechen der Wohlfahrtspartei eine sehr große Rolle. Die Koalitionsregierung intensivierte die Konflikte in der Gesellschaft zwischen Laizisten und Islamisten. Am 28. Februar 1997 erreichte die Eskalation des Konfliktes zwischen der laizistischen Elite und den Islamisten seine Spitze mit einem Memorandum des Nationalen Sicherheitsrates, der stark vom türkischen Militär dominiert ist. Das Memorandum ebnete den Weg zur Auflösung der Koalitionsregierung. Ungefähr ein Jahr später wurde die Wohlfahrtspartei vom türkischen Verfassungsgerichthof aufgrund der Verletzung der Prinzipien der laizistischen Republik verboten und Erbakan und ihre Führungskader aus der Politik verwiesen. In Wahrheit war die Koalitionsbeteiligung der islamistischen Partei eine große Chance für die Demokratie. Die islamistische Partei könnte mit solchen Koalitionsregierungen in das Boot des demokratischen Systems gezogen und die radikalen Elemente in der Wohlfahrtspartei eliminiert werden.

Die religiösen Strömungen in der Türkei bewegen sich von moderat bis radikal. Einerseits können die moderaten Strömungen unter der Demokratie in Frieden weiterleben, andererseits betrachten aber die Radikalislamisten das demokratische System als großes Hindernis auf dem Weg zum Gottesstaat. Es stellt sich nun die Frage: Wo steht die islamistische Partei, wird die islamistische Partei alle verschiedenen religiösen Strömungen in ihrer Organisation oder unter ihrer Wählerschaft sammeln? Mit anderen Worten, wie demokratisch ist die islamistische Partei? Die blutigen Erfahrungen in Algerien und Sudan ließen Skepsis unter der Menge in der Türkei aufkommen. Ein anderer Faktor dafür war, dass am 21. Mai 1996 Erbakan, der Führer der „islamistischen“ Partei der Türkei, bei seinem Parteitag sehr nervös und wütend, deutlich und unmissverständlich aussprach: „Entweder blutig oder unblutig werden wir an die Macht kommen!“

1.2. Aufbau der Arbeit

Eine zweiseitige Polarisierung in der türkischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte der 80er und in der ganzen Ära der 90er Jahre tritt in Erscheinung. Auf einer Seite wünschen die Laizisten, welche die Befürworter der kemalistischen Republik sind, eine moderne, laizistische und entwickelte Türkei, die ihren Platz in Europa, nicht in der arabischen Welt hat, andererseits wählt ein Teil der türkischen Bevölkerung (ca. 22-25 Prozent) die islamistische Partei, deren Abgeordnete und Anhänger über die Möglichkeiten eines islamischen Modells für die Türkei diskutieren. Die türkischen Radikalislamisten in der islamistischen Partei streben, wie die anderen in Algerien, Pakistan, Ägypten usw. auch, eine Herrschaft des Islam im sozialen und politischen Leben allein auf der Grundlage von Koran und Sunnet des Propheten, mit anderen Worten der islamischen Rechtsordnung "Scharia" an.

Wird aus der jetzigen laizistischen und relativ demokratischen Türkischen Republik ein Islamstaat, wie Iran oder Afghanistan herausgebildet? Um ein gesamtes Bild von den Entwicklungen in der Türkei zu machen und um die oben gestellten Fragen beantworten zu können, habe ich dieses Thema gesucht.

Der erste Teil dieser Arbeit ist Begriffserklärungen und -klärungen gewidmet. Beim Bestimmen der Begriffe spielte die oben genannte zweiseitige Polarisierung eine große Rolle. Zuallererst waren für mich die Definitionen von religiösem Fundamentalismus, Laizismus und Säkularismus, die nähere Bestimmung der türkischen Version des Laizismus, sowie eine Klärung der Begriffsverwirrung im Zusammenhang mit der Definition der Wiederbelebung des Islam in der Türkei von großer Bedeutung.

In dem zweiten Kapitel der Arbeit wurde die geschichtliche Analyse des politischen Islam in der Türkei seit der Gründung der modernen Türkischen Republik bis zum Ende des 20. Jahrhunderts durchgeführt. In der Analyse des politischen Islam wurden die wirtschaftlichen Aspekte des Phänomens besonders unter die Lupe genommen. Ich bin der Anfassung, dass sich der politische Islam in der Türkei in Folge der Dekade dauernden ökonomischen Interessenskampfes zwischen unterschiedlichen Kräften des Landes entwickelte. In dieser Arbeit vertrete ich die These, dass der Aufstieg des religiösen Fundamentalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Türkei infolge sozioökonomischer Umgestaltungen herausgebildet wurde, die breite Bevölkerungsschichten zur Ablehnung des korrupten politischen Systems und der „Modernität“ führten. In diesem Kontext intensivierte sich die Spannung der Kräfteverhältnisse zwischen einerseits der Peripherie, den Islamisten, und andererseits dem Staat, der von kemalistischen Eliten repräsentiert wird. Man beobachtet eine Parallelität zwischen dem Erfolg der islamistischen Partei (MSP- Refah und Fazilet) bei den Wahlergebnissen und dem Stolpern der laizistischen Politiken.

Im dritten Kapitel der Arbeit habe ich mich auch auf die islamistische Milli Görüş Bewegung und ihre Refah Partei konzentriert, die besonders in den letzten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts als Befürworter des politischen Islam in der Türkei erscheint. Ideologie, Organisation und Wählerschaft der islamistischen Partei wurden besonders untersucht.

Eines der wichtigsten Probleme der säkularisierten Türkischen Republik in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts und auch im 21. Jahrhundert ist ihr Zugehörigkeitsdilemma. Einerseits bietet die Türkei seinen Bürgern europäische Werte, wie Demokratie, Menschenrechte und Liberalismus mit wirtschaftlichem Wohlstand an, infolgedessen strebt sie eine Vollmitgliedschaft in der EU an, andererseits versucht ein Teil der Bevölkerung zu den Wurzeln ihrer islamischen bzw. orientalischen Zivilisation zurückzukehren, infolgedessen steigt die Rolle des Islam in der Politik und der Gesellschaft andauernd. Auf der einen Seite liegt die Türkei geographisch sowie auch politisch vor den Toren Europas, andererseits zielt ein Teil der islamistischen Politiker und islamistischen Intellektuellen auf ein ganz anderes System ab. Das letzte Kapitel der Arbeit wurde dieser politischen und sozialen Spaltung zwischen Laizisten und Islamisten gewidmet. In diesem Kontext habe ich die Akteure der oben genannten Spaltung, wie das Militär, Laizisten, Islamisten unter die Lupe genommen.

1.3. Sozialwissenschaftliche Aspekte des politischen Islam und Diskussionen um Zivilisationstheorien

Der Erfolg der islamistischen Partei bei den Wahlen von 1995 lenkte die Aufmerksamkeit der Universitäten und Intellektuellen auf den Aufstieg des politischen Islam. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde der politische Islam vom sozialwissenschaftlichen Kreis vernachlässigt. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Zahl der wissenschaftlichen Projekte, die den Aufstieg des religiösen Fundamentalismus in der Türkei betrachten, auch sehr gering ist. Die ersten seriösen wissenschaftlichen Arbeiten erscheinen nach 1995. Eine Polarisation in der Literatur ist auch beobachtbar, die Spaltung zwischen Islamisten und Kemalisten lässt sich auch bei der Literatur nachweisen. Nun möchte ich die unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Perspektiven im Bereich des politischen Islam darstellen. In diesem Kontext möchte ich mich auf die seriösen und objektiven Arbeiten, die zwischen 1993-2000 erschienen sind, beschränken. Mein anderes Kriterium liegt bei den Schriftstellern dieser wissenschaftlichen Arbeiten. Sie stammen aus den Universitäten in der Türkei und Deutschland. Sie betätigen sich als Universitätsdozenten und Professoren in Sozialwissenschaftlichen Fakultäten an den Universitäten.

Eine von den bisher wichtigsten sozialwissenschaftlich-empirischen Forschungen, die auf einer Befragung basiert, wurde von Toprak und Çarkoğlu mit Unterstützung des Instituts "Türkiye Ekonomik ve Sosyal Etüdler Vakfı" im Februar 1999 durchgeführt. Die Arbeit, die ich hier ganz kurz vorstellen möchte, heißt " Religion, Gesellschaft und Politik in der Türkei." 1999 wurde von Çarkoğlu und Toprak eine schriftliche Befragung unter den muslimischen Teilen der Bevölkerung anhand einer repräsentativen Stichprobe von 3053 Personen aus 16 Provinzen in städtischen und ländlichen Regionen durchgeführt. Die 3053 Personen wurden gebeten, 105 Fragen zu beantworten. Diese Befragung zielte auf die Enthüllung der Beziehung zwischen Religion und der Rolle der Religion bei den politischen Präferenzen ab. Infolge der Analyse der durchgeführten Befragung widerlegten Toprak und Çarkoğlu die These, dass eine starke Polarisation von Laizisten und Islamisten in der Türkei existieren würde. Es kann nur von einem Widerspruch die Rede sein, in der/dem die Laizisten den Islam im Bereich von individuellem Glauben und Gottesverehrung wahrnehmen, aber die Islamisten das öffentliche Leben islamisieren wollen (vgl. Toprak/Çarkoğlu 2000: 19). Als eines der wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung ist hier zu erwähnen, dass sich die türkischen Wähler vom Zentrum nach rechts bewegen. Mit anderen Worten spielte die Konservativität eine sehr große Rolle bei den türkischen Wählern. Toprak und Çarkoğlu sind der Meinung, dass das Eindringen der kemalistischen Reformen und damit verbunden von Laizismus und Demokratie für die Mehrheit der Türken unverzichtbar sind. Die Arbeit von Toprak und Çarkoğlu konzentriert sich mehr auf die individuellen Einstellungen der Bevölkerung bezüglich Islam und Politik. Es ist mangelhaft, dass Toprak und Çarkoğlu keinen Beitrag bezüglich der Gründe der Entstehung des politischen Islam leisten. Über die Ursachen des Anstiegs des politischen Islam informiert die Arbeit uns kaum. Das Profil der Wähler der islamistischen Partei ist begrenzt auf die politische Ebene. Die wirtschaftlichen Faktoren ignorieren die Autoren.

Als eine weitere Arbeit ist das Buch von Akdoğan „Politischer Islam“ hier zu erwähnen. Seine Untersuchung kann als empirisch-geschichtliche Untersuchung des politischen Islam angesehen werden. Akdoğan bearbeitet zahlreiche türkische und überwiegend englische Literatur. Fundamentalismus, Islamismus, Politik im Islam, Beziehung zwischen Modernität und Fundamentalismus werden im ersten Teil der Arbeit untersucht. Akdoğan steht auf dem Standpunkt, dass sich durch die wirtschaftliche Liberalisierung in der Özal Ära in den 80er Jahren eine neue islamistische ökonomische Klasse als Rivale der zentralistischen wirtschaftlichen Kräfte des Kemalismus herausbildet. Eine neue Identitätsunterbreitung des Islam an Unterkulturen, die Urbanisierung und der Einfluss gesellschaftlicher Probleme, eine Politik des Ausbalancierens des radikalen Islam mit dem gemäßigten Islam, die übersetzten Bücher der islamischen Welt und die Demokratisierung haben einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Islamismus (vgl. Akdoğan: 148ff). Im letzten Kapitel konzentriert sich Akdoğan überwiegend auf die Refah Partei. Gründe des Erfolges, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Ideologie und Organisation der Refah Partei nimmt Akdoğan unter die Lupe. Als ursächlich in Hinblick auf das Anwachsen der Wählerschaft der islamistischen Partei nennt er folgende Faktoren: Misserfolg der anderen politischen Parteien gegenüber sich vertiefenden Problemen, Hoffnungmachen durch die islamistische Partei, Ausbreitung des gemäßigten Islam, Versprechen für ein verlässliches Regieren und für den Kampf gegen Bestechung, auffallender Erfolg der kommunalen Regierungen der Refah Partei, eine neue Identitätsunterbreitung, Unterstützung durch die Milligörüş -Organisationen in Europa (vgl. Akdoğan: 241ff).

Eine weitere Arbeit heißt "Islamistische Bewegung in der Türkei; eine soziologische Perspektive (1994-2000)." In seinem Buch versucht Bayramoğlu, "die islamistische Bewegung in der Türkei" unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Änderungen in den 90er Jahren in Hinblick auf eine neue Identitätsbildung zu beforschen. Die Herausbildung der neuen atomisierten gesellschaftlichen Gruppen mit ihren kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Forderungen dient als Sicherungsventil des zusammenbrechenden politischen Systems in der Türkei. Diese neu herausgebildeten Gruppen tauchten als Gegenreaktion auf die Globalisierungsideologien und –politik auf, die von der politischen Partei des Systems unterbreitet und durchgesetzt wurden. Nach Bayramoğlu kommen diese neuen Gruppen unter Führung der islamistischen Partei auf die Bühne mit einer Alternative: Regionalisierung im kulturellen und wirtschaftlichen Sinne auf Basis einer neuen Identität anstatt Globalisierungsausrede. Er beschreibt diese soziale Bewegung als folgendes: "Die Regionalisierungsbewegung kann nicht nur als Reflektion einer Schwäche, eines Rückschlages oder einer Reaktion betrachtet werden. Es ist ein totales Marschieren zum Zentrum von allen Gruppen und Akteuren, die denken, dass sie vom bestehenden System abgeschlagen sind. Das ist eine Akteuralisierung. Mit anderen Worten sind die Zentrifugalkräfte von gestern Zentralkräfte von heute geworden “ (Bayramoğlu 2001a: 19). Der Träger dieses Ansatzes sieht den Ausgangspunkt des politischen Islam in der Ära der 80er Jahre. Differenzierung in der Sozialstruktur und Differenzierung in der Kapitalstruktur werden von Bayramoğlu als Gründe und Ursachen des heutigen politischen Islam wahrgenommen. Differenzierung in der Sozialstruktur führte dazu, dass die verschiedenen ökonomischen, ethnischen und kulturellen Schichten unter eine gemeinsame Klasse zusammenkommen. Diese Bildung bringt das Zentrum mit der Peripherie, die mit dieser neu gebildeten Klasse repräsentiert wird, zu einer Konfrontation. Die Differenzierung in der Kapitalstruktur führte dazu, dass die starken ökonomischen Kräfte der Peripherie zum ersten Mal als ein harter Konkurrent zu jenen des Zentrums werden. In diesem Punkt spielt die Refah-Partei eine determinierende Rolle. Diese Gruppen kommen unter der Refah-Partei zusammen und Refah tritt mit Regionalisierungspolitik der Globalisierungspolitik gegenüber (vgl. Bayramoğlu 2001a: 19ff). Seine Analyse über die Krise, die Zentralparteien, wie DYP, DSP, ANAP, Republikanische Volkspartei erlebten, sind besonders beachtlich.

Ein weiterer Ansatz (Bassam Tibi/ Aufbruch am Bosporus) definiert den politischen Islam als Neo-Osmanismus. Der Konflikt zwischen westlich und anti-westlich orientierten politischen Kräften, nämlich Kemalisten und Islamisten, ist eine der wichtigsten Interessensbereiche für Tibi. Er unterscheidet den türkischen Fundamentalismus von den anderen Spielarten in der Welt des Islam. “Die türkischen Islamisten gehören in die globale Szene des religiösen Fundamentalismus. Wie die anderen Fundamentalisten ringen sie um die Macht. Aber sie unterscheiden sich von den Islamisten anderer Länder u.a. dadurch, dass sie eine Führungsrolle für ihr Land nicht nur in der islamisch-nahöstlichen Welt, sondern in einer von Xinjiang über Zentralasien und den Kaukasus bis nach Südosteuropa reichenden geopolitischen Dreiecksverbindung anstreben, die Turkestan genannt wird. ... Mit diesem Vergleich wird deutlich, dass der türkische Islamismus eine Synthese mit dem Panturkismus eingeht“ (Tibi 1998: 15).

Nach Tibi lässt sich die Politisierung des Islam in der Türkei durch zwei Merkmale kennzeichnen: "1. Er ist gleichermaßen eine spezifisch politisch-soziale und kulturelle Erscheinung, die nur in ihrem türki schen Kontext als ein Bruch am Bosporus angemessen verstanden werden kann. 2. ein Bestandteil des allgemeinen, also internationalen Phänomens der islamischen Revolte gegen den Westen, gehört also zum globalen Phänomen des religiösen Fundamentalismus" (Tibi 1998: 75).

Tibi legt großen Wert auf den Dualismus, welcher als Kampf zwischen westlicher Vernunft und nichtwestlicher Irrationalität angesehen wird. Er definiert den Fundamentalismus als Rückkehr zur Vormoderne.

Eine weitere wissenschaftliche Arbeit, obgleich sie sich nicht explizit mit der Türkei beschäftigt, sondern eine Kritik über die Huntingtons und Tibis Zivilisationsparadigma bringt, ist das Werk von Çağlar „Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen - Der Westen gegen den Rest der Welt“. Die von Huntington formulierte These um das Zivilisationsparadigma, welches behauptet, dass der Drehpunkt der Weltpolitik nach dem Ende des kalten Krieges durch den Zusammenprall der Zivilisationen bestimmt wird, wird in Huntingtons Buch „Kampf der Kulturen“ und in Tibis Buch „der Krieg der Zivilisationen“ deutlich. Çağlar betrachtet beide rechten Geschichtsphilosophen als Kriegshetzer. Er glaubt, dass das Zusammentreffen zwischen hauptsächlich religiös voneinander abgegrenzten Zivilisationen für die rechten Intellektuellen nur als Konflikt oder Krieg denkbar ist.

Çağlars Grundthese lautet: “Das Zivilisationsparadigma drückt einen machtzentrierten Anspruch aus, welcher die westliche Hegemonialstellung im geo-kulturellen Kampf um Geschichte, Kultur und Identität fixieren soll.“ (Çağlar: 171).

In den Augen von Çağlar existiert keine wertfreie wissenschaftliche Verwendung des Zivilisationsbegriffs. Das Zivilisationsparadigma dient in der Tat zur US-amerikanischen Theoriebildung. Der Ausgangspunkt dieser Theoriebildung beruht auf der Bildung nationaler Sicherheitsinteressen der USA und deren Ziel ist die Durchsetzung und Behauptung ihrer welthegemonialen Position. Der von den USA seit 1996 gestartete Kreuzzug gegen den Terrorismus auf internationaler Ebene nimmt die Administrationen in den nahöstlichen „Reichen des Bösen“ wahr. Huntington und Tibi betrachten die islamische Zivilisation mit ihren blutigen Grenzen als den Feind des Westens. Besonders Tibi fügte hinzu, dass die Muslime demokratieunfähig seien.

Der Zivilisationsbegriff von beiden rechtskonservativen Denkern stellt eine unwissenschaftliche soziobiologische Konstruktion dar. In den Augen von Çağlar verzichten Tibi und Huntington auf eine exakte Definition des Zivilisationsbegriffs. Der Zivilisationsbegriff erweist sich als identitätsstiftender Mythos innerhalb der imperialistischen Staaten. Der Zivilisationsbegriff dient zur Aufteilung neuer ökonomischer, politischer, militärischer und kultureller Einflusssphären. Çağlar glaubt daran, dass die alten machtzentrierten Vorstellungen von der Überlegenheit des Westens zu Bruch gehen werden: „ Und sie gehen zu Bruch, weil die herkömmlichen Perspektiven des Weltmarktes (das Geo-Ökonomische), des internationalen, nationalstaatlich verfassten Systems (das Geo-Politische) und des Militärischen (das Geo-Strategische) sozialen und kulturellen Aspekten kaum Bedeutung beimaßen. Huntington thematisiert hier zweifelsohne einen blinden Fleck westlicher Theorie. Doch an die Stelle der theoretischen Vernachlässigung des Kulturellen tritt ihr Gegenpol, die theoretische Überdeterminierung, an Stelle der Erforschung der Rolle kultureller Identitätspolitik der Identitätswahn. Nirgends macht Huntington den Versuch, für seine Feststellung der substantiellen Unterschiede der Grundwerte empirische Daten heranzuziehen“ (Çağlar: 177).

Nach Çağlar kommt Huntingtons Theorie mit einem äußerst dünnen Kulturbegriff daher, welcher an die alten Dualismusvorstellungen einer Blockierung von Moderne und Tradition anknüpft und ausgerechnet die Bedeutung des Sozialen verschwinden lässt: „ Der rechtsintellektuellen These vom Krieg der Zivilisationen bleiben die Zusammenhänge von Kultur, Globalität und kapitalistischem Weltsystem verborgen. Vielmehr lebt sie von einer Kulturalisierung von Politik und Politisierung von Kultur, was auch daran deutlich wird, dass sie das Problem der Gewalt wesentlich an kulturellen und ethnischen Konflikten festmachen will. Die globalen Destruktionskräfte des Imperialismus spielen keine Rolle. Das Zivilisationsparadigma verschiebt die ökonomisch und sozial bedingte, über den Zugang und die Kontrolle von Ressourcen vermittelte Entstehung gewaltoffener Räume auf das kulturelle Terrain der Blutsbande und des Glaubens. …Das Zivilisationsparadigma verschiebt diese Probleme in die Sphäre zeitloser kultureller Gegensätze. Damit soll vergessen gemacht werden, dass es der neoliberalistische Totalitarismus der Märkte mit seinem ruinösen Verdrängungswettbewerb und seiner Vergötzung profitorientierter Rentabilität ist, welcher sich daran macht, die westlichen Werte aufzufressen“ (Çağlar: 177f).

Çağlar hält es für falsch, die Welt in Kulturkreise und Zivilisationen aufzuteilen. Die sogenannte islamische Welt stellt alles andere als eine einheitliche Zivilisation dar. In ihr existiert eine sehr große Vielfalt, deren innere Spaltungslinien größer und tiefer sind als die zum Westen. Nach Çağlar beschäftigen sich Huntington und Tibi nicht damit, die Ursachen der Konflikte im Nahen Osten zu klären. Sie wollen vorrangig mit der Definition einer „islamischen Welt“ ein neues Feindbild schaffen, das die innere militaristische Ausrichtung der europäischen und amerikanischen Politik rechtfertigen kann. Çağlar interpretiert Huntingtons Definitionen „islamischer“ Kultur als einfältig. Çağlar kritisiert Huntington, weil er mit islamischen Werten ausschließlich Begriffe wie Ehre, Blut und Boden gleich setzt. Nach Huntington und Tibi sind alle nicht westlichen Zivilisationen grundsätzlich demokratieunfähig. Nach Ansicht Çağlars ist die eigentliche Ursache für die meisten Konflikte nicht der Unterschied zwischen „westlicher“ und „islamischer“ Kultur, sondern zwischen Arm und Reich. Er glaubt, dass die Armut einen besonders guten Nährboden für ideologische Strömungen bietet. Die Menschen finden einfache Antworten für ihre Probleme bei den oft polarisierenden islamischen Fundamentalisten. Die Fundamentalisten manipulieren den Begriff „westliche Welt“ auch und sie ziehen wie ein Magnet die Massen an, die sich von der reichen „westlichen Welt“ ignoriert fühlen. Die Lösung der Konflikte kann nur mit dem Akzeptieren der sozialen Ursachen und weniger mit dem Kulturalisieren durch Europäer und Amerikaner gewährleistet werden. Das Heraushalten des Westens aus diesen Konflikten würde sehr positiv wirken und die fundamentalistischen und anti-westlichen Bewegungen in diesen Ländern würden ihren Einfluss verlieren.

2. POLITISIERUNG DER RELIGION

In der westlichen Welt wird der Islam als "Religion des Schwertes" wahrgenommen. Bei der Verbreitung der Vorurteile im Allgemeinen über den Islam und Muslime spielten die Gewalt und der Terror durch radikal islamistische Fundamentalisten in der Welt des Islam eine sehr große Rolle. Der Zusammenbruch der Sowjetunion in den 90er Jahren beendete die Eventualität einer roten Gefahr aus dem Osten für den Westen. Diese wird nun durch die grüne Gefahr (islamischer Fundamentalismus) ersetzt, die wiederum aus dem Osten kommt. Der islamische Fundamentalismus wird nicht nur von westlichen Ländern, in denen eine Großzahl der Muslimen in Folge der Völkerwanderung nach den 60er Jahren leben, sondern auch in den Ländern, in denen der Islam viel längere historische Wurzeln hat, als eine Gefahr betrachtet.

Im Allgemeinen findet die politische Instrumentalisierung der Religion ihre Definition als "Fundamentalismus". Um ein besseres Bild über den politischen Islam in der Türkei zu bekommen und die Unterschiede und Ähnlichkeiten der türkischen fundamentalistischen Bewegungen zu den anderen in der restlichen Welt des Islam aufzuzeigen, werde ich einen Versuch unternehmen, eine theoretische Basis dieser Arbeit, nämlich die Politisierung der Religion mit der Beziehung zwischen Religion, Ideologie und Politik zu erläutern. Sie sind so verschmolzen, es ist kaum möglich, diese Konzepte voneinander unabhängig zu denken.

Eine historische Analyse des politischen Islam, ohne mit dem Staatskonzept des Islam vertraut zu sein, kann uns kein vertrauenswürdiges Ergebnis entlocken. Daher ist eine Unterscheidung zwischen dem Islam als Religion und der Ideologie Islamismus[3] notwendig.

2.1. Religion, Ideologie und Politik

Die Religion ist eine der wichtigsten Elemente, die für die Menschen immer eine große Bedeutung im Privaten wie auch im Sozialen und sogar auf der politischen Ebene hatte.

In der Encyclopaedia Britannica wird die Religion wie folgt definiert: “human beings' relation to that which they regard as holy, sacred, spiritual, or divine. Religion is commonly regarded as consisting of a person's relation to God or to gods or spirits. Worship is probably the most basic element of religion, but moral conduct, right belief, and participation in religious institutions are generally also constituent elements of the religious life as practiced by believers and worshipers and as commanded by religious sages and scriptures.” (Encyclopaedia Britannica)

Neben ihren Glaubenseigenschaften funktionierte die Religion immer als ein bestimmtes Instrument in der Politik, mit anderen Worten wie eine Ideologie (vgl. Akdoğan: 15ff). Eine bescheidene Definition der Religion macht es uns verständlicher, dass die Religion, ein Glaubenssystem, wie eine Ideologie funktioniert. Der Begriff der Ideologie ist eines der häufigst diskutierten Konzepte in den Sozialwissenschaften. Die westliche Welt in der Phase vor den Industriegesellschaften erlebte eine erschütternde Übergangsphase. Strukturelle Änderungen in den sozialen, wirtschaftlichen Ebenen bewirkten auch die Veränderung der gesellschaftlichen Schichten und bildeten eine neue Weltanschauung und Ideenstruktur. Im Lichte der oben angeführten Argumente können wir die Ideologie in der einfachsten Form als Ideenstruktur definieren (vgl. Türköne: 21ff). Andererseits versteht man unter Ideologie „eine politische Weltanschauung, bzw. ein System moralischer und politischer Grundsätze“ (Salamun: 8). Die marxistische Haltung zur Religion basiert auf der These, dass die Religion ein gesellschaftliches Produkt sei. Die Religion wird vom Menschen gemacht, um dem Menschen in der Klassengesellschaft den Eindruck zu machen, dass sein Schicksal außerhalb seiner Kontrolle liege. Nach Argumentation von Marx ist die Hauptrolle der Religion in der Tat die Ideen und die Institutionen zu ehrwürdigen, welche den Klassenwiderspruch unterstützen. Marx interpretiert die Religion auch als Ideologie, die im Klassenkampf eine kräftige Rolle spielt. In der marxistischen Interpretation funktioniert aber die Religion nicht wie ein ideologischer Mechanismus, welcher sich immer bloß benutzen lasse, um die Masse der Bevölkerung zu verwirren, zu verleiten oder zu mystifizieren: „ In jeder Gesellschaft, wo die Religion die Unterstützung der Masse der Unterdrückten und der Ausgebeuteten besitze, können aufständische und sogar revolutionäre Bewegungen schnell eine religiöse Färbung annehmen; sie können das Streben nach der Veränderung ausdrücken und die herrschende Ideologie den Bedürfnissen der Massen anpassen “ (Marshall: 3). Marx behauptet, die Religion funktioniere als das Opium des Volks. Ihre Wirkung sei wie Rauschgift. Mit Hilfe der Religion können die Massen das Elend dulden, den Trost in einer anderen Welt suchen. Die Religion betäubt die Unterdrückten. Infolgedessen verlieren diese ihre Fähigkeiten und ihre Lust, einen Gleichheitskampf zu führen (vgl. Marshall: 3).

Ideologie ist eine Einheit der systemisierten Gedanken im Kopf des Individuums. Nach bestimmter Kenntnisbildung und Wissensgewinnung wandelt sich der Glaube zur Ideologie um. Die Beziehung zwischen Religion und Ideologie macht sich in diesem Zusammenhang bemerkbar. Ideologien und Religionen wirken als Anziehungskräfte für die Menschen. Die Ideologien, so wie Kommunismus, Liberalismus, Sozialismus haben wichtige Organisationen, Kenntnissysteme, Glauben. In diesem Zusammenhang stellen sich die Ideologien wie die Religionen an (vgl. Akdoğan: 18f).

„Politik als vielschichtiger Begriff umfasst allgemein die Gesamtheit der Verfahren und Handlungen von einzelnen, Institutionen und Organisationen, die öffentlichen Belange durch Entscheidungen zu regeln“ (Brockhaus 1992: 300).

Politik, Griechisch politike, kann auch als "Kunst der Staatsverwaltung" definiert werden (der Duden 1999: 539). Weber betrachtet Politik als das Streben nach Machtanteil (vgl. Parla: 131). Macht ist die wichtigste Eigenschaft der Politik.

Nach Mardin kann die Religion unter milden Ideologien klassifiziert werden. Er unterscheidet zwischen harten und milden Ideologien; eine harte Ideologie bezieht sich auf ein theoretisches Fundament, in dem es systematisch bearbeitet und entwickelt wird, und beschränkt sich auf die intellektuelle Kultur. Er versteht unter einer milden Ideologie ein amorphes (formloses) und kognitives System der Massen. Im diesem Punkt beweist sich die Religion als ein solches formloses - kognitives System und ist daher eine milde Ideologie (vgl. Mardin 1999: 13f).

Wie bereits erwähnt, wirken die Religionen und Ideologien sowohl auf den privaten als auch auf den gesellschaftlichen Bereich ein bzw. sind mit ihnen verschmolzen. Die Konkurrenz zwischen ihnen, die in seltenen Fällen zum Kampf zwischen Religion und Ideologien führt, wie bei Kommunismus, Sozialismus und Liberalismus, ist bisher immer heftig gewesen (vgl. Akdoğan: 18). Es hat in der Vergangenheit auch Momente gegeben, wo ein Kompromiss zwischen einer Religion und einer Ideologie aufgebaut wurde. In den 60er Jahren ist der Strategie-Vorschlag von Enrico Berlinguer, der General Sekretär der Italienischen Kommunistischer Partei, hier zu erwähnen. Berlinguer schlägt einen historischen Kompromiss zwischen den gesellschaftlichen Kräften der katholischen Kirche und den kommunistischen Arbeitern vor (vgl. Öner: 61). Im Lichte der oben geführten Definitionen der Religion, Ideologie und Politik kann man sagen, dass die Beziehung zwischen der Religion, der Ideologie und der Politik sehr eng ist.

2.2. Islamismus: islamistischer Fundamentalismus: Politischer Islam

Ein klarer Terminus des sozialen und politischen Phänomens der islamischen Bewegungen, die wir ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im allgemeinen in der Welt des Islam erleben, ist immer eine schwierige Aufgabe für die Sozialwissenschaftler gewesen. Spielereien mit dem Terminus führten zu öffentlichen Debatten. Islamismus, Integrismus, Politisierung des Islam, Fundamentalismus, Wiederbelebung des Islam, Re-Islamisierung, Orthodoxie, Traditionalismus sind nur einige Begriffe, die unter „islamistischer Bewegung“ klassifiziert werden können (vgl. Kepel: 22f). Fundamentalismus ist der Begriff, der in deutschsprachigem und englischsprachigem Raum seine Verwendung hat. Im französischen Sprachraum wird gern der Begriff „Integrismus“ (integrisme) benützt (vgl. Büttner: 1997). In der Türkei wird der Begriff „Fundamentalismus“ eher nicht benützt, Politischer Islam (siyasi İslam) ist der einzige Begriff, der seinen Platz in der sozialwissenschaftlichen, politischen und alltäglichen Anwendung gefunden hat.

Auf der theologischen Ebene existiert ein sehr breiter Meinungsunterschied zwischen den islamischen Intellektuellen bezüglich der Interpretation der politischen und sozialen Verwirklichung der Heiligen Schriften. Im Gefolge der unterschiedlichen Interpretation des Korans entstehen mannigfaltige Bewegungen mit unterschiedlichen Zielen und Methoden (vgl. Roy: vii). Islamische Bewegungen beruhen auf einem Fundament, nämlich auf der Ideologie des Islamismus. In der Tat sind die fundamentalistischen Strömungen im Islam nicht die Produktion des 20. Jahrhunderts. Seit Jahrhunderten sind solche Bewegungen beobachtbar. Sayyid Jamal al-Din al Afghani (vgl. Türköne: 35) und Hasan El-Banna (vgl. Akdoğan: 92) werden als die Theoretiker der islamistischen Ideologie, nämlich des Islamismus angenommen, aber der ägyptische Islamist Sayyid Qutb hatte auch einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Grundlagen der islamischen Ideologie im 20. Jahrhundert. Qutb beschuldigt die Welt in der Jahilliya, der der heutigen Welt vorausgehenden Periode, der Unwissenheit. Nach Vorstellungen von Qutb sind die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts auch in dieser Unwissenheitsperiode und das Ziel des wahrhaften Muslims soll das Brechen mit der Jahilliya sein. Der wahrhafte Muslim muss mit aller Macht ihre Zerstörung betreiben und auf ihren Ruinen einen islamischen Staat errichten. Das Vorbild soll das Leben des Propheten Mohammed sein (vgl. Kepel: 39f).

Die wichtigste Charakteristik des Islam ist seine umfangreiche Aussagebreite. Der Islam als eine monotheistische und universalistische Religion umfasst alle Bereiche des Lebens. Der Islam setzt sich die Rationalisierung des menschlichen Verhaltens zum Ziel. Mit anderen Worten bedeutet das für den Islam die totale Unterwerfung unter Gott (vgl. Eisenstadt: 342).

Die Ideologie des Islamismus[4] hat drei wichtige Elemente. Als erstes Element ist hier die theokratische Staats- und Gesellschaftsdoktrin zu erwähnen. Eine volle Fusion der Politik und der Religion ist in islamischer Form des Staates zu beobachten (vgl. Eisenstadt: 345ff). Mit anderen Worten, Politik und Religion sind im Islam untrennbar, weil alle Gewalt von Gott aus geht. Der Islam selbst bestimmt das politische Leben der Muslimen und in diesem Sinne ist Gott der einzige Herrscher im politischen Leben. Das gilt ebenso für die monotheistischen Weltreligionen wie die christliche und jüdische. Besonders wurde in der christlichen Religion nach den Jahrhunderte dauernden Kämpfen zwischen der Kirche und den Bürgern eine absolute Trennung von Staat und Kirche erreicht. Im Islam kam kein Konflikt in Hinblick auf die Trennung der Religion vom politischen Leben heraus. Der Grund dafür ist, dass die sozioökonomischen Umstände in der islamischen Welt anders als in der westlichen Welt waren. Ein weiterer Faktor war die Sonderposition der Scharia als allumfassendes Gesetzeswerk.

Der Fundamentalismus zielt darauf, das Konzept „Hakimiyet Allah“[5] im Sozialen und Politischen zu verwirklichen ab. Um diese theokratische Staats- und Gesellschaftsdoktrin rechtfertigen zu können, gehen Islamisten von dem Ausspruch des Propheten Mohammed aus: „Alle Macht und Gewalt liegt bei Allah“. Für die Dominanz von politischen und rechtlichen Normen entscheiden Islamisten stellvertretend auf die Welt. In einem solchen totalen System findet aber die Opposition keinen Spielraum (vgl. NRW 2001: 6). In diesem Kontext können wir sagen, dass es im Islam neben einer religiösen Autorität keine andere Institution gegeben hat. Die religiöse Autorität, Sultan, Schach, König, ist die einzige regierende Autorität. Daher wurden die Religion und die Politik im Islam im selben Kontext gedacht. Gehorsam der politischen Autorität ist ein Muss und Zwang im islamischen Staat. Nach Türköne werden die muslimischen Massen von den politischen Thesen des Islam nicht informiert, sondern sind nur dem Gehorsam-Konzept verpflichtet (vgl. Türköne: 17f). Die Funktion des Islam in der gesellschaftlichen Ebene ist dynamischer als die der anderen Religionen der Welt. Mit anderen Worten bestimmt der Islam die Normen für das gesellschaftliche Weiterleben und die Institutionen. Man kann diskutieren, ob der Islam all die nötigen Normen für das Leben hervorgebracht hat, wahr ist aber, dass in den islamischen Gesellschaften alles Verhalten des Individuums durch den Islam eine Legitimation bekommen hat. Wie Türköne hervorhob, ist der Einflussbereich des Islam sehr weitreichend. Es existiert keine Institution wie die Kirche im Islam. Der Islam schreibt die Entstehung einer Ümmet (Gemeinschaft der Muslime) vor. Infolgedessen lebt die Religion wie ein Organismus in der Gesellschaft. Vier von den fünf Hauptvoraussetzungen des Islam (Anbeten, Fasten, Pilgram und Zekat) benötigen ein kollektiv-gesellschaftliches Vollstrecken (vgl. Türköne: 17f).

Islamisten lehnen auch die säkularistischen Modelle ab. Nach Vorstellungen von Verfechtern der islamistischen Ideologie gibt es nur einen einzigen sinnstiftenden Begründungszusammenhang für alle Belange, in denen der Mensch lebt. Das Hauptprinzip der islamischen Theologie „Einheit Gottes“ spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Forderung nach Einheit der sinnstiftenden Bezüge. Die Islamisten betrachten den Islam nicht nur als Religion, die Bedingungen für eine bedeutungsvolle Existenz des einzelnen und der Gemeinschaft vorschreibt, sondern als ein Rechtssystem, als eine politische Ideologie im islamischen Sinne und auch als Rahmenordnung für den Staat, welche die institutionellen Grundlagen für die wirtschaftlichen und politischen Sphären des Staates definiert (vgl. Büttner 1997). Der Fundamentalismus ist totalitär und anti-pluralistisch (vgl. Tibi 2000: 15). Qutb betrachtet den Nationalismus und Nationalstaat als ein Hindernis für die Herrschaft Gottes. Im Allgemeinen betrachten die Islamisten ihre eigenen westlichen Regierungen als Haupthindernis bei der Verwirklichung eines Gottesstaates, der von der Scharia dominiert wird. Sie führen einen Heiligen Krieg (Djihad) gegen diese westlichen Regierungen (vgl. Hottinger 1993: 9).

Zwischen den islamistischen Intellektuellen herrschen zwei unterschiedliche Meinungen bezüglich des Staatskonzeptes im Islam. Die erste Gruppe betrachtet den Islam neben seinen religiösen und Glaubenseigenschaften als eine Staatsordnung. Die zweite Gruppe der Intellektuellen glaubt, dass der Islam nicht politisiert werden kann. Die Befürworter eines islamischen Staates gründen ihre Behauptungen auf einige Verse im Koran: „ Jenen, die, wenn wir ihnen auf der Erde Macht geben, das Gebet (salaat) verrichten, die Almosensteuer (zakaat) geben, gebieten, was recht ist, und verbieten, was verwerflich ist. Und Allah entscheidet in letzter Instanz „ (Koran: Sura Pilgramfahrt 22, Nr. 41). Befürworter eines islamischen Staates haben den Slogan „Souveränität gehört nur Allah“ im Munde. Nach Behauptungen dieser Gruppe von Intellektuellen ist eine islamische Regierung die Voraussetzung für einen Gottesstaat. Es besteht die Notwendigkeit eines Gottesstaates um die Überlegenheit des Islam gewährleisten zu können, um den Atheismus zu bestrafen, um die Sicherheit von Hab und Gut, Leben und Ehre zu beschützen, Gerechtigkeit geltend zu machen, Djihad im Namen des Islam zu führen. Die Befürworter eines islamischen Staates fordern einen islamischen Staat, in dem der Wille Gottes auf der Erde geltend gemacht wird. Kurz, sie bestehen auf der Behauptung, dass die politische, kulturelle und wirtschaftliche Krise der Menschheit mit Hilfe einer islamischen Staatsordnung überwunden werden kann und muss. Die zweite Gruppe von Intellektuellen glaubt, dass der Islam nicht mit dem Regieren zu tun hat. Ihre Behauptungen basieren auch auf der Zeit des Propheten und betonen, dass der Islam keine Staatsform vorschreibt. Sie finden keine Staatsform, weder im Koran noch in den Hadisen des Propheten. Prophetengabe hat keinen Zusammenhang mit Staatspräsidentschaft. Der Prophet erfüllt nur die Einladungsaufgaben zur Religion. Er besitzt keine Gier auf Staatspräsidentschaft. Diese Gruppe beschuldigt die muslimischen Politiker und macht sie für die Rückständigkeit der islamischen Welt verantwortlich. Nach Behauptungen dieser Gruppen hat der Westen den Konflikt „Staat-Religion“ schon längst überschritten und eine technologische Überlegenheit bewiesen (vgl. Duman: 279ff).

Die zweite Grundvorstellung der Ideologie des Islamismus ist doktrinäres rückwärtsgewandtes Islamverständnis. Die heutigen Krisen der islamischen Länder auf der Welt sind die Ergebnisse von Kolonisierung durch die westlichen Mächte und von westlichen Normen, welche von islamischen Ländern, so wie die Türkei, angenommen wurden. Diese Normen sind Laizismus und Demokratie. Islamisten glauben daran, dass nur eine konsequente Rückorientierung auf den Ur-Islam aus der Zeit des Propheten die islamische Welt wieder retten kann (vgl. NRW 2001: 6f). Die Fundamentalisten bieten der Bevölkerung eine islamische Alternative an, die eine Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme verspricht (vgl. Pott: 142f). Die islamistischen Bewegungen tauchen als eine Antwort auf die Modernität auf. Das primäre Ziel der islamistischen Bewegungen ist die Re-Islamisierung des Alltagslebens und Herstellung des göttlichen Systems. Die Nuancen in den Interpretationen des Islam, methodische Vorgänge zur Zielsetzung zu machen, lassen sich durch die mannigfachen Bewegungen voneinander unterscheiden. Der Ausgangpunkt der islamistischen Bewegungen kann durch die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme und die Ungleichheiten in den Ländern des Islam beschrieben werden. Sie stellen sich als eine Lösung für die oben genannten Probleme in diesen Ländern, die sie seit Jahren erleiden, dar (vgl. Kepel: 22f). Die Diskussionen laufen darüber ab, ob die frühislamischen Vorstellungen und die Lebensweise vom 7. Jahrhundert auf das 21. Jahrhundert übertragungsfähig sind.

Die Ideologie des Islamismus betrachtet den Koran als Richtschnur für alle Lebensbereiche. Alle politischen, sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Entscheidungen müssen mit Hilfe des Korans und dem aus ihm abgeleiteten islamischen Recht (Scharia) getroffen werden (vgl. NRW 2001: 6f) In der Philosophie von Qutb hat die Anbetung von Götzen im negativen Sinne einen großen Wert: Regierender oder Politiker ist ein Despot oder ein Pharao, der sich göttliche Souveränität anmaßt, die auf der Erde Gerechtigkeit verbürgt. Willkür, Missachtung der Gebote, Ungerechtigkeit sind die Eigenschaften dieses Pharaos. Ein Lösen von diesem Pharao ist nur mit der Einführung des göttlichen Gesetzes, nämlich der Scharia, möglich (vgl. Kepel: 40).

Es herrscht eine Verwirrung um den Begriff des Fundamentalismus. In der allgemeinen Anwendung wird der Begriff des Fundamentalismus meistens ohne klare inhaltliche Umrisslinie verwendet. Vielfach ist der Begriff des Fundamentalismus sehr eng mit dem Islam verbunden (Bielefeld/Heitmeyer 1998: 11). In den öffentlichen Medien des Westens wird anlässlich der Terrorakte der fundamentalistischen Gruppen der Islam als Feindbild dargestellt. Obwohl der Fundamentalismus als eine protestantische Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten erstmals auftrat. Nach Bielefeld und Heitmeyer wird der Begriff des Fundamentalismus häufig in polemischer Absicht verwendet (ebd. 11).

Im Großen und Ganzen verschmelzen die Begriffe Fundamentalismus und Islamismus miteinander (vgl. Kernic: 2). Büttner macht einen Unterschied zwischen den beiden Begriffen. Nach seinen Vorstellungen beinhaltet der Islamismus nicht nur die Politisierung des Islam, sondern seinen Missbrauch für politische Zwecke mit seiner Transformation in eine Ideologie. Nach Büttner bezieht sich „Fundamentalismus“ auf eine verengte, in ihren radikalen Varianten stark ideologische Form des Umgangs mit den Grundlagen der Religion (vgl. Büttner 1997). Nach Hottinger aber kann der islamische Fundamentalismus oder Islamismus als Umwandlung des Islam in eine Ideologie verstanden werden, für ihn es gibt keinen Unterschied zwischen beiden Begriffen (vgl. Hottinger 1993: 48). Am einfachsten kann der Fundamentalismus als „ eine spezifisch moderne Form einer politisierten Religion“ definiert werden (Bielefeld/Heitmeyer: 11).

Wörterbücher bezeichnen das Wort Fundamentalismus als "das kompromisslose Festhalten an politischen, religiösen Grundsätzen" (Meyer’s Lexikon 1993). Zuerst entstand der Fundamentalismus zwischen 1910-1915 vor allem in Nordosten der USA als eine religiöse Bewegung des amerikanischen Protestantismus zur Abwehr des Liberalismus (Abdullah, Laila 1998: 42). Als Reaktion auf die Veränderungen in der protestantisch geprägten, überwiegend agrarischen Gesellschaft infolge der raschen Urbanisierung und Industrialisierung wandelte sich der Fundamentalismus von einer theologischen Debatte zu einer breiten gesellschaftlichen und politischen Protestbewegung. Charles Darwins Evolutionstheorie und Bibelkritik waren weitere Gründe für die Zuspitzung dieser Prozesse. Die ursprüngliche Fundamentalismusbewegung unter der World’s Christian Fundamentals Association ging mit Entschiedenheit davon aus, dass die Bibel das direkte Wort Gottes und aus diesem Grund irrtums- und widerspruchsfrei sei (vgl. Büttner 1997).

In der Türkei ist auch eine ganze Reihe islamistischer Bewegungen zu beobachten. Das Entstehen des Islamismus als eine Alternativlösung für das zerfallene Osmanische Reich ging aus den Jahren 1867-1873 hervor, als eine kleine Gruppe von muslimischen Intellektuellen in Istanbul den Islam als Antwort auf die Überlegenheit der modernen westlichen Welt ideologisiert hatte (vgl. Türköne: 13). Dabei haben die Sorgen der osmanischen Intellektuellen wegen der Überlegenheit des Westens eine große Rolle gespielt.

Wie bereits erwähnt wurde besonders mit der islamischen Revolution im Iran (1979) der Begriff "Fundamentalismus" nur als „islamischer Fundamentalismus" wahrgenommen. Der Islam und der Fundamentalismus werden häufig so eng miteinander verknüpft, dass der Islam als ein Feindbild betrachtet wird (vgl. Bielefeld/Heitmeyer: 11). Nach Kepel kann man auch im Christen- und Judentum religiösen Fundamentalismus beobachten. Der einzige Unterschied des islamischen Fundamentalismus zum christlichen und jüdischen liegt in seiner Dynamik. Der islamische Fundamentalismus ist dynamisch und weit verbreitet (vgl. Kepel: 22ff). In der islamischen Welt wird das Wort benützt, um eine Strömung im Islam zu definieren, deren Vertreter die ursprüngliche und reine islamische Religion zur Grundlage des sozialen und politischen Lebens machen wollen.

Der Fundamentalismus wird von vielen Politologen und Sozialwissenschaftlern entweder als Re-Islamisierung oder als die Politisierung des Islam oder als Wiederbelebung des Islam definiert. Nach Tibi ist der Fundamentalismus die Politisierung des Islam. Andererseits definiert Roy die islamische Bewegung, die den Islam als politische Ideologie wahrnimmt, als Islamismus (vgl. Roy: ix). Tibi betrachtet aber den Islamismus als eine Spielart des religiösen Fundamentalismus (vgl. Tibi 2000: 2) Tibi verweist auf den Unterschied zwischen Re-Islamisierung und Politisierung des Islams. Nach Tibi kann man nicht von einer Re-Islamisierung in der Türkei sprechen. Er spricht bei diesem Phänomen von der Politisierung des Islam: "Experten waren schon lange mit dem Phänomen der Politisierung des Islam in der Türkei vertraut, ein Phänomen, das Nicht-Experten und leider auch eigene vermeintliche Experten fälschlicherweise als Re-Islamisierung bezeichnen. Dieser Begriff ist deshalb falsch, weil die Vorsilbe "Re" die Bedeutung "wieder" hat, also: Wieder-Islamisierung. Durch diesen Sprachgebrauch wird unterstellt, dass die Re-Islamisierung nach einer vorausgegangen Ent-Islamisierung erfolgt. Das entspricht nicht den Tatsachen. Der Islam wurde nach der Auflösung der islamischen Ordnung des Osmanischen Reiches (Abschaffung des Kalifats 1924) lediglich entpolitisiert. In der Türkei beispielsweise hat der Islam nie aufgehört zu existieren und das Leben der Türken zu bestimmen; er blieb, sieht man von der verwestlichten Elite der Kemalisten ab, stets die religiös-kulturelle Quelle der Identität der Mehrheit der Türken. Von einer Re-Islamisierung kann daher keine Rede sein" (Tibi 1998: 76).

Einige Eigenschaften der fundamentalistischen Bewegungen sind hier zu erwähnen. Die fundamentalistischen Bewegungen sind die Produkte der Moderne und auch Reaktionen auf die Moderne. Aber sie richten sich nicht gegen die Moderne, sondern sind ein Widerstand gegen bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Auswirkungen und Erscheinungen. Sie sind nicht gegen Technologie und Wissenschaft, sie lehnen einfach die kulturelle Moderne ab. Akdoğan ist der Auffassung, dass die Träger der fundamentalistischen Ideologie in der Türkei die Eigenschaften einer modernen Gesellschaft darlegen und die Modernisierung der Ideologie des Islamismus beschleunigen. Nach Akdoğan beinhaltet eine moderne Gesellschaft folgende Eigenschaften in sich: zunehmende Urbanisierung mit hohem Industrialisierungsstand, verbreitete Kontrolle über die Umwelt, hohes Niveau an sozialer und politischer Organisation, niedriges Analphabetentum, funktionelle Differenzierung in der Bürokratie, politischer Pluralismus, säkulare und profane Gedanken. Zwar erhoben gewisse Flügel der Ideologie des Islamismus Einwände gegen die Modernität, trotzdem blieb die Debatte auf theoretischer Ebene begrenzt. In der Tat setzen die Islamisten alle Hebel in Bewegung und nutzen die Möglichkeiten der Modernität. Die Träger der Ideologie des Islamismus sind das Produkt der Modernität. Sie sind nicht die Mullahs, sondern sie bekamen ihre Erziehung von säkularisierten Organisationen. Sie sind Ärzte, Ingenieure, Bürokraten, Lehrer, Journalisten und Juristen (vgl. Akdoğan: 117ff).

Xenophobische Tendenzen besonders gegenüber Israel und den USA bei den fundamentalistischen Bewegungen sind beobachtbar. Eine weitere Eigenschaft von fundamentalistischen Bewegungen ist Geschlechterdualismus: Die Rolle der Frauen bei den fundamentalistischen Bewegungen ist sehr gering und wirkungslos. Die fundamentalistischen Bewegungen sind auch die undemokratischen Anti-Frauen Bewegungen. Die Schlüsselpositionen in den fundamentalistischen Bewegungen sind in der Regel von Männern besetzt. Vor den Nationalratswahlen 1999 bemühte sich die Tugend-Partei in der Türkei, ihr Image als Männerpartei zu verbessern. In diesem Zusammenhang hat die Tugend-Partei die Anzahl der Frauen bei den Wahllisten in den Führungspositionen der Partei erhöht. Die Tugend-Partei ernannte Ilıcak, Akgönenç und Gülten Çelik als weibliche Mitglieder des Zentralen Beschlussfassungsorgans (vgl. Narlı 1999: 42).

Eine andere Charakteristik des islamischen Fundamentalismus ist seine universelle Annahme. In den Augen des Fundamentalisten beansprucht das System des Gottes (Scharia) seine Gültigkeit für alle Menschen, nicht nur für Muslime. Daher erstreben die Fundamentalisten ein System, das auch für Nicht-Muslime Gültigkeit hat.

Nach Tibi besitzt der Volks-Islam der Tarikat[6] in der Türkei keinen Fundamentalismus in sich, bediene sich aber der Einrichtungen der Tarikat, um ihre Strategie der Politisierung des Islam voranzutreiben (vgl. Tibi: 93). Die Refah-Partei und ihre Nachfolgerin, die Tugend-Partei (Fazilet Partisi), ist im Sinne der oben angeführten Definition des Fundamentalismus auch eine fundamentalistische Bewegung. Damit erzielen sie die Politisierung der Religion. Hier ist hervorzuheben, dass die türkischen Islamisten die institutionellen Wege verfolgen, im Gegensatz zu den Untergrund-Fundamentalisten der anderen islamischen Länder, die mit Terrorismus und Gewalt ihren Weg gehen wollen. In der Türkei ist eine Spaltung des Fundamentalismus in radikale und gemäßigte Gruppen beobachtbar. Die gemäßigten Gruppen, wie die Vertreterin des politischen Islam, Işıkçılar usw. sind in das System integriert (vgl. Hottinger 1993: 10).

Zusammengefasst, der Islam ist in der Tat ein Lebensstil. Religion, Politik, Rechtswesen und soziale Normen sind unter einer Autorität vereinigt, die zu Gott gehört. Islamisten beziehen sich auf diesen Eigenschaften des Islam und fordern einen Staat, in dem das Gesetz Gottes herrscht. Den Grund zur Entstehung eines solchen Systems kann die Ära des Propheten Mohammad enthüllen. Mohammad ist der Verbreiter der islamischen Religion. Er tritt als Führer des islamischen Staates, als Armeeoberbefehlshaber und auch als Richter auf. Durch diese Charakteristika lässt sich die so genannte Annahme in der islamischen Welt verbreiten; die politische und islamische Führerschaft lässt sich voneinander nicht trennen. Die fundamentalistischen Bewegungen mit der Ideologie des Islamismus kämpfen um ein totales System, in dem die Herrschaft Allahs ihre Geltung hat.

[...]


[1] Die Vertreterin des Politischen Islam in der Türkei ist die Partei der Milli Görüş (nationale Sichtweise = Nationale Sicht) Bewegung. Aufgrund des türkischen Parteiengesetzes und restriktiver Artikel der türkischen Verfassung sollten die Parteien von Milli Görüş verboten und dann geschlossen werden. Als ich meine Forschung über den Politischen Islam in der Türkei begann, operierte die Refah-/Wohlfahrtspartei. Die Refah Partei und die nach dem Verbot der Refah durch den Verfassungsgerichtshof gegründete Fazilet-Partei wurde auch im Jahre 2001 vom Verfassungsgerichtshof wegen Verletzung der laizistischen Prinzipien der Republik verboten. Als ich mich dem Ende meiner Arbeit näherte, ist anstelle der Fazilet, im Juli 2001 die Saadet Partei als 5. Partei seit 1972 von derselben Ideologie „Islamismus = Nationale Sicht“ gegründet worden. Daher werde ich meistens die Bezeichnung „Partei der Nationalen Sicht“ anstelle von bestimmten Parteiennamen bevorzugen. Der Name einer Milli Görüş Partei wird dann eingeführt, falls das angegebene Thema nur diese Partei betrifft. In dieser Arbeit wird häufig die politisch erfolgreichste und vom Diskurs her reichste Refah „Wohlfahrtspartei“ untersucht.

[2] In dieser Arbeit wird insbesondere die Verwendung des Wortes „islamisch“ von der des Wortes „islamistisch“ unterschieden. Ich verwende das Wort „islamisch“, um all die Verhaltensweisen auszudrücken, die auf der Religion basieren. Demzufolge ist das Zekat (religiöse Almosensteuer) ein „islamisches“ Gebot. Andererseits verwende ich das Wort „islamistisch“, um all die Handlungen und Haltungen auszudrücken, die die Religion als eine politische, ökonomische oder kulturelle Kraft zur Geltung bringen. Insofern ist die Refah Partei eine „islamistische Partei“, da sie die Politisierung des Islam mobilisiert.

[3] In dieser Arbeit wird der Islamismus als eine Ideologie, die in sich als Weltanschauung die Instrumentalisierung der Religion zur Politik versteht, verwendet.

[4] Islamismus und Fundamentalismus: Nach Hottinger gibt es keinen Unterschied zwischen beiden Begriffen, (vgl. Hottinger: 1993: 48).

[5] Hakimiyet Allah: arabisch : Herrschaft Allahs: Das Fundament des islamischen Fundamentalismus. Der wahrhafte Muslim muss alle Hebel in Bewegung setzen, um der Herrschaft Gottes (Scharia) in der Welt als einziges System Geltung zu verschaffen. Dazu lese: Tibi, Bassam: Fundamentalism in Islam 2000: 10-12 und Roy, Olivier: The Failure of Political Islam 1994: 35-38.

[6] Tarikat: (türkisch): "Weg", Pfad. Orden, Bruderschaft und Traditionsgemeinschaft in der Nachfolge eines mystischen Meisters. Alle orthodoxen Tarikats verweisen in einer ununterbrochenen Kette von heute lebenden Meistern über die Gründer der Tarikat auf den Propheten selbst und seine engsten Gefährten.

Ende der Leseprobe aus 120 Seiten

Details

Titel
Milli Görüs: Vertreterin des Politischen Islam in der Türkei: eine historische Analyse 1970-2000
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
2
Autor
Jahr
2003
Seiten
120
Katalognummer
V14613
ISBN (eBook)
9783638199667
Dateigröße
718 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Milli, Görüs, Vertreterin, Politischen, Islam, Türkei, Analyse
Arbeit zitieren
Göksel Yilmaz (Autor:in), 2003, Milli Görüs: Vertreterin des Politischen Islam in der Türkei: eine historische Analyse 1970-2000, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14613

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Milli Görüs: Vertreterin des Politischen Islam in der Türkei: eine historische Analyse 1970-2000



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden