Die Liebe - Ein Phänomen zwischen Fähigkeit und Emotion


Bachelorarbeit, 2008

41 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Liebesfähigkeit
2.1 Welchen Sinn die Liebe erfüllt
2.2 Grundvoraussetzungen der Liebesfähigkeit
2.3 Was Liebe ist und was sie nicht ist...
2.4 Die Liebe Gottes als Prototyp der Liebe-eine biblisch-theologische Perspektive

3. Liebe als Emotion

4. Allgemeine emotionspsychologische Ansätze
4. 1 Emotionsentstehung nach Mesquita und Frijda
4. 2 Soziologie der Emotionen nach Gerhards

5. Partnerwahl

6. Spiegelneurone – ein neurobiologischer Ansatz

7. Liebe – ein systemtheoretischer Ansatz

8. Liebe im Epochenwandel

9. Nachwort

10. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Liebe... Was ist die Liebe?! Es ist nicht einfach, das Wesen der Liebe in Worte zu fassen. Viele verschiedene Formen der Liebe begegnen uns im Alltag – die Liebe zwischen Eltern und Kind, die Liebe zu Freunden, die Liebe zum Leben, die Liebe zu Gott. Diese Arbeit beschäftigt sich überwiegend mit der partnerschaftlichen Liebe, mit der romantischen Liebe zwischen zwei Menschen, aber auch mit der Liebe Gottes, welche aus theologischer Sicht als der Prototyp der Liebe gilt. Es ist – wie erwähnt – schwer und komplex, das Wesen der Liebe in Worte zu fassen. Es gibt unterschiedliche subjektive Definitionen darüber, was Liebe ist. So individuell die Menschen sind, so individuell sind auch die subjektiv gemachten Erfahrungen mit der Liebe und den Auffassungen bezüglich dergleichen. Viele Menschen glauben an die Liebe auf den ersten Blick, andere denken, man müsse einen Menschen besser kennen, um ihn lieben zu können. Manche verwechseln auch andere Gefühle, wie beispielsweise das Gefühl der Begierde, mit dem Gefühl der Liebe. Was ist denn die Liebe?! Ich habe in meinem Umfeld häufig beobachtet, dass viele Menschen in partnerschaftliche Beziehungen eingebettet sind; Beziehungen, in denen sie unglücklich sind. Beziehungen, in denen belogen, betrogen und verletzt wird. Und trotzdem bleiben viele Paare zusammen. Ich habe mich angesichts dessen schön häufig gefragt, wie man unter diesen Umständen von Liebe sprechen kann. Wie kann man denn behaupten, jemanden zu lieben, und ihn gleichzeitig verletzen, indem man ihn beispielsweise belügt, betrügt oder sogar im schlimmsten Fall misshandelt. Wenn ich doch jemanden liebe, tut es mir weh, es verletzt mich, die geliebte Person leidend zu sehen, und dann bin ich doch nicht selber die Ursache dafür.

Ich habe mich schon oft mit einem Freund über das Thema der romantischen Liebe unterhalten. Eines Tages teilte er mir mit, dass er im Rahmen einer sozialpsychologischen Vorlesung einen Text von Bram P. Buunk gelesen hat. Dort hieß es, dass es (u.a.) Liebe ist (bzw. die Festlegung auf einen Partner), wenn alle anderen Alternativen an Attraktivität verlieren. Dies war auch eine meiner Teilauffassungen über die Gestalt der Liebe. Nach meiner Ansicht fallen andere Alternativen weg, wenn man einen Menschen richtig liebt. Wenn ich einen Menschen liebe, ist diese Person m. E. für mich subjektiv perfekt. Warum sollte ich dann etwas haben wollen, was unter diesem Wert liegt?! Im Laufe des Gesprächs mit meinem guten Freund empfahl er mir ein Buch von Erich Fromm, welches unter dem Titel Die Kunst des Liebens bekannt ist. Fromm thematisiert dort größtenteils den Akt der Liebe als eine Fähigkeit, welche es zu erlernen gilt. Beim Lesen dieses Buches erinnerte ich mich an einen Text von Jürgen Gerhards, in welchem er die Entstehung von Emotionen als einen interpretativen Prozess beschreibt. Emotionen entstehen demnach durch das Interpretieren und Bewerten einer Situation – die Liebe fällt in die Kategorie der Emotionen. Dies schien mir auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Interpretationen ändern sich, nicht notwendigerweise, aber doch häufig mit der Zeit. Auf der einen Seite stand also die Liebe als Fähigkeit, als statisches Element. Und auf der anderen Seite die Liebe als dynamisches Element, als Ergebnis einer Interpretation.

Zu Beginn dieser Arbeit war ich zunächst ambitioniert zu untersuchen, was denn die Liebe nun sei, eine Fähigkeit oder ein interpretatives Produkt. Hierzu habe ich zunächst eine von mir konzipierte Umfrage durchgeführt, um ein allgemeines Verständnis von Liebe zu skizzieren. Die Umfrage wurde mit 20 Personen verschiedenen Alters (14-82 Jahre), Geschlechts und beruflichen Status durchgeführt. Die Fragen beschränkten sich darauf, was Liebe ist (diese Frage sollte spontan in drei Wörtern beantwortet werden), wie oft man im Leben die große Liebe trifft (einmal, max. dreimal, mehr als dreimal), ob die befragte Person aktuell selber verliebt ist und was an einer Partnerschaft als wichtig empfunden wird (ebenfalls in drei Wörtern). Die Antworten hierbei waren sehr verschieden und doch deckend. Fast alle Untersuchungsteilnehmer gaben Vertrauen als basalen Bestandteil der Liebe an. Weiterhin wurde Geborgenheit und Zärtlichkeit als Komponente der Liebe genannt. Antworten, die hierbei aus dem Rahmen fielen, waren jedoch auch dabei. Eine Person (aktuell verliebt) konstatierte Stress, Ärger und Langweile als Elemente der Liebe. Eine andere (aktuell nicht verliebt) empfand Liebe als chemische Reaktion. Auffallend hierbei ist, dass Sex in diesem Kontext von lediglich zwei Personen erwähnt wurde. Bezüglich der Frage, wie oft man im Leben die große Liebe trifft, waren die Antworten sehr verschieden; bis auf eine Person (welche mit mehr als dreimal antwortete), beliefen sich die Antworten auf einmal bis höchsten dreimal. Bei der Frage, was an einer Partnerschaft wichtig ist, wurden größtenteils die Antworten aus Frage 1 (was Liebe ist) wiedergegeben.

Wie bereits erwähnt, war ich zunächst darauf bedacht zu erforschen, ob die Liebe als Fähigkeit oder als Interpretation zu verstehen ist. Doch mit zunehmendem Lesen meiner verwendeten Literatur konstatierte ich, dass jene Perspektive von der Liebe als Fähigkeit den dynamischen Aspekt (also Emotionsentstehung durch das Bewerten einer Situation) nicht zwingend ausschließt und umgekehrt. Vielmehr könnte man sagen, dass jenes Wesen der Liebe beide Aspekte umschließt.

Wenn man eine Situation bewertet und interpretiert, spielt auch die psychische Komponente eine wichtige Rolle. Wenn die Psyche nicht gesund ist, wenn also auch die Liebesfähigkeit eingeschränkt ist, hat dieses einen immensen Einfluss auf subjektive Bewertungen. Unverarbeitete Erlebnisse, Verletzungen und Kränkungen werden in den subjektiven Bewertungen sichtbar. Es werden Abwehrmechanismen eingesetzt, die Realität kann nicht unvoreingenommen betrachtet werden.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich nun mit diesen beiden Aspekten, der Fähigkeit zur und Interpretation von Liebe. Obwohl es viele Theoretiker gibt, welche zwischen Liebe und Verliebtsein differenzieren (manche tun dies aber auch nicht), kann diese Differenz, aus komplexitätsreduzierenden Gründen in dieser Arbeit keine Berücksichtigung finden. Die Zustände des Verliebtseins und der Liebe werden hier thematisch gleich behandelt.

Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit Aspekten der Liebesfähigkeit, während der zweite Teil der Arbeit sich mehr auf emotionsbezogene Aspekte fokussiert. Zunächst einmal wird im zweiten Kapitel das Wesen der Liebesfähigkeit erläutert. Es wird erläutert, was die Liebesfähigkeit ist und was sie ausmacht. Im weiteren Verlauf (Kapitel 2.1) wird drauf eingegangen, welchen Sinn die Liebe erfüllt. Warum lieben Menschen überhaupt? Sowohl psychologische als auch theologische Elemente fließen in diesen Explikationen mit ein. Anschließend wird ein Abschnitt (2.2) über die Grundvoraussetzungen der Liebesfähigkeit folgen. Hierbei werde ich u. a. auf Untersuchungen aus der Hospitalismus-Forschung eingehen. In Kapitel 2. 3 werden die elementaren Bausteine der Liebe genannt, wobei eine Abgrenzung zu anderen Komponenten stattfindet, welche häufig mit der Liebe verwechselt werden. Auch die sozialpsychologische Dreieckstheorie der Liebe findet hier ihre Anwendung. Anschließend wird im letzten Kapitel der ersten Teils der Arbeit (2.4) eine theologische Perspektive der Liebe behandelt – es ist eine Perspektive, welche die Liebe Gottes als den Prototypen der Liebe sieht, weil diese keinen Bedingungen unterworfen ist.

Im 3. Kapitel, dem zweiten Teil der Arbeit, wird die Liebe als Emotion thematisiert. Es werden zunächst allgemeine emotionspychologische Ansätze (3.1) vorgestellt und folgend zwei spezifische Emotionstheorien (3.1.1: Emotionsentstehung nach Mesquita und Frijda; 3.1.2: Soziologie der Emotionen nach Gerhards). Weiterhin wird der multifaktorielle Prozess der Partnerwahl erläutert (Kapitel 4) sowie ein neurobiologischer Ansatz (4.1), welcher mithilfe von Spiegelneuronen die Entstehung von Empathie expliziert. Das 5. Kapitel greift die Liebe aus systemtheoretischer Perspektive auf. Liebe dient hier als generalisiertes Kommunikationsmedium; sie wird nicht als solche begriffen, wie sie zwischen zwei liebenden Bewusstseins besteht, sondern als spezifische Verkettung von Kommunikationen. Das letzte Kapitel dieser Arbeit (Kapitel 6) skizziert die Liebe im Epochenwandel und veranschaulicht so, dass Liebe – ihrem Verständnis nach – nicht als konstantes Element gesehen werden kann. In verschiedenen Zeiten, unter verschiedenen Umständen, ändert sie ihre Gestalt.

Das Wesen der Liebe, eine Oszillation zwischen Fähigkeit und Emotion, unter verschiedenen Gesichtspunkten, soll Thema dieser Arbeit sein.

2. Die Liebesfähigkeit

Die Fähigkeit, jemanden oder etwas zu lieben, ist keine Gegebenheit, welche der Mensch umstandslos mit seinem Eintritt in die Welt erlangt. Vielmehr ist diese sowie deren Entfaltung an bestimmte Voraussetzungen gekoppelt (vgl. Lauster 1982, S. 85-89).

Viele Menschen vertreten jedoch die Auffassung, dass es hierbei, wenn man von Liebe redet, lediglich um ein Gefühl geht, welches objektbezogen ist. Wenn das Objekt den spezifischen Vorstellungen entspricht, entwickelt sich die Liebe, nach dieser Vorstellung, von allein.

Doch die meisten lassen außer Acht, dass es in der Liebe primär nicht darum geht, geliebt zu werden, sondern Liebe geben zu können. Die Liebesfähigkeit zielt also darauf ab, selber zu lieben (vgl. Fromm 2007, S. 11-12, 42- 47, 78) .

Es ist äußerst fraglich, ob jemand wirkliche Liebe empfangen kann, ohne selbst liebesfähig zu sein – denn die Grundlage zu dieser Liebe würde fehlen. In diesem Fall, wenn die Liebe auf Empfangen statt auf Schenken aus ist, kann man wahrscheinlich nicht von wirklicher Liebe sprechen. „Das Geben ist die Fähigkeit zu lieben. [...] Bekommen ist dagegen einfach, dazu gehört keine besondere Fähigkeit.“ (Lauster 1982, S. 66). Dem liebesfähigen Menschen bereitet es Freude, es macht ihn glücklich, seine Liebe zu verschenken (vgl. Fromm 2007, S. 43-44). Er ist nicht darauf bedacht, aus dieser ein Tauschgeschäft zu machen. Wenn er liebt, dann liebt er, ohne bewusst auf Resonanz abzuzielen (vgl. Lauster 1982, S. 72-7, 85-89; Fromm 2007, S. 11-12).

2.1 Welchen Sinn die Liebe erfüllt

Obwohl es viele Theorien über den Sinn und Zweck der Liebe gibt, die sich in den einzelnen Schwerpunkten differenzieren, ist ebenfalls zu erwähnen, dass allesamt auf die Grundsituation des menschlichen Daseins zurückweisen – das Alleinsein.

Die Ansätze von Branden und Fromm lassen sich eher den psychoanalytischen Konzepten zuordnen, wobei Fromm auch teilweise theologische Elemente in seiner Theorie mit einbezieht. Beide Theorien konstatieren die physische Geburt des Menschen als eine neu geschaffene Situation, welche sich von der vorherigen grundlegend unterscheidet. Der Mensch wird von seiner Umwelt getrennt. Fromm geht an dieser Stelle noch einen Schritt weiter und legt seine Theorie umfassender dar, indem er hierbei auch die Geburt der menschlichen Rasse impliziert, welche vor dem Verlassen des Paradieses mit der Natur eins war. Doch zunächst einmal zu der physischen Geburt. Zu diesem Zeitpunkt der biologischen Geburt ist die psychische Geburt noch nicht vollzogen. Das Kleinkind nimmt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht als ein eigenes Selbst wahr. Es ist noch nicht in der Lage, sich von seiner Umwelt zu differenzieren. Doch mit dem Prozess der Individuation, dessen Verlauf intrapsychisch zu konstatieren ist und in welchem das Kind basale Fähigkeiten erwirbt, lernt es, zwischen vielen Sachen zu unterscheiden. Es unterscheidet zwischen Innen- und Außenwelt und bekommt ein Bewusstsein seiner Selbst. Die eigenen Gedanken und Empfindungen werden von der Außenwelt differenziert wahrgenommen. Zudem entwickelt sich ein Bewusstsein über die eigene subjektive Sicht auf die Gegebenheiten der Welt. Zeitgleich entsteht daraus resultierend die Erkenntnis, dass die subjektive Sicht die eigene Sicht ist, die sich nicht zwangsläufig mit der Sicht der Umwelt deckt. Mit dem Bewusstsein des eigenen Selbst wird auch die jeweilige Situation bewusst, in welcher man sich befindet. Es ist eine Situation, der man eigenverantwortlich gegenübersteht, die offen ist und doch nicht zwingend kontrollierbar. Es ist das Leben, das keiner für einen anderen meistern kann. Das Leben, dem man, mit all seinen Hürden, selbstverantwortlich zu begegnen hat. Die Erkenntnis all dessen erzeugt das Gefühl des Allein- und Abgetrennt-Seins. Ein Gefühl, das einer emotionalen Isolation gleichkommt.

Dieses Bewusstsein seiner Selbst als einer eigenständigen Größe, das Gewahrwerden dessen, daß er eine kurze Lebensspanne vor sich hat, [...], daß er allein und abgesondert und den Kräften der Natur und der Gesellschaft hilflos ausgeliefert istall das macht seine abgesonderte, einsame Existenz zu einem unerträglichen Gefängnis.“ (Fromm 2007, S. 20)

Zwar lebt der Mensch lebt mit anderen Menschen in einer Gemeinschaft und ist auch durch diese mit den anderen verbunden. Doch durch die Tatsache seiner eigenständigen Existenz und seiner Individualität ist er auch zugleich von diesen getrennt; zugehörig und doch allein, verbunden und doch einsam.

Die Liebe versucht, das Gefühl der Isolation zu überwinden und eine Verbindung, eine Einheit, zu schaffen, die ihn aus dieser Grundsituation des Alleinseins befreit. Quasi jeder Mensch hat das Bedürfnis etwas zu finden, von dem er denkt, dass es sein Leben lebenswerter macht und welches ihm das Gefühl gibt, nicht mehr allein zu sein. Diese Sehnsucht nach emotionaler Nähe, welche die Aufgabe übernimmt, jenes Alleinsein zu kompensieren, scheint ein elementares Grundbedürfnis eines jeden normal entwickelten Menschen zu sein. Der Mensch würde emotional verkümmern, wenn er in seiner Welt mit seinen subjektiven Empfindungen und Gedanken gefangen wäre, ohne die Möglichkeit zu haben, sich mit jemanden außerhalb seiner Selbst zu verbinden. Jemanden, mit dem er seine freudigen und seine traurigen Momente teilen kann, jemanden, er ihm das Gefühl vermittelt, verstanden zu werden, jemanden der ihm das Gefühl gibt, jetzt nicht mehr allein zu sein. Eine Beziehung zu einem anderen Menschen schafft auch immer eine Verbindung zu diesem. Hat jemand eine Verbindung zu einem anderen Menschen, ist dieser in seiner subjektiven Welt nicht mehr allein, weil der andere, zu dem er diese Verbindung aufgebaut hat, seine Welt betritt, indem er ein Teil von dieser wird und an seinem emotionalen Leben teilhat (vgl. Branden 1985, S. 89-94, 101-104, 129-130; Fromm 2007, S. 19-23, 66-67).

Ein anderes Konzept, welches theologisch fundiert ist (vgl. Susmann 1912, S. 1-8, 23-26, 66-68), beobachtet das Alleinsein zwar auch als universelle Grundsituation des Menschen, dieses Alleinsein geht jedoch ausschließlich auf das Abgetrenntsein von Gott, dem Seienden, zurück. Aus dieser theologischen Perspektive hat der Mensch, indem er sich selbst als vergängliches Wesen begreift, eine unaufhörliche Sehnsucht nach dem Nicht-Vergänglichen. Dort, bei Gott, bei dem Nicht-Vergänglichen, fühlt es sich zuhause und beheimatet. Obwohl der heutige, moderne Mensch diese Einheit, die aus der Verbindung von Gott und dem Menschen resultiert, nicht mehr notwendig bei Gott selber sucht, wie es in früheren Zeiten gängiger war, ist dieses religiöse Grundgefühl nicht gestorben. Das Gefühl der Vereinigung sucht der Mensch sich in verschiedenen Religionen, Philosophien, aber auch in unvorteilhaften sowie destruktiven Lebens- und Verhaltensweisen (vgl. hierzu auch Fromm 2007, S. 23-40). Es zeigt sich aber auch in der Sehnsucht nach Liebe, welche zudem als Wegweiser zu Gott, dem Seienden, fungiert. Sie allein ist es, welche die Verbindung zu ihm und die Einheit mit ihm schafft.

Doch in dem Maße, in welchem sich die Einheit von dem Vergänglichem und dem Nicht-Vergänglichen gelöst hat, in dem Maße hat sich auch die Bedeutung der Liebe gewandelt. Die Menschen suchen das Gefühl der Einheit, das Gefühl des Einsseins nicht mehr bei Gott, sondern bei anderen Menschen und „[...] treffen einander nur noch in der gestaltlosen Sehnsucht.“ (Susman 1912, S. 8). Doch die Sehnsucht nach der absoluten Liebe, nach welcher der Mensch lechzt und die ihn zu verschlingen droht, kann ihre Erfüllung nur in der Einheit, im Ganzen, mit Gott finden. Nur in dieser absoluten Einheit von Seiendem und Nicht-Seiendem, wird sie gestillt (vgl. Susmann 1912, S. 67). Selbst da, wo zwischen Menschen die tiefste und aufrichtigste Liebe fließt, bleibt die Sehnsucht bestehen, weil sie eine „[...] Sehnsucht zum Ganzen im Reich der Beschränkung, [...]“ (Susmann 1912, S. 26) ist und bleibt.

2.2 Grundvoraussetzungen der Liebesfähigkeit

Wie bereits erwähnt, kann die Fähigkeit zu lieben nicht als gegebene Selbstverständlichkeit betrachtet werden. Das Erwerben dieser Fähigkeit sowie deren Entfaltung ist vielmehr an bestimmte Rahmenbedingungen gebunden. Diese Prämissen werden bereits in der frühen Kindheit gelegt. Ein Mensch kann nur das weitergeben, was er selber bekommen hat, was ihm selber gelehrt wurde. Wenn jemand in seiner Erziehung Liebe erfahren hat, wird er zu dieser wahrscheinlich auch fähig sein. Wenn jemand jedoch keine Liebe in seiner Erziehung erfahren hat, dann wird er wahrscheinlich nicht der Liebe fähig sein. Denn wie soll er etwas weitergeben, von dem er noch nicht einmal weiß, was es ist, was er nie erfahren hat?

Doch es sind nicht nur die bewussten Liebeserfahrungen, welche die Liebesfähigkeit eines Einzelnen konstituieren; von immenser Signifikanz sind auch die unbewussten Erfahrungen, die schon im Säuglingsalter erfolgen. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind ist dafür unerlässlich. Seine Entwicklung und vielmehr seine ganze Existenzfähigkeit hängen von der Qualität dieser einen Liebe ab. An dieser Stelle ist jedoch zu erwähnen, dass eine andere Erziehungsperson in dieser Hinsicht als äquivalent zu betrachten ist. Grundlegende liebeskonstituierende Erfahrungen werden bereits im ersten Lebensjahr gemacht. Diese Erfahrungen werden von dem Psychoanalytiker Erik H. Erikson als Ur-Vertrauen und Ur-Misstrauen bezeichnet. Wenn ein Kind die Liebe und die uneingeschränkte Zuwendung seiner Mutter bzw. seiner Erziehungsperson erfährt, bildet sich ein Urvertrauen, welches ihm ermöglicht, seiner Umwelt zuversichtlich zu begegnen und schrittweise Vertrauen aufzubauen. Wenn es jedoch keine Liebe erfährt, wird sein Handeln von Misstrauen geprägt sein (vgl. Lauster 1982, S. 36-37, 63-66, 72-73, 86-87; Fromm 2007, S. 70-71; Branden 1985, S. 98-100; Peck 1997, S. 22-23). Andere Studien, welche die existenzielle Abhängigkeit des Säuglings von der Mutter bzw. Erziehungsperson drastisch veranschaulichen und von bedeutender Relevanz sind, sind die Untersuchungen von dem Kinderarzt Meinhard von Pfaundler und dem Psychoanalytiker Rene Spitz (vgl. Rieländer 1982, S. 1-13). Die Untersuchungen von v. Pfaundler sind am Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden, als dieser und ein weiterer Kinderarzt auf ein Phänomen aufmerksam wurden, welches als Hospitalismus zu bezeichnen ist. Kleinkinder, die in Säuglingsheimen untergebracht wurden und die zu Beginn ihres Aufenthalts in einem halbwegs gesunden Zustand waren, wurden dort so drastisch krank, dass die Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes sogar bis zum Tod führen konnte.

Der Kinderarzt v. Pfaundler führte diese Symptome auf die emotionale Vernachlässigung der Säuglinge zurück. Zur Untermauerung seiner These zog er eine Parabel aus dem 13. Jahrhundert heran. In dieser Parabel geht es um ein Experiment, welches Kaiser Friedrich II. aufgrund eines ihm wichtig-spezifischen Erkenntnisinteresses anordnete. Er wollte wissen, welche Sprache sich die Kinder aneignen würden, wenn vorher noch nie jemand ein Wort zu ihnen gesprochen hat. Also übergab er Neugeborene an Ammen und Wärterinnen, welche sich um die Kinder kümmern sollten. Die Pflege wurde jedoch ausschließlich auf die körperlichen Bedürfnisse beschränkt. Den Frauen wurde es strengstens untersagt, den Kindern gegenüber Emotionalitäten zu zeigen. Sie durften sich den Kindern weder liebevoll zuwenden noch mit ihnen kommunizieren. Alle Säuglinge starben hierbei sehr früh.

Durch viele von ihm durchgeführte Untersuchungen in Säuglingsanstalten und mit deren Bedingungen kam Pfaundler zu der Erkenntnis, dass die Pflege in Säuglingsanstalten eher formell

statt individuell angepasst ist. Durch die fehlende, jedoch notwendige emotionale Zuwendung kommt es zu einer physischen und psychischen Verkümmerung der Kleinkinder, welche sich in drei Phasen zeigt. Die anfängliche Unruhe, welche für das Verhalten eines Säuglings typisch ist, geht in ein ruhiges Verhalten über, welches jedoch stark lethargische Ausprägungen hat. Das ruhige Verhalten lässt sich auf die Nicht-Resonanz der jeweiligen Bedürfnisse zurückführen. Schließlich erfolgt dann, nach dieser zweiten Phase, der körperliche Verfall, dessen Vollständigkeit durch den Tod komplementiert wird.

Die Untersuchungen von Rene Spitz, die ca. 1940 gemacht wurden, sind in dieser Hinsicht prägnanter und auch spezifischer. Spitz hat sich besonders mit der Entwicklung von Kleinkindern im ersten Lebensjahr befasst, mit deren Erfahrungen und den daraus resultierenden Auswirkungen auf die spätere Liebesfähigkeit.

Hierzu hat er eine komparative Untersuchung in einem Säuglingsheim und in einem Findelhaus unter verschiedenen Prämissen durchgeführt. Das Säuglingsheim war in einem Strafvollzug untergebracht, in welchem die dort inhaftierten kriminellen jungen Frauen sich um ihre Kinder kümmerten. In dem Findelhaus gab es zum einen sozial angepasste Mütter, die verheiratet waren, aber ihre Kinder aus finanziellen Gründen dort unterbringen mussten und zum anderen ledige Mütter, die schlichtweg mit ihrer Situation überfordert waren. Bei der Untersuchung in beiden Einrichtungen gab es auch quantitative Unterschiede. In dem Säuglingsheim wurden 203 Kinder beobachtet und in dem Findelhaus 90 Kinder. In beiden Anstalten wurden die Kinder fast von der Geburt an bis zum 4. Lebensjahr überwacht.

Die Kleinkinder aus dem Säuglingsheim durften bis zum Ende des 1. Lebensjahres von ihren Müttern betreut werden, wobei zu erwähnen ist, dass 34 Säuglinge von 203 ihren Müttern in einem Alter zwischen 6-8 Monaten für drei Monate entzogen wurden. Für die inhaftierten Mütter gab es zudem erfahrene Säuglingsschwestern, die ihnen bei der Erziehung zur Seite stehen konnten.

In dem Findelhaus wurden die Säuglinge nach drei Monaten von ihren Müttern getrennt und mussten anschließend unter inhumanen Umständen ohne jegliche Art von Zuwendung dort aufwachsen. Bis zu einem Alter von 18 Monaten lagen sie in ihren kahlen Bettchen und waren so positioniert, dass ihnen allein der Blick auf die Decke gewährt war. Eine Möglichkeit, sich in eine andere Richtung zu drehen, hatten sie nicht. Die Seiten des Bettes wurden mit Decken, Tücher und dergleichen abgedeckt. Die Bedingungen waren so beschaffen, dass die Säuglinge äußeren Reizen komplett entzogen wurden. Auch die Fütterung erfolgte mechanisch und war daher ohne menschliche Zuwendung. Es ist noch zu erwähnen, dass eine einzige Schwester für mehrere Säuglinge zuständig war. Die hygienischen Bedingungen waren in beiden Einrichtungen tadellos.

Die anschließenden Untersuchungsergebnisse zeigten deutliche Entwicklungsunterschiede der

Kinder auf. Die Kindern, welche von ihren Müttern betreut wurden, legten eine normale Entwicklung an den Tag, während die anderen Kinder basale Defizite in der kompletten Entwicklung aufwiesen. Jene Kinder, die mütterliche Zuwendung erfahren hatten, zeigten eine normale Entwicklung auf. Die anderen Kinder konnte man wiederum in zwei Gruppen einteilen: jene, die mütterliche Zuwendung nur teilweise erfahren hatten und jene, denen nie eine emotionale Zuwendung entgegengebracht worden war. Die ersten entwickelten eine Krankheit, die Spitz als anaklitische Depression bezeichnet; bei den anderen wurde Hospitalismus diagnostiziert.

[...]

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Die Liebe - Ein Phänomen zwischen Fähigkeit und Emotion
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
3,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
41
Katalognummer
V146427
ISBN (eBook)
9783640571864
ISBN (Buch)
9783640572359
Dateigröße
652 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Note 3,0 weil 1. Luhmanns systemtheoretischer Ansatz hat nicht in den Gesamtkontext gepasst 2. Kapitel über die Liebe Gottes zu theologisch/ unreflektiert
Schlagworte
Liebe als Fähigkeit, Liebe als Emotion (emotionspsychologische Ansätze), Bindungsstile, Partnerwahl, Systemtheoretischer Ansatz (Niklas Luhmann), Liebe im Epochenwandel
Arbeit zitieren
Georgia Maya (Autor:in), 2008, Die Liebe - Ein Phänomen zwischen Fähigkeit und Emotion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146427

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Liebe - Ein Phänomen zwischen Fähigkeit und Emotion



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden