Existentialistische Albträume aus der Musik geschöpft

Musikvideos von Chris Cunningham


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

24 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1.Einleitung

2.Wer ist Chris Cunningham — kurze Vita

3.Erzählen durch Klang und Bild

4.Das Verhältnis Mensch — Technik
4.1.Verhältnis Mensch — Technik
4.2.Aphex Twin „Come to Daddy"
4.3.Fazit

5.1.Die Einsamkeit
5.2.Portishead „Only you"
5.3.Fazit

6.1.Die Einsamkeit
6.2.Madonna „Frozen"

7.Zusammenfassung

8.Literaturliste

1 . Einleitung

„Beim Clip ist es so, daß sich der Zuschauer, getrieben von den verschiedensten Wünschen, aus der realen Welt herausträumt, um in einer künstlichen Medienwelt zu landen, die ihm Geistwelt vort el uscht. In dieser Welt gewöhnt er sich an Kitsch, Hektik und Brutalität, und obendrein werden gerade jene Krafte geschwöcht, die für echte Imagination notig sind."1

Solchen oder ähnlichen Kommentaren zu Musikvideos begegnet man häufig, vor allem in der Literatur der frühen 1990er Jahre, als das Musikfernsehen gerade begann, sich zu behaupten und Videoclips als eigenständige Kunstform zu etablieren. Ungeklärt bleibt die Frage, wie der Clip dies vollbringt und unbeachtet, welche Rolle hierbei die Musik einnimmt.

Andererseits viel gerühmt als Verkörperung einer postmodernen Kunstauffassung, in der mit Hierarchien gebrochen und bekannte Symbole in komplett neue Zusammenhänge gestellt werden erhält er langsam Einzug in die „anerkannte" Kunst, indem auf Ausstellungen oder in Galerien Clips oder Videoinstallationen laufen.

Beschäftigt man sich mit innovativer Videokunst, Werbeclips und Musikvideos, die im Grunde alle die gleichen Wurzeln haben und einander stetig beeinflussen, kommt man an Chris Cunningham nicht vorbei. Seine Videos zeichnen sich meist durch hohe technische Kunst, dunkle Bilder und sich verwandelnde Figuren aus. Eine ungemein groBe Rolle spielt fir ihn hierbei die Musik, ist sie doch die Basis fir seine Ideen, die Inspiration all seiner Bilder:

„Ich sehe nie fern und gehe nicht fünfmal die Woche ins Kino" sagt Chris Cunningham. „Aber ich höre immer Musik, elektronische Musik. Und nachdem ich viel beim Film gearbeitet habe, denke ich in Bildern, wenn ich Musik höre."2

Anhand dieses äuBerst erfolgreichen Regisseurs soll untersucht werden, wie eine solche Arbeitsweise von Statten geht und wie sich diese wiederum in der Asthetik der kleinen Filme niederschlägt. Hierbei soll besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, dass Cunninghams Videos menschliche Grundängste, - vermittelt durch einen schier unerschöpflichen Vorrat an Albtraumbildern - in eine hoch technisierte Welt transponiert und der Versuch unternommen werden, zu prüfen, ob diese Bilder tatsächlich bereits in der Musik angelegt sind3.

Methodisch stellt sich jedoch die Schwierigkeit, ein geeignetes Analysesystem sowohl fir die zum Teil elektronische oder populäre Musik, als auch fir die Videoclips selbst zu finden, weswegen jedes Video hauptsächlich mit den Mitteln der Filmanalyse einzeln und zunächst fir sich allein betrachtet wird.

2 . Wer ist Chris Cunningham — Eine kurze Vita

Um der Frage nach einer Wirkungsasthetik, vor allem deren Merkmalen naher zu kommen, ist es immer wichtig zu wissen, von wem man spricht, da ja ein Kunstler nie von seinem Leben entkoppelt ist, wenn er arbeitet, sondern vielmehr einen Teil von sich nach auBen tragt.

Chris Cunningham ist 1970 in Reading, in der Grafschaft Berkshire in GroBbritanien geboren. Mit 16 brach er die Schule ab, um als Comic-Zeichner zu arbeiten und schaffte es schlieBlich, in den frühen 1990ern Figuren und Roboter fur die Major Motion Picture Studios zu entwerfen. Hier traf er auf GroBen wie Clive Barker („Hellraiser", diverse Computerspiele) und David Fincher (auf der diesjahrigen Berlinale mit „Der seltsame Fall des Benjamin Button" zu bewundern), die ihn in seinem Wirken beeinflussten, zumindest konnte er so von Stanley Kubrick fur den nie fertig gestellten Film „A. I." verpflichtet werden.

"The weird thing was, I realized I was working with Stanley Kubrick and not enjoying it. What I was into was music, and at the time it was really electronic music so I didamusic video for Autechre and realized that's what I wanted to do."4

1997 gelang ihm schlieBlich -nach seinem Debut „Second bad Vilbel" von Autechre 1995- der groBe Durchbruch mit dem Video zu Aphex Twins „Come to Daddy", woraufhin er Angebote von Madonna, aber Bjork bis hin zu Portishead und diversen Elektro-Musikern erhielt.

Neben diversen Fernseh-Werbe-Spots produzierte er 2000 unter Mitarbeit von Aphex Twin nun auch 2 Videoinstallationen fur die Royal-Academy-of-Arts-Ausstellung „Apocalypse": „Monkey Drummer" und „Flex".

Im Jahre 2005 entstand ein experimenteller Kurzfilm „Rubber Johnny"5, der wohl nach jüngsten Ereignissen in Osterreich um Josef Fritzl um so makaberer wirkt.

Es bleibt abzuwarten, was Cunningham als nachstes prasentieren wird.

„Heute hat er ein Bro in Ridley Scotts Produktionsfirma, einen Kapuzenpulli von Madonna, einen Roboter mit dem Gesicht von Bj o rk und fr die Kinoregie von William Gibsons „ N euromancer" unterschrieben. Zuvor aber will er noch ein „Teenager-Sex-Drama" drehen."6 Offenkundig ist in jedem Falle, dass Cunningham sich nicht auf ein Genre festlegt und durch vielerlei Einflüsse, wie Kino, Comics, die Werbung oder Computerspiele gepragt ist.

3 . Erzählen durch Klang und Bild

Visuelle Reize scheinen zunächst präsenter, eindeutiger und rationaler zu funktionieren, als die meist als begleitend empfundenen Klänge der Musik.

In Wirklichkeit ist es aber so, dass nachgewiesener MaBen die Aufmerksamkeit auf das Visuelle durch akustische Signale geschärft wird.7 Im Film wird dies genutzt, indem ein Szenenwechsel meist schon durch Musik angekundigt wird. Weiterhin ist der Klang fir das Film-Schauen von sehr groBer Bedeutung, weil uber das Ohr sowohl die Raum-, als auch die Zeitwahrnehmung gelenkt wird.8 Gilles Deleuze vermerkt in seinen Untersuchungen zum Kino, dass Musik laut gewordene Zeit sei 9 und es bedarf einer Rahmung aller Szenen und Einstellungen durch den Ton, um diese hintereinander ablaufenden Bilder fir den Zuschauer miteinander zu verknüpfen.

Fur das Musikvideo ist das insofern interessant, als dass auch das Empfinden von Geschwindigkeit durch das Akustische getragen wird, in diesem konkreten Falle also die Musik die Dynamik der Bilder ganz automatisch steuert, weswegen in den 80er-Jahren möglichst synchron auf den Beat des Songs geschnitten wurde.

Weiterhin wird auch bei der Wahrnehmung von Musikvideos primär auf ein semantisch-narratives Schema geachtet, d. h. der Mensch legt sein kausal-inhaltliches Denken auch bei der Bebilderung von Musik nicht ab, d. h. die Konstruktion von Sinn steht beim Zuschauen im Vordergrund und die Musik bietet zuallererst Interpretationshilfe, dient als fester Rahmen fir die einzelnen aneinander montierten Einheiten.

Dabei bezieht man Klang und Bild automatisch aufeinander, so wie sich scheinbar alle Menschen im Rhythmus bewegen, wenn man mit Kopfhörern unterwegs Musik hört.

„Im Film kann eine kontinuierlich verlaufende Melodie oder ein gleich bleibendes Metrum wechselnde visuelle Eindrücke wie auf einer Folie verschmelzen."10

Die Musik hat dabei die Funktion, Stimmungen und Emotionen auszulösen, die die Wirkung der Bilder potenzieren oder kontrastieren kann und bleibt dabei immer Ton angebend, wie die Bilder zu empfinden sind. Der Mensch kombiniert aus zwei Sinneskanälen eine gemeinsame Information, Bild und Ton gehören zusammen und werden somit auch simultan verstanden11.

Bild und Ton verhalten sich also so, dass das Visuelle dominert, das Akustische jedoch auch ohne

Bilder funktioniert. Ein Film oder Musikvideo ohne Ton dagegen verliert seine Rahmung, erzeugt kein Raum- und Zeitgefge mehr, was daran zu sehen ist, dass sogar der sogenannte Stummfilm nie wirklich stumm war, sondern schon immer von Musik oder Gerauschen, zB. durch eine Kinoorgel, untermalt war.

Nach diesen theoretischen synasthetischen Grundlagen, interessiert nun die Frage, nach den konkreten Inhalten der Musikvideos Chris Cunninghams.

4 . Das Verhältnis Mensch — Technik

Die meisten von Cunninghams Videos sind durch hohe technische Perfektion gekennzeichnet, [d]ennoch hat man nie den Eindruck, dass sich Chris in den technischen Effekten verliert. Seine Videos halten einen zwischen mindestens zwei Zuständen fest, sodass man sie immer wieder erneut anschaut: Ist das nun unfassbar schön oder abstoßend, beangstigend oder unglaublich lustig? Man kann sich nicht entscheiden, das ist der Trick.12

Special Effects wie das Morphing, bei dem man den Eindruck einer Transformation von einer Figur zu einer anderen hat, Kloneffekte, die in nahezu jedem Videoclip auftreten oder Lichtmodulationen, wie Stretoskop-Licht, kennzeichnen das Werk des Regisseurs.

Am prominentesten fir technische Phanomene ist wohl die Bebilderung Björks „All is full of love", wo zwei sich liebende Roboter, eingebunden in weitere Maschinen, zu sehen sind, die beide das Gesicht der Sangerin haben, in vielen anderen Fallen strahlt die Technik jedoch etwas Bedrohliches aus. Maschinenmenschen, Roboter und Androiden sind bereits ein beliebter Stoff in der Literatur des 18. Jahrhunderts:

„Zeitkritisch akzentuiert wird das Motiv des kfinstlichen Menschen vor allem in den letzten zwei Jahrhunderten. In einer Epoche, da die Differenz zwischen lebendigem Wesen und technischem Artefakt sich zu verlieren und ersteres sich auf einen bloßen Mechanismus zu reduzieren scheint, kann der Maschinen-Mensch zur Schreckensvision werden: halt er doch offenbar einer Menschenwelt den Spiegel vor, die den beliebig montierbaren und demontierbaren Apparaten nichts voraus hat."13

Die Roboter in Björk wirken perfekt in ihre Umgebung eingefgt, von ihnen geht zunachst nichts bedrohliches aus, doch bleibt ein gewisses Unbehagen, erzeugt durch das Sterile, Laborhafte des Hintergrunds.

you'll be given love

you'll be taken care of

you'll be given love

you have to trust it

maybe not from the sources

you have poured yours

maybe not from the directions

you are staring at 14

Diese ersten beiden Strophen des Songs, verbunden mit dem gleichmäBig ruhig dahin flieBenden Beat und den buddhistisch-anmutenden Sithar-Klängen, die ihrerseits an mechanische Spieluhren erinnern, sind die Zukunfstvision einer ganz neuen Verbindung des Menschen mit der Technik. Gefühle, die wohl menschlichste Eigenschaft, und die Möglichkeit diese zu reflektieren, werden nun auch der Maschinenwelt zugeschrieben. Jedoch in einer völlig anderen Form, klinisch sauber und von Cunningham grell weiB ausgeleuchtet.

Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Death-Cab-for-cutie- Version des Liedes, die eine vollkommen andere Interpretation aufzeigen, mit einem Video, in welchem zwei gemalte Fische, nicht Roboter und Maschinen, die Hauptfiguren sind.15

Eine weitere Verarbeitung des Motivs Technik ist im ersten Cunningham-Clip „Second bad vilbel" von Autechre zu sehen.

Auch hier eine Roboterfigur, Labor-Hintergründe und bereits in der Musik motorische elektronische Synthesizer-Klänge, die an eine Maschinerie erinnern. An vielen Stellen erscheint die Figur, wie sie abgescannt wird, wozu eine Art absteigender glissando-Sound ertönt und den Eindruck von Sterilität und Kälte verstärkt.

Auch der „Monkey Drummer", in Zusammenarbeit mit Aphex Twin entstanden, stellt die Perfektion des Menschen in Frage, der in „verbesserter" Form als Affe mit 6 Armen den Drumcomputer-Sound darstellt. Als Kopf ist kein Mensch zu sehen, sondern dessen Vorfahr, der Affe.

Das Auftreten der Technik hat grundsätzlich etwas Beunruhigendes, das von Cunningham sowohl visuell umgesetzt wird, jedoch immer schon in der Musik angelegt ist. Das Verwenden von elektronischer Musik, mit all ihren fremden Klangfacetten und rhythmischen Pattern geben dem Hörer nichts mehr, an das er sich halten kann, wie bspw. nachvollziehbare Instrumente und sangbare Themen. Er wirkt gegenüber der perfekt ineinander laufenden Technik und deren ungerührt motorischen Abläufen und Wiederholungen -auch als musikalisches Prinzip-, verloren und hilflos.

[...]


1 Heinz Buddemeier, Leben in künstlichen Welten, S. 74.

2 Abgründiger Aufstieg. Eine neue Garde von Videoclip-Regisseuren stürmt mit extrem düsteren Visionen den Himmel von Hollywood, in: Focus online (= http://www.focus.de/panorama/boulevard/kino-abgruendiger-aufstieg_aid_180534.html Zugriff am 26. 01. 09 12:25h)

3 Laura Frahm weist in Bewegte Raume darauf hin, dass Popmusik immer schon auf bewegte Bilder hin komponiert und ausgerichtet ist. 1

4 The Times: http://fusionanomaly.net/chriscunningham.html Zugriff am 06. 02. 2009 um 19:16h

5 „Johnny is a hyperactive, shape-shifting mutant child, kept locked away in a basement. With only his feverish imagination and his terrified dog for company, he finds ways to amuse himself in the dark. Rubber Johnny is the latest creation from the UK A s most imaginative filmmaker, Chris Cunningham. Featuring music by legendary electronic composer, Aphex Twin." http://www.rubberjohnny.tv/ Zugriff am 06. 02. 2008 19:46h

6 http://www.focus.de/panorama/boulevard/kino-abgruendiger-aufstieg_aid_180534.html Zugriff am 26. 01. 09 um 12:25h.

7 Helga de la Motte-Haber, Bild und Ton. Das Spiel der Sinnesorgane oder der Film im Kopf, in Tanzende Bilder S. 71.

8 Ebd. S. 72

9 Deleuze, Das Bewegungsbild, S. 122.

10 Helga de la Motte-Haber, Bild und Ton. Das Spiel der Sinnesorgane oder der Film im Kopf, S. 74.

11 Ebd. S. 75.

12 http://www.de-bug.de/mag/3120.html Zugriff am 06. 02. 2008 um 19:58h.

13 Monika Schmitz-Emans, Eine schöne Kunstfigur? Androiden, Puppen und Maschinen als Allegorien des literarischen Werks, S. 3.

14 Björk, All is full of love

15 Ein ausführlicher Vergleich beider Videos ist im Umfang meiner Arbeit und an dieser Stelle leider nicht möglich, doch zeigt sich, dass ein Lied kein „einzig richtiges" Bild evoziert.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Existentialistische Albträume aus der Musik geschöpft
Untertitel
Musikvideos von Chris Cunningham
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Populäre Musik am Seminar für Musikwissenschaft)
Veranstaltung
Vom Klang zum Bild - Ästhetische Aspekte des Musikvideos
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
24
Katalognummer
V146181
ISBN (eBook)
9783640566082
ISBN (Buch)
9783640566259
Dateigröße
742 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Cunningham;, Chris Cunningham;, Musikvideo;, Videoclip;, Portishead;, Only you;, Madonna;, Frozen;, Synästhesie;, Aphex Twin;, Come to Daddy;, Alptraum;, Populäre Musik;, Musiksoziologe;
Arbeit zitieren
Sina Schmidt (Autor:in), 2009, Existentialistische Albträume aus der Musik geschöpft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146181

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