„Die Europäische Union hat für ihre Bürger bereits die wichtigsten Komponenten eines gemeinsamen Raums des Wohlstands und des Friedens geschaffen [...]. Die im Vertrag von Amsterdam enthaltene Herausforderung besteht nunmehr darin sicherzustellen, daß Freiheit, die das Recht auf Freizügigkeit in der gesamten Union beinhaltet, in einem Rahmen der Sicherheit und des Rechts in Anspruch genommen werden kann, der für alle zugänglich ist. [...] Es stünde im Widerspruch zu den Traditionen Europas, wenn diese Freiheit den Menschen verweigert würde, die wegen ihrer Lebensumstände aus berechtigten Gründen in unser Gebiet einreisen wollen.“
Der politische Umgang mit Einwanderungs-, Asyl- und Flüchtlingsfragen liegt traditionell in der Kompetenz der Nationalstaaten. Unter den Mitgliedsländern der Europäischen Union haben jedoch die stufenweise Vertiefung der Integration, der Abbau der Binnengrenzen und die Entwicklung der Asylantragszahlen in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zu der Einschätzung geführt, dass Flucht und Asyl gemeinsamer, EU-weiter Regelungen bedürfen. Die Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) tragen dieser Einschätzung Rechnung und haben eine Europäisierung der Asyl- und Flüchtlingspolitik bewirkt - mit der Folge, dass die Kompetenz hierfür heute nicht mehr nur auf der nationalstaatlichen, sondern auch auf der Gemeinschaftsebene angesiedelt ist. Besonders intensiv sind die Organe der Union und ihre Mitgliedstaaten seit 1999, dem Jahr des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrags, unter der Überschrift des „schrittweisen Aufbaus eines europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ mit der Entwicklung einer gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik befasst.
Diesen Prozess der Europäisierung beschreiben viele Autoren und Beobachter als restriktiv. Sie machen – wie in dieser Arbeit gezeigt werden wird - geltend, dass sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten, als auch im EU-Rahmen, nicht an einer umfassenden Gewährleistung des Rechts auf Asyl, sondern vielmehr an Begrenzung und Abwehr der Immigration von Flüchtlingen gearbeitet werde. Die EU treibe beispielsweise die Sicherung ihrer Außengrenzen voran, versuche, die Verantwortung für den Schutz von Asylsuchenden an Drittstaaten abzuweisen, schränke soziale Leistungen an Flüchtlinge ein und intensiviere die zwangsweise Rückkehr abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer, so die Einschätzung der Kritiker.
Inhalt
1 Einleitung: Die Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union zwischen Menschenrechten, Souveränität und innerer Sicherheit
2 Ausgangsüberlegungen zu Asyl und Migration
2.1 Migranten, Flüchtlinge, Asylbewerber: Begriffe und globale Entwicklungen
2.2 Menschenrechte, staatliche Souveränität und innere Sicherheit: gegensätzliche Dimensionen von Flucht und Asyl
2.2.1 Asyl als Menschenrecht
2.2.2 Flüchtlinge als Herausforderung für Souveränität und innere Sicherheit
2.2.3 Flüchtlinge im Spannungsfeld von Menschenrechten, Souveränität und innerer Sicherheit
3 Charakteristika der Asyl- und Flüchtlingspolitik in ausgewählten EU-Staaten
3.1 Deutschland
3.2 Frankreich
3.3 Italien
3.4 Schweden
3.5 Großbritannien
3.6 Zwischenfazit
4 Der Weg zur gemeinsamen EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik
4.1 Vorbemerkungen zur institutionellen Entwicklung der EU-Asylpolitik
4.2 Die Anfänge der Kooperation im Asylbereich
4.3 Die Asylpolitik von Maastricht (1992) bis Amsterdam (1997)
4.3.1 Der Vertrag von Maastricht: Die Institutionalisierung der gemeinsamen Asylpolitik
4.3.2 Die Beschlüsse des Europäischen Rates von London (1992)
4.3.3 Die Harmonisierung der Asylsysteme der Mitgliedstaaten: Einigungen auf dem „kleinsten gemeinsamen Nenner“
4.3.4 Die asylpolitischen Reformen im Vertrag von Amsterdam
4.4 Nach Amsterdam: Von der „Harmonisierung“ zur „Vergemeinschaftung“
4.4.1 Das „Wiener Strategiepapier“
4.4.2 Der „Aktionsplan zum Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“
4.4.3 Die „Leitlinien“ der deutschen Bundesregierung
4.4.4 Der Sondergipfel von Tampere
4.4.5 Die Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags: ausgewählte asylpolitische Maßnahmen und ihre Bedeutung
4.4.5.1 Gemeinsame Normen für Asylverfahren
4.4.5.2 Der Europäische Flüchtlingsfonds
4.4.5.3 Temporary Protection – vorübergehender Schutz
4.4.5.4 Mindestnormen für die Aufnahme von Asylsuchenden
4.4.5.5 Das gemeinsame Vorgehen gegen „illegale Einwanderung“
4.4.5.6 Rückkehrpolitik und Abschiebungen
4.4.5.7 Zwischenfazit
4.5 Menschenrechte versus innere Sicherheit: die Positionen von Rat, Parlament und Kommission
4.5.1 Die Position des Rates der Europäischen Union
4.5.2 Die Haltung des Europäischen Parlamentes
4.5.3 Die Position der Europäischen Kommission
5 Perspektiven der gemeinsamen EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik
5.1 Die mangelnde Ausgewogenheit zwischen der sicherheitspolitischen und der menschenrechtlichen Dimension der Asylpolitik und ihre Folgen
5.2 Gründe für die Marginalisierung der menschenrechtlichen Dimension
5.3 Demographische und ökonomische Überlegungen und ihre Bedeutung für die Asylpolitik
5.4 Die EU-Asylpolitik und das Erstarken rechtsradikaler Parteien
5.5 Die Auswirkungen der gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik auf Nachbar- und Drittstaaten
6 Schlussbetrachtung: Die EU, ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?
Anhang: Zeittafel zur Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU
Literatur
1. Einleitung: Die Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union zwischen Menschenrechten, Souveränität und innerer Sicherheit
„Die Europäische Union hat für ihre Bürger bereits die wichtigsten Komponenten eines gemeinsamen Raums des Wohlstands und des Friedens geschaffen [...]. Die im Vertrag von Amsterdam enthaltene Herausforderung besteht nunmehr darin sicherzustellen, daß Freiheit, die das Recht auf Freizügigkeit in der gesamten Union beinhaltet, in einem Rahmen der Sicherheit und des Rechts in Anspruch genommen werden kann, der für alle zugänglich ist. [...]
Es stünde im Widerspruch zu den Traditionen Europas, wenn diese Freiheit den Menschen verweigert würde, die wegen ihrer Lebensumstände aus berechtigten Gründen in unser Gebiet einreisen wollen.“[1]
Der politische Umgang mit Einwanderungs-, Asyl- und Flüchtlingsfragen liegt traditionell in der Kompetenz der Nationalstaaten.[2] Unter den Mitgliedsländern der Europäischen Union haben jedoch die stufenweise Vertiefung der Integration, der Abbau der Binnengrenzen und die Entwicklung der Asylantragszahlen in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zu der Einschätzung geführt, dass Flucht und Asyl gemeinsamer, EU-weiter Regelungen bedürfen. Die Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) tragen dieser Einschätzung Rechnung und haben eine Europäisierung der Asyl- und Flüchtlingspolitik bewirkt - mit der Folge, dass die Kompetenz hierfür heute nicht mehr nur auf der nationalstaatlichen, sondern auch auf der Gemeinschaftsebene angesiedelt ist. Besonders intensiv sind die Organe der Union und ihre Mitgliedstaaten seit 1999, dem Jahr des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrags, unter der Überschrift des „schrittweisen Aufbaus eines europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“[3] mit der Entwicklung einer gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik befasst.
Diesen Prozess der Europäisierung beschreiben viele Autoren und Beobachter als restriktiv. Sie machen – wie in dieser Arbeit gezeigt werden wird - geltend, dass sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten, als auch im EU-Rahmen, nicht an einer umfassenden Gewährleistung des Rechts auf Asyl, sondern vielmehr an Begrenzung und Abwehr der Immigration von Flüchtlingen gearbeitet werde. Die EU treibe beispielsweise die Sicherung ihrer Außengrenzen voran, versuche, die Verantwortung für den Schutz von Asylsuchenden an Drittstaaten abzuweisen, schränke soziale Leistungen an Flüchtlinge ein und intensiviere die zwangsweise Rückkehr abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer, so die Einschätzung der Kritiker.
Dieses Urteil der Restriktivität soll in der vorliegenden Arbeit überprüft und erklärt werden. Die Arbeit untersucht die gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund der verschiedenen Überlegungen, die bei der politischen Handhabung der Phänomene Flucht und Asyl in den Aufnahmeländern eine wichtige Rolle spielen.
Eine dieser Überlegungen – oder „Dimensionen“ von Flucht und Asyl – bilden die Menschenrechte. Flüchtlinge und Asylsuchende sollen sich als Träger von Menschenrechten auf das Jahrhunderte alte und international anerkannte Recht berufen können, als verfolgte Personen in einem anderen Staat als dem ihrer Herkunft asylrechtlichen Schutz zu suchen und zu genießen. In dieser Hinsicht ist es eine Pflicht von Staaten, Flüchtlingen Zugang zum Staatsgebiet zu gewähren.
Eine weitere Dimension von Flucht und Asyl bezieht sich auf die Vorstellung staatlicher Souveränität. Souveränität manifestiert sich unter anderem im Bedürfnis von Staaten, Kontrolle darüber auszuüben, wer auf ihr Territorium einreist und sich dort aufhält. Nicht gesteuerte, grenzüberschreitende Fluchtbewegungen können in diesem Zusammenhang als Herausforderung für die Souveränität der Zielstaaten betrachtet werden. Besonders brisant wird die Souveränitätsfrage dann, wenn Staaten - begründet oder nicht - befürchten, auf ihr Gebiet einreisende Personen könnten ihre gesellschaftliche Ordnung oder innere Sicherheit bedrohen. Dann wird die Einreise von Flüchtlingen als Sicherheitsrisiko wahrgenommen, und Staaten versuchen, die Flüchtlingszuwanderung zu begrenzen oder ganz zu unterbinden.
Menschenrechte auf der einen, und Souveränitäts- sowie Sicherheitsansprüche auf der anderen Seite geraten demnach miteinander in Konflikt: Das Sicherheits- und Souveränitätsstreben zielt in der Regel darauf ab, so wenig Flüchtlingen wie möglich Einreise zu ermöglichen, während eine umfassende Wahrung der Menschenrechte verlangen würde, möglichst viele Zuflucht suchende Menschen aufzunehmen. Das Spannungsfeld, das somit zwischen der Sicherheits- und der Menschenrechtsdimension entsteht, und innerhalb dessen sich im EU-Raum ein klares Überwiegen des Sicherheits- und Souveränitätsaspekts abzeichnet, bildet den Rahmen für die in der vorliegenden Arbeit zu diskutierende Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten, denn sowohl auf Menschenrechts-, als auch in besonderem Maße auf Sicherheitsfragen nehmen die politischen Akteure immer wieder Bezug. So wird zu zeigen sein, dass etwa die EU-Organe Kommission, Rat und Parlament in dieser Hinsicht unterschiedliche Herangehensweisen vertreten.
An die Analyse und Interpretation schließen sich Fragen nach den Ursachen für das Überwiegen der restriktiven, sicherheitsorientierten Herangehensweise und nach den Perspektiven, die sich daraus für die gemeinsame EU-Asylpolitik und den Flüchtlingsschutz in Europa ergeben, an. Warum entwickelt sie sich die Asylpolitik eine bestimmte Richtung - und was bedeutet dies für die Zukunft?
Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt über mehrere Schritte. Das auf diese Einleitung folgende Kapitel bietet einen kurzen Überblick über globale Entwicklungen im Bereich Migration, Flucht und Asyl. Hier soll verdeutlichen werden, auf welche Tatbestände und Personengruppen die Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU abzielt. Unter Zuhilfenahme theorierelevanter Sekundärliteratur werden anschließend die zwei für diese Arbeit entscheidenden Dimensionen des Spannungsfelds von Flucht und Asyl, der Sicherheits- und der Menschenrechtsaspekt, in ihrer Bedeutung für die aktuelle Asylpolitik beschrieben und diskutiert.
Danach folgt eine Beschreibung von asyl- und flüchtlingspolitischen Verhaltensweisen, „Traditionen“ und Auseinandersetzungen in einzelnen EU-Staaten. Weil asylpolitische Problemlagen in den Mitgliedstaaten über den Rat der Innenminister der EU direkt ins Entscheidungssystem der Gemeinschaft getragen werden, ist es wichtig, bereits auf der nationalstaatlichen Ebene zu untersuchen, wie sich der Kontrast zwischen menschenrechtlichen und sicherheitspolitischen Überlegungen politisch auswirkt. Zu diesem Zweck wird länderspezifische Sekundärliteratur, in Fällen neuerer Entwicklungen auch Zeitungsberichterstattung, ausgewertet.
Der auf die Nationalstaaten bezogene Abschnitt mündet im darauf folgenden Kapitel in eine chronologische Zusammenfassung und Bewertung der Entwicklungsstufen der gemeinsamen EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik von den ersten zwischenstaatlichen Kooperationsansätzen Mitte der 80er Jahre bis hin zu ausgewählten asylpolitischen Detailfragen, mit deren Regelung die EU-Organe seit den Weichenstellungen des Amsterdamer Vertrags befasst sind. Soweit vorhanden, wird hierfür politikwissenschaftliche und juristische Sekundärliteratur herangezogen - angesichts der Aktualität vieler Entwicklungen aber auch Zeitungsmeldungen und Primärquellen wie beispielsweise Richtlinienvorschläge der EU-Kommission.
Im Perspektiventeil der Arbeit wird die bisherige Ausformung der EU-Asylpolitik abschließend in Relation zu den vorher diskutierten Dimensionen von Flucht und Asyl gesetzt. Auf dieser Basis werden Aussagen über aktuelle und zu erwartende Entwicklungen getroffen. Am Rand des Perspektiven- und Schlussteils soll darüber hinaus gezeigt werden, welche Auswirkungen die Asylpolitik über die Grenzen der EU hinaus, also in Bezug auf Drittstaaten, mit sich bringt, sowie ob und, wenn ja, wie sich die aktuelle Tendenz des Erstarkens rechtsradikaler und –extremistischer Parteien in mehreren EU-Staaten auf die Ausarbeitung der gemeinsamen Asylpolitik auswirken kann.
2 Ausgangsüberlegungen zu Asyl und Migration
2.1 Migranten, Flüchtlinge, Asylbewerber: Begriffe und globale Entwicklungen
Migrationsbewegungen liegt ein breites Spektrum von Ursachen zu Grunde. Ökonomische, demographische, ökologische, soziale, religiöse, ethnische und politische Gründe können Menschen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen. Migrations- und Fluchtbewegungen können langsam über einen längeren Zeitraum erfolgen, oder plötzlich - etwa aufgrund eines Kriegs - ausgelöst werden. Unterschieden werden kann außerdem zwischen Binnenmigration, also Wanderung innerhalb der Grenzen eines Landes, und grenzüberschreitender Migration.[4]
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts findet der weitaus größte Teil weltweiter Wanderungsbewegungen innerhalb der Staaten der sogenannten „Dritten Welt“, und hierbei besonders in Afrika, statt. Weltweit schätzt der Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) die Zahl der Flüchtlinge im Jahr 2001 auf etwa 12 Millionen Menschen.[5] Der europäische Kontinent ist davon zu etwa fünf Prozent betroffen.[6] Von Bedeutung für die vorliegende Arbeit sind grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen, welche die Staaten der Europäischen Union zum Ziel haben.
Indes sind nicht alle Menschen, die in die Europäische Union migrieren, Flüchtlinge. In der jüngeren Geschichte Europas kam es zu Vertreibungen und Repatriierungen während und in Folge der Weltkriege, zu Wanderungsbewegungen im Zuge der Entkolonialisierung sowie zu postkolonialen Wanderungsprozessen. Später rückten Formen der Arbeitsmigration – teilweise in Verbindung mit Anwerbeprogrammen seitens der sich entwickelnden Industriestaaten Nord- und Westeuropas - in den Vordergrund. Dazu kommt auch die „Migration von Eliten“, etwa Wissenschaftlern, Managern oder Journalisten. Den verschiedenen Wanderungs- und Niederlassungsprozessen schloss sich häufig weitere Migration durch Familiennachzug an. Schließlich wanderten – in signifikanten Zahlen etwa seit den 80er Jahren - Asylbewerber und Flüchtlinge innerhalb Europas, und von anderen Kontinenten nach Europa hinein. Diese letzte Migrationsform ist die, welche für die nachstehenden Überlegungen von Bedeutung ist.
Im Jahr 1992 haben in der gesamten Europäischen Union 675.460 Menschen einen Asylantrag gestellt. Jenes Jahr bildete den Höhepunkt einer Flüchtlingswelle aus dem zerfallenden Jugoslawien und den Kriegen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina. In den Jahren darauf ging die Zahl der Asylanträge zurück, hauptsächlich deshalb, weil zahlreiche Staaten – darunter Deutschland, Österreich und Frankreich – ihr Asylrecht einschränkten. So wurden 1996 in der EU nur mehr 233.460 Anträge gestellt. Zuletzt, im Jahr 2001, stieg die Zahl der Asylanträge wieder auf 384.530.[7]
Die wichtigsten Herkunftsländer der Asylsuchenden in der Europäischen Union im Zehnjahreszeitraum von 1992 bis 2001 sind in absteigender Reihenfolge Jugoslawien (679.927 Menschen), Rumänien (285.452), die Türkei (283.278), Irak (239.013), Afghanistan (158.779), Bosnien und Herzegowina (151.334), Sri Lanka (108.343), Iran (105.536), Somalia (104.203) und die heutige Demokratische Republik Kongo (88.743). In dieser Statistik sind jedoch nur Personen erfasst, die einen Asylantrag gestellt haben, und die nicht über andere Formen der Zuwanderung, etwa Familienzusammenführung, eingereist sind.[8]
Der Begriff „Flüchtlinge“ wird in der vorliegenden Diplomarbeit als Überbegriff benutzt. Er kann „Asylbewerber“ (Flüchtlinge, die einen Asylantrag gestellt haben) ebenso umfassen, wie „Asylberechtigte“ (Asylbewerber, deren Antrag anerkannt wurde) und sogenannte de - facto -Flüchtlinge (Flüchtlinge, die keinen Anspruch auf Asyl haben, aber aufgrund humanitärer oder politischer Gegebenheiten nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können und daher zumindest „geduldet“ werden).
Im Kontext der Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU wurde in den neunziger Jahren außerdem der Betriff „Vertriebene“ neu geprägt. Damit wurden Flüchtlinge aus dem Kosovo, die aufgrund einer „Massenfluchtsitiation“ in die EU einreisten, bezeichnet. Dieser Personenkreis wird in der vorliegenden Arbeit zum Zweck der Übersichtlichkeit und aufgrund der Tatsache, dass eine klare Unterscheidung zwischen so definierten „Vertriebenen“ und anderen Flüchtlingen nicht möglich ist, ebenfalls mit dem Begriff „Flüchtlinge“ belegt.
In Kontexten, bei denen es nur um Asylbewerber im engen Sinne geht, also beispielsweise nicht um Flüchtlinge, die keinen Asylantrag gestellt haben, werden die Begriffe „Asylbewerber“ oder „Asylsuchender“ verwendet. (Selbstverständlich werden darunter auch Asylbewerberinnen verstanden. Auf eine Verwendung der männlichen und der weiblichen Form, „Asylbewerberinnen und Asylbewerber“, oder die neuere Form „AsylbewerberInnen“ wird aus Gründen der Einfachheit und Klarheit des Textes verzichtet.)
2.2 Menschenrechte, staatliche Souveränität und innere Sicherheit: gegensätzliche Dimensionen von Flucht und Asyl
2.2.1 Asyl als Menschenrecht
Das Recht auf Asyl ist heute ein international weitgehend anerkanntes Menschenrecht. Aus ihm ergeben sich rechtliche Verpflichtungen für die Staaten, nämlich verfolgten Personen Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren, ihnen das Recht auf Asyl einzuräumen, und sie nicht in ein Land abzuweisen, in dem ihnen Folter oder Tod drohen könnte.
Ursprünglich stammt das Wort „Asyl“ aus dem Griechischen („ asylon “) und bedeutet „Frei-“ oder „Zufluchtsstätte“. Als religiöses, aber auch politisches oder rechtliches Gebot ist es weit mehr als 2000 Jahre alt. Das Alte Testament zeugt von verschiedenen Arten der Asylgewährung bei den Israeliten, etwa zugunsten von Personen, die aufgrund der Blutrache verfolgt wurden, rechtloser Sklaven oder von Fremdenfeindlichkeit bedrohter reisender Kaufleute. Asyl konnte sowohl von Fall zu Fall persönlich von einem Herrscher, als auch regelmäßig an bestimmten heiligen Stätten oder sogar im Rahmen völkerrechtlicher Verträge, etwa zwischen den Ägyptern und den Hethitern, gewährt werden. Insgesamt bedeutete es eine Art Korrektiv gegen gesellschaftliche Ordnungen, die das System der Blutrache zuließen und Fremde oder Sklaven nur unzureichend schützte.[9]
Neben diesen frühen Formen der Asylgewährung ist vor allem auch das Zeitalter der Aufklärung bedeutsam für die Entwicklung des modernen Asylrechts. Die Aufklärung und die in der französischen Revolution formulierten Menschenrechte leiteten das Ende der Leibeigenschaft ein und bewirkten so, dass Menschen nicht mehr als Sachen betrachtet werden konnten, sondern als freie Individuen, gleich an Rechten.[10] Das Individuum erhielt nun neben Pflichten auch Rechte gegenüber dem Staat - sogar gegenüber fremden Staaten: Dann, wenn es aufgrund politischer Verfolgung im Herkunftsland Zuflucht in einem anderen Staat suchte, hatte dieser die Pflicht, Asyl zu gewähren. Zu dieser Zeit begann das Asylrecht, eine Rechtsnorm zu werden. Im Jahr 1948 wurde es unter dem Eindruck der Verfolgungen und Vertreibungen im Zuge des zweiten Weltkriegs in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aufgenommen.[11] Es lautet: „Jedermann hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“[12]
Während das Asylgebot der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte noch offen läßt, was „Asyl“ genau bedeutet, definiert es der Europarat im Jahr 1995 als „ admission to live on the territory of a state, on a permanent or temporary basis “.[13] Die Personen, auf die sich das Asylrecht richtet, werden im Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) vom 28. Juli 1951 wie folgt definiert: Ein Flüchtling ist eine Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will [...]“[14]
Für die so definierten Flüchtlinge gilt neben dem Recht auf Asyl auch das an die Aufnahmestaaten gerichtete Verbot der Zurückschiebung eines Flüchtlings in ein Land, in dem ihm Gefahr für Leib und Leben droht. Dieses Verbot der Zurückschiebung, das sogenannte non-refoulement -Gebot, ist in Artikel 33 der GFK verankert. Danach darf ein Flüchtling nicht in Länder zurückgewiesen werden, „in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“[15] Dies gilt auch, wenn ein Flüchtlinge in dem Land, das ihn aufgenommen hat, nicht offiziell als Flüchtling oder Asylberechtigter anerkannt wurde.
Die GFK ist heute in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union geltendes Recht. Ihre Gültigkeit und ihre hochrangige Bedeutung für die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik wurde mehrmals bestätigt.[16] Unterschiede bestehen jedoch bei der Implementierung und Auslegung des in den meisten Staaten aus der GFK abgeleiteten Asylrechts. Während einige Länder strikt daran festhalten, nur Flüchtlingen Asyl zu gewähren, die vor politischer Verfolgung durch einen Staat oder staatliche Stellen geflohen sind, legen andere das Asylgebot großzügiger aus und schützen auch Menschen, die Opfer von Bürgerkriegen oder Umweltkatastrophen geworden sind oder aufgrund ihres Geschlechts oder sexuellen Orientierung Zuflucht suchen. In vielen Staaten ist es jedoch auch zu Debatten darüber gekommen, ob im Rahmen des Asylrechts auch Menschen asylrechtlichen Schutz suchen, die vor der Armut in ihrem Herkunftsland fliehen, die also nicht im engen Sinne „verfolgt“ werden. In diesem Kontext wurde häufig von „Missbrauch“ des Asylrechts durch „Wirtschaftsflüchtlinge“ gesprochen. Das Argument des „Mißbrauchs“ dient den Akteuren in der Regel dazu, die Existenz des Asylrechts anzuzweifeln oder eine Verschärfung von Asylregelungen einzufordern.
Die historische Entwicklung und Umsetzung des Asylrechts ist somit nicht abgeschlossen. Einerseits bildet es ein anerkanntes Menschenrecht, andererseits bietet es immer wieder Stoff für gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Trotz seiner unbestreitbaren menschenrechtlichen Bedeutung scheint es nicht politischer Wille der meisten EU-Staaten zu sein, dem Asylgebot so weit wie möglich Folge zu leisten. Wie sonst wäre zu erklären, wie später gezeigt werden wird, dass alle Staaten der EU mehr oder minder vehement daran arbeiten, so wenigen Flüchtlinge wie möglich Zugang zu ihrem Staatsgebiet und zu gesellschaftlicher Integration zu bieten? Wie ist erklärbar, warum die Staaten mit immer größerem Aufwand die Sicherung ihrer Grenzen vorantreiben und versuchen, Flüchtlinge nicht in die Nähe des Staatsterritoriums gelangen zu lassen?
2.2.2 Flüchtlinge als Herausforderung für Souveränität und innere Sicherheit
Das moderne internationale politische System und das Völkerrecht basieren auf der Vorstellung von unabhängigen, souveränen Staaten. Mit der französischen und der amerikanischen Revolution, sowie mit den verschiedenen Richtungen der Demokratietheorie hat sich herausgebildet, dass „Souveränität“ – ein Grundprinzip der Staatlichkeit - einem Volk gebührt.[17] Die Verbindung zwischen einem Volk, einem umgrenzten Gebiet, auf dem es lebt, sowie einer Regierungsform macht den heutigen Staat aus und hat die heutige Vorstellung von Staatsbürgerschaft herausgebildet. Staatsbürger sind demnach Personen, die einem bestimmten Staatsvolk angehören – unabhängig von der Frage, ob sich ihre Zugehörigkeit von der Abstammung (vom Blut), vom Boden (also vom Gebiet, auf dem eine Person geboren ist) oder von ihrer Zustimmung zu einem bestimmten politisch-gesellschaftlichen Wertesystem herleitet. Die Definition von Staatsbürgern impliziert, dass nicht jeder Mensch Bürger eines jeden Staates sein kann. Insofern ist Staaatsbürgerschaft exklusiv; sie zu definieren, macht nur dann Sinn, wenn es auch Menschen gibt, die nicht zum Staatsvolk gehören – auch wenn Staatsbürgerschaft erworben werden kann.[18]
Mit der Geburt des Nationalstaats, in dem ein Volk über ein bestimmtes Gebiet verfügt, kommt es nun dazu, dass sich Staaten oder Völker voneinander abgrenzen. Sie betrachten sich jeweils als souverän und stützen sich dazu nach außen auf Unabhängigkeit und Grenzziehung, sowie nach innen auf eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung und deren Aufrechterhaltung. Von daher kann aus der Souveränitätsvorstellung – verbunden mit dem Staatsbürgerschaftsgedanken - auch abgeleitet werden, dass souveräne Staaten ein Interesse an der Frage haben, wer ihre Grenzen überschreitet und sich auf ihrem Gebiet niederläßt. Souverän ist in dieser Hinsicht nur der Staat, der über gesicherte Grenzen verfügt und Immigration kontrollieren und steuern kann.[19]
Der heute noch bestehende Einfluss der Souveränitätsvorstellung nicht nur auf die internationalen Beziehungen und das Völkerrecht, sondern auch auf die politische Behandlung von Migrationsfragen im Innern von Staaten, läßt sich anhand von neueren Stellungnahmen von Politikern und Wissenschaftlern nachweisen. Im Jahr 1988 begründete die CDU/CSU in Deutschland einen ausländerpolitischen Gesetzentwurf mit den Worten: „Die Souveränität eines jeden Staates ist auf das eigene Staatswohl und das Wohl des eigenen Staatsvolkes verpflichtet. Auch gehört es zum Kernbereich staatlicher Souveränität, autonom zu entscheiden, ob und inwieweit ausländische und Ausländerinteressen mit den eigenen Interessen übereinstimmen und aus diesem Grund zu beachten sind“[20].
Auch in noch aktuelleren Diskussionen kommt die Souveränitätsvorstellung und das damit zusammenhängende Bedürfnis, Migration staatlicherseits zu kontrollieren, immer wieder zum Tragen. So forderte etwa der derzeitige deutsche Innenminister Otto Schily anläßlich von Beratungen im EU-Rahmen über die Sicherung der gemeinsamen Außengrenzen im Mai 2002, die EU-Länder müßten ihre „Steuerungs- und Handlungsfähigkeit zurückgewinnen“, also die „Kontrolle darüber, wer zu uns kommt und wer nicht kommen soll“[21]. Der Jurist Michael Waldstein schreibt in einer Betrachtung des deutschen Asylgrundrechts im europäischen Kontext: „Ohne eine europäische Koordinierung des Flüchtlingsrechts würden die ohnehin schon schwer kontrollierbaren Flüchtlingsbewegungen jeglicher Lenkung entzogen.“[22] Auch Waldstein deutet damit an, die Migration von Flüchtlingen müsse gesteuert werden. Zurückgeführt werden kann dieses Postulat auf die Vorstellung staatlicher Souveränität. Sie liefert einen Grund dafür, warum Staaten den Aufenthalt von ausländischen Staatsbürgern auf ihrem Gebiet an Bedingungen knüpfen oder sich sogar gegen Zuwanderung abschotten.
Gleichwohl bildet die Souveränität nicht die einzige Argumenationslinie, die beim innenpolitischen Umgang mit Migrationsfragen eine Rolle spielt. Vielmehr wird auch mit ökonomischen oder demographischen Interessen einer Gesellschaft argumentiert. So können Staaten die Zuwanderung von Ausländern als ökonomisch erforderlich betrachten, wenn auf dem nationalen Arbeitsmarkt bestimmte Fachkräfte fehlen. In demographischer Hinsicht wird in industrialisierten Ländern betont, angesichts sinkender Geburtenraten und einer alternden Gesellschaft könne Zuwanderung zur Linderung des negativen Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die Sozialversicherungs- oder Rentensysteme beitragen.[23] Viele Staaten der Europäischen Union haben aufgrund solcher Überlegungen phasenweise Zuwanderer angeworben. Auf der anderen Seite kann der Zuzug von Ausländern, etwa bei hoher Arbeitslosigkeit oder angesichts sozialer Spannungen und fremdenfeindlicher Abwehrhaltungen in der Bevölkerung, auch als gesellschaftlich unerwünscht betrachtet werden. Dann besteht das Hauptinteresse der Politik in der Regel darin, Zuwanderung zu erschweren oder zu verhindern. Zu beachten ist, dass die genannten ökonomischen oder demographischen Überlegungen zwar in der Migrationspolitik allgemein eine Rolle spielen, speziell im Asylbereich jedoch weniger bemüht werden, da die Zuwanderung von Flüchtlingen im Gegensatz zur Arbeitsmigration naturgemäß nicht gezielt – etwa zum Ausgleich eines Arbeitsmarktengpasses – und nicht auf der Basis spezieller Qualifikationen der Zuwanderer erfolgt.
Sehr häufig wird in der Migrationspolitik auch mit Argumenten der „inneren Sicherheit“ operiert – vor allem, wenn es um die Begrenzung der Zuwanderung geht. Wenn Immigrationsfragen mit „innerer Sicherheit“ verknüpft werden, so kann damit gemeint sein, dass Einwanderer in den Aufnahmegesellschaften etwa das Arbeitsmarkt- und Lohngefüge stören könnten, dass in der Bevölkerung bei einer als zu hoch vermuteten Einwanderungsrate „Überfremdungsgefühle“ oder Angst vor einem Verlust der „kulturellen Identität“ auftreten könnten, die wiederum rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen befördern, oder – und dieses Argument wird aktuell besonders oft hervorgehoben – dass Menschen immigrieren könnten, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen oder gar als Terroristen einen Unterschlupf zur Planung krimineller Aktivitäten suchen. Im Hinblick auf den Aspekt der Ausländerkriminalität schreibt etwa Reinhard Rupprecht, im Jahr 1997 Ministerialdirektor im Bundesministerium des Innern: „An der polizeilichen Kriminalstatistik läßt sich ablesen, daß Immigration zu einer verstärkten Kriminalitätsbelastung führt.“ Es ließe sich feststellen, so Rupprecht, dass „die ausländische Bevölkerung in Deutschland und insbesondere die hier lebenden Asylbewerber tendenziell wesentlich stärker kriminalitätsbelastet sind als Deutsche.“[24] Ob diese Sichtweise die tatsächlichen Verhältnisse korrekt widerspiegelt, muss aus verschiedenen Gründen, bezweifelt oder zumindest relativiert werden (siehe dazu Kapitel 5.1). Festzuhalten bleibt an dieser Stelle jedoch, dass solche Einschätzungen – verbunden in der Regel mit Forderungen nach strikter Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung - weit verbreitet sind und nicht nur in der Bundesrepublik die Haltung eines großen Teils der Bevölkerung sowie von für Migrationsfragen zuständigen politischen Akteuren widerspiegeln. Auch die Europäische Kommission stellt in einem nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf New York und Washington verfassten Arbeitsdokument ein bestimmtes „Verhältnis zwischen der Gewährleistung der inneren Sicherheit und der Erfüllung der Anforderungen aus internationalen Schutzverpflichtungen und den diesbezüglichen Instrumenten“ fest. Sie beleuchtet, anders gesagt, die Zusammenhänge zwischen dem Menschenrecht auf Asyl und der inneren Sicherheit im Hinblick auf Gefahren, die von etwaigen Asylsuchenden ausgehen können, die extremistische oder terroristische Ziele verfolgen.[25]
Im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik dienen solche Überlegungen – auch wenn sich die EU-Kommission in ihrem Arbeitsdokument entschieden gegen eine einseitige Stigmatisierung von Flüchtlingen als die innere Sicherheit bedrohende Subjekte wendet[26] - in der Regel der Legitimierung einer Politik, die die Flüchtlingsimmigration begrenzen oder unterbinden will. Von daher bilden Überlegungen der inneren Sicherheit, die mit dem Souveränitätsgedanken in Verbindung stehen, auf der einen, und Menschenrechte auf der anderen Seite, die beiden entscheidenden Dimensionen im Umgang mit Flucht und Asyl. Sie stehen in einem scharfen Gegensatz zueinander, denn während menschenrechtliche Argumente für die Offenheit einer Gesellschaft gegenüber der Einwanderung von Flüchtlingen und Asylsuchenden sprechen, wirken sich die Sicherheits- und Souveränitätsüberlegungen in der politischen Praxis restriktiv und begrenzend aus. Mit innerer Sicherheit und Souveränität wird im Kontext der Flüchtlingspolitik zumeist dann argumentiert, wenn eine Begrenzung der Flüchtlingszuwanderung gefordert wird; auf die Wahrung von Menschenrechten beruft sich dagegen, wer für eine Öffnung eintritt.
2.2.3 Flüchtlinge im Spannungsfeld von Menschenrechten, Souveränität und innerer Sicherheit
Aus den vorangegangenen Abschnitten ergibt sich eine Position von Flüchtlingen in einem Spannungsfeld von Menschenrechten sowie ihrer Gewährung und Verwirklichung einerseits, und einem staatlich-gesellschaftlichen Streben nach Souveränität und innerer Sicherheit andererseits.
Diesen Zwiespalt auf einer theoretischen Ebene weiter zu durchdringen, bedeutet, zu fragen, ob der Staat im Vordergrund des internationalen politischen Systems steht, oder aber das Individuum. Zwei Richtungen der Theorie der internationalen Beziehungen erscheinen für diese Frage besonders relevant. Die realistische Theorie geht davon aus, dass die souveränen Staaten die zentralen Akteure des internationalen Systems sind. Ihre Souveränität hat eine innere und eine äußere Dimension. Die nach außen gerichtete Dimension lautet, dass kein Staat Einfluß auf die inneren Angelegenheiten eines anderes ausüben darf, und dass die Staaten exklusive Kontrolle über ihr Gebiet und ihre Bevölkerung haben. Im Innern ist es Kernaufgabe des souveränen Staates, Recht und Ordnung zu setzen und für deren Einhaltung zu sorgen. Er fungiert hier also als Garant von Sicherheit – die innere Sicherheit ist seine Priorität. Die Einhaltung von Menschenrechten ist – vor allem in Krisenzeiten – demgegenüber nachrangig.[27]
Universelle Normen wie Menschenrechte, die beachtet werden müssen, führen in diesem Kontext dazu, dass die Staaten doch von außen beeinflußt werden, dass ihre Souveränität insofern begrenzt wird, als sie für die Einhaltung der verbrieften Menschenrechte und international geltenden Normen in ihrem Innern Sorge tragen müssen.[28] Migrationsphänomene, zumal wenn es sich bei den Migrierenden um politisch Verfolgte handelt, deren Rechte die Staaten einzuhalten verpflichtet sind, stellen in der realistischen Sichtweise damit eine Herausforderung für die Souveränität der Staaten dar. Sie sind gezwungen, diese Rechte zu schützen, doch widersprechen diese Rechte gleichzeitig dem Ziel der umfassenden Souveränität und Selbstbestimmung.[29] Diese These kann als erklären, warum Staaten versuchen, Rechtsverpflichtungen wie der GFK nur so weit wie unbedingt erforderlich Folge zu leisten. Andererseits macht die Vielzahl der internationalen Normen, an die Staaten gebunden sind, deutlich, dass die staatliche Souveränität heute derart begrenzt ist, dass es anachronistisch wirken kann, sich beim Umgang mit Migrationsfragen auf das Argument der Souveränität zu beziehen.
Anders gestaltet sich die Flüchtlingsproblematik in der idealistischen Theorie. Hierbei sind nicht die Staaten die wichtigste Einheit des internationalen Systems, sondern die Individuen – und zwar als Teile einer universellen Menschheit. In dieser Hinsicht besteht die Rolle der Staaten vor allem darin, die Rechte nicht nur ihrer Bürger, sondern aller Menschen zu schützen. Souverän ist nicht der Staat, sondern das Individuum, und Ziel des Staates muss sein, dazu beizutragen, dass ihm überall und jederzeit seine universellen Rechte gewährt werden. Überträgt man diese Sicht des internationalen Systems auf Flüchtlinge, so wird deutlich, dass diese nicht mehr – wie in der realistischen Theorie - eine Herausforderung für Souveränität und innere Sicherheit der Staaten darstellen, sondern vor allem selbst als Träger von Rechten betrachtet werden müssen. Als in ihren fundamentalen Rechten verletzte Personen sind sie unbedingt schutzbedürftig. Jeder Staat ist damit als den Bedürfnissen der Menschen verpflichtetes Institut zu ihrem Schutz angehalten.[30]
In der heutigen Zeit sind die Staaten zwar weiterhin die zentralen Akteure des internationalen politischen Systems; ihr Souveränitätsanspruch besteht nach wie vor. Vor dem Hintergrund der idealistischen Theorie ist über die Jahrzehnte allerdings auch eine fortschreitende völkerrechtliche Kodifizierung von Menschenrechten und universellen Normen zu beobachten, und damit auch eine Beschränkung der Souveränität der einzelnen Staaten. Die Frage, welche theoretische Ansatz überwiegt, ist somit nicht klar zu beantworten. Feststellbar ist in jedem Fall jedoch, dass Asyl- und Flüchtlingsfragen in einen Zwiespalt zwischen Menschenrechten und Souveränität sowie der damit zusammenhängenden inneren Sicherheit gelangt sind. Während eine umfassende Offenheit von Staaten oder Gesellschaften gegenüber der Immigration von Flüchtlingen aufgrund des Souveränitätspostulats utopisch erscheint, geht andererseits eine Totalabschottung nach außen nicht mit den Menschenrechten konform. Im Bereich der Europäischen Union wird somit kein Staat die universelle Geltung der Menschenrechte und seine Gebundenheit an sie – etwa an das Asylrecht - leugnen. Ebenso wird aber auch kaum ein Staat bereit sein, seine Souveränität und seine innenpolitische Ordnungskompetenz derart zurückzustellen, dass alle in Frage kommenden schutzbedürftigen Flüchtlinge seine Grenzen überschreiten und sich auf dem Staatsgebiet niederlassen können. Es kann daher beobachtet werden, dass die Staaten heute bemüht sind, einen Mittelweg zwischen beiden Polen zu finden – wenn auch mit einer vielfach beschriebenen „Schlagseite“ in Richtung des Sicherheits- und Souveränitätsdenkens, dem Menschenrechtsfragen untergeordnet werden.
Wie sich die Mitgliedstaaten der EU und die Organe der Gemeinschaft in diesem Spannungsfeld positionieren, ist Thema der folgenden Abschnitte. Bevor die asylpolitischen Weichenstellungen auf EU-Ebene untersucht werden, soll zunächst ein Blick auf die nationalstaatlichen Ebenen, also die asyl- und flüchtlingspolitischen Situationen und Verhaltensweisen ausgewählter EU-Staaten geworfen werden.
3 Charakteristika der Asyl- und Flüchtlingspolitik in ausgewählten EU-Staaten
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der europäische Kontinent von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungskontinent geworden. Noch in der Nachkriegszeit waren alle europäischen Länder außer Frankreich stärker von Emigration als von Immigration geprägt. Viele von ihnen – etwa Italien, Spanien oder die Niederlande - förderten die Auswanderung sogar, weil sie sich davon eine Linderung ihrer Arbeitslosigkeitsprobleme versprachen.
Wenig später, als während der wirtschaftlichen Aufschwungjahre der 50er und 60er Jahre in ein Arbeitskräftemangel offenkundig wurde, initiierten viele europäische Staaten temporär gedachte Einwanderungsprogramme. Menschen migrierten innerhalb Europas von Süden nach Norden, aber auch aus außereuropäischen Gebieten in die industriellen Zentren der heutigen EU. Hinzu kamen postkoloniale Wanderungsprozesse, und später auch Einwanderungsbewegungen aufgrund von Familiennachzug durch bereits niedergelassene ausländische Arbeitskräfte. Daneben begannen weltweite Wanderungsströme von Flüchtlingen und Asylsuchenden auch den europäischen Kontinent zu erreichen.[31]
Zwischen 1950 und 1990 sind die ausländischen Wohnbevölkerungen der heutigen EU-Staaten sowie der Schweiz, Liechtensteins und Norwegens um etwa das Vierfache gewachsen: Von insgesamt 3,7 Millionen im Jahr 1950 bis auf 16 Millionen 1990. Heute wird davon ausgegangen, dass in den EU-Staaten zusammengenomen etwa 19 Millionen Ausländer leben. Prozentual umschrieben bedeutet dies einen Zuwachs von 1,3 Prozent 1950 auf 5,1 Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahr 2002.[32]
Obwohl es in Europa immer schon Wanderungsbewegungen gegeben hat, ob aus religiösen Gründen nach der Reformation, oder aus ökonomischen oder politischen Gründen im 19. und 20. Jahrhundert, herrschten fast in allen Perioden neben akzeptierenden auch zurückhaltende, wenn nicht gar ablehnende Haltungen gegenüber Einwanderung. Es kursierten Vorstellungen von nationalen Identitäten, die durch Einwanderung bedroht würden. Diese Identitäten wurden auf alte Traditionen zurückgeführt und schlossen oft völkische oder biologische Aspekte ein. Noch in den 80er Jahren sprach etwa die englische Premierministerin Margaret Thatcher vom „ british stock “ und seinen besonderen Eigenschaften.[33] Debatten um nationale „Leitkulturen“, die von Zuwanderern untergraben würden, oder an die sich Zuwanderer assimilieren müßten, gab und gibt es heute noch in vielen Ländern.
Ebenso sind in allen Mitgliedstaaten der EU immer wieder – besonders in den 90er Jahren und später - mehr oder weniger starke Ängste vor einem „Massenzustrom“ von Flüchtlingen und politisch Verfolgten aufgekommen. Durch solche Ängste haben sich Regierungen vielfach ermutigt gefühlt, Einwanderungswege abzuschneiden, Asylregelungen zu verschärfen und Rückkehrmaßnahmen zu intensivieren, obwohl dieselben Regierungen oft auch zu argumentieren versuchten, Einwanderung sei aufgrund der demographischen Entwicklung des jeweiligen Landes notwendig und trage zur Stützung des Sozial- und Rentenversicherungssystems maßgeblich bei. In bestimmten Fällen, etwa im Asylbereich, könne Immigration menschenrechtlich geboten sein oder eine humanitäre Verpflichtung darstellen.
In Deutschland stehen Themen der Flüchtlings- und Asylpolitik seit den 70er Jahren im Zentrum politischer Debatten. Auch in der Schweiz, den Niederlanden, in Skandinavien oder Großbritannien ist Flüchtlingspolitik regelmäßig Gegenstand von Auseinandersetzungen. In den südlichen EU-Ländern entzünden sich Konflikte vor allem an der „illegalen Einwanderung“, also an den Flüchtlingen, die mit Schiffen an den Küsten Kalabriens oder Andalusiens landen. In den folgenden Abschnitten sollen asyl- und flüchtlingspolitische Problemlagen und Auseinandersetzungen in ausgewählten EU-Staaten, die für die künftige gemeinsame EU-Migrationspolitik im Hinblick auf ihre Stellung im erwähnten Spannungsfeld zwischen Menschenrechten und dem Streben nach innerer Sicherheit und Immigrationsbegrenzung von Bedeutung sind, skizziert werden. Die Lage in den Einzelstaaten ist insofern für die Entwicklung der EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik von Bedeutung, als nationalstaatliche Debatten und Standpunkte über die Innenminister der Staaten und den Rat der Europäischen Union, in dem sie vertreten sind, ins Entscheidungssystem der Gemeinschaft einfließen.
Mitunter wird in dieser Beschreibung über Asyl- und Flüchtlingspolitik im engen Sinne hinausgegangen. Auch das Migrationsgeschehen im Allgemeinen spielt eine Rolle, denn obwohl Asyl- und Flüchtlingsbelange innerhalb der Migrationspolitik eine besondere Stellung einnehmen, wird sowohl von der Politik als auch von der Öffentlichkeit nicht immer zwischen den verschiedenen Migrationsformen differenziert.
3.1 Deutschland
Die Bundesrepublik Deutschland etablierte im Jahr 1949 ein Asylrecht und verankerte es im neu geschaffenen Grundgesetz. Durch seine vorbehaltlose Formulierung – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ (Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 GG) – folgte es den Prinzipien der Gewährleistung der Menschenrechte und der Liberalität. Kaum ein anderer Staat kannte zu diesem Zeitpunkt ein ebenso umfassendes Asylrecht. Seine Realisierung muss als Reaktion auf die Erfahrung des Nationalsozialismus verstanden werden, und vor allem auf die Tatsache, dass Hitlerdeutschland und der Zweite Weltkrieg Millionen von Flüchtlingen produziert hatten, von denen viele, die nirgends Zuflucht fanden, ums Leben kamen.[34]
Ein weiteres besonders Kennzeichen des deutschen Umgangs mit Flucht und Asyl ist – im Vergleich zu anderen Staaten – ein relativ hoher Grad der „Verrechtlichung“ des Asylverfahrens. Dieses Verfahren, gegründet auf das Grundgesetz, ist auf das Rechtstaatlichkeitsprinzip zurückzuführen. Dem einzelnen Flüchtling sind juristische Mittel gegeben, dem Staat gegenüber Ansprüche geltend zu machen. Asyl wird nicht als Gnadenakt gewährt oder verweigert, sondern ist ein – gegebenenfalls über mehrere Gerichtsinstanzen einklagbares - Individualrecht.
In den ersten zwei Jahrzehnten nach Inkrafttreten des Grundgesetzes lag die Zahl der Menschen, die das Asylrecht in Anspruch nahmen, relativ niedrig. Viele Antragsteller stammten aus den Staaten des Ostblocks und wurden als „Kämpfer für Freiheit und Demokratie“ zumeist bereitwillig aufgenommen.[35] In den 70er Jahren begann die Zahl der Flüchtlinge anzusteigen; die Zunahme der weltweiten Migrationsströme wirkte sich auch auf die Bundesrepublik aus: Immer mehr Personen kamen nicht aus dem Osten, sondern aus Ländern der „Dritten Welt“ nach Deutschland. Dies führte zu ablehnenden Reaktionen in der Bevölkerung, die von Teilen der Medien geschürt wurden, und die auch Politiker immer wieder bedienten. Ursächlich dafür waren jedoch nicht nur Zahlen und Ängste vor Kriminalität, sondern auch die Tatsache, dass die Bundesrepublik zwar über ein relativ großzügiges Asylrecht verfügte, sich gleichzeitig jedoch nicht als Einwanderungsland betrachtete.
Gegen Ende der 70er Jahre begann die Bundesrepublik, asylpolitische Restriktionen wie Arbeitsverbote für neu ankommende Asylsuchende, die Pflicht zum Wohnen in staatlichen Sammelunterkünften, oder die Auszahlung von Sozialleistungen in Form von Sachmitteln, zu verhängen. Für mehrere wichtige Herkunftsländer von Flüchtlingen wurde die Visumpflicht eingeführt. Gleichzeitig nahm auch der Grad der „Verrechtlichung“ des Asyls ab: Widerspruchsfristen gegen ablehnende Asylbescheide wurden verkürzt. Alle dieser Maßnahmen zielten auf Abschreckung möglicher neuer Asylsuchender.
Im Wahlkampf des Jahres 1980 wurde die Aufnahme von Flüchtlingen Gegenstand pointierter Polemiken zwischen den Parteien. Von einer „Asylantenflut“ oder „Scheinasylanten“ war die Rede, und aufgerufen wurde zum „Kampf gegen den Asylmißbrauch“.[36] Eine anhaltende Hysterie, begleitet von rassistisch motivierten Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und Wohnhäuser von Ausländern in den frühen 90er Jahren, verursachte letztlich, dass das Grundrecht auf Asyl 1993 von einer Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestages zugunsten einer massiven Begrenzung der Flüchtlingszuwanderung abgeändert wurde. Die Botschaft des Artikels 16, nunmehr Artikel 16a GG, blieb formal erhalten, doch die Substanz des Asylrechts änderte sich dramatisch. Flüchtlinge hatten keinen Anspruch auf Asyl mehr, wenn sie über einen sogenannten „sicheren Drittstaat“ in die Bundesrepublik einreisten. Darüber hinaus wurde eine Liste „sicherer Herkunftsländer“ erstellt – Personen aus diesen Ländern stand das Asylrecht grundsätzlich nicht mehr zur Verfügung. Als dritte Säule der Reform wurde das im Asylverfahrensgesetz niedergelegte „Flughafenverfahren“ geschaffen. Ihm zufolge haben Flüchtlinge, die über einen internationalen Flughafen nach Deutschland einreisen, ein beschleunigtes Asylverfahren zu durchlaufen, während dessen sie den Transitbereich des Flughafengeländes nicht verlassen dürfen.
Der „Erfolg“ des Gesetzes ließ nicht auf sich warten. Kamen im Jahr 1992 noch fast 440.000 Asylsuchende nach Deutschland, so waren es 2001 kaum mehr als 88.000. Gegenüber dem Rückgang der Einreisen war gleichzeitig eine Zunahme der Abschiebungszahlen zu verzeichnen. In den Jahren 1997 und 1998 wanderten mehr Menschen ausländischer Staatsangehörigkeit – freiwillig oder unter Zwang - aus Deutschland aus, als ein.[37] Von denjenigen Flüchtlingen, die noch nach Deutschland gelangten und einen Asylantrag stellten, wurden immer weniger als Asylberechtigte im Sinne des Artikel 16a GG anerkannt.[38]
Im Bereich der alltäglichen Asylverwaltung wurden in Folge der Grundgesetzänderung immer wieder skandalöse Umstände in der Behandlung von Asylbewerbern bekannt: Das Flughafenverfahren führte zu offenkundigen Fehlentscheidungen über Asylgesuche, die Bedingungen in der Abschiebehaft erbrachten menschliche Tragödien, Suizide und Hungerstreike. Vereinzelt kamen Flüchtlinge bei oder im Vorfeld von Abschiebungen ums Leben. Durch das Asylbewerberleistungsgesetz wurde schließlich festgeschrieben, dass Asylsuchende, die einem Arbeitsverbot unterliegen, niedrigere Sozialleistungen empfangen, als deutsche Staatsbürger. Kurz: Das neue deutsche Asylsystem erfüllte einerseits seinen Zweck der Reduzierung des Flüchtlingszustroms, andererseits erhoffte man sich durch flankierende Maßnahmen einen Abschreckungseffekt.[39]
Festzuhalten ist also, dass sich die deutsche Asylpolitik zwischen 1949 und heute grundlegend verändert hat. Während in der Nachkriegsszeit mit dem Asylartikel des Grundgesetzes versucht wurde, eine großzügige Flüchtlingspolitik zu betreiben, die über völkerrechtliche Verpflichtungen sogar hinausging, so wurden in den Jahrzehnten danach immer wieder Beschneidungen dieses Rechts erwirkt. Die Asylrechtsänderung von 1993 schließlich belegt, dass der Einwanderungsbegrenzung, und damit der inneren Ordnung und der staatlichen Souveränität heute mehr Bedeutung beigemessen wird, als einer Gewährung der Menschenrechte von Flüchtlingen. Die geradezu alltäglichen Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Asylverwaltung und dem Abschiebungs- und Abschiebungshaftsystem werden vom überwiegenden Teil der Medien, der Politik und der Bevölkerung, wie etwa Michael Bommes urteilt, seit Jahren kaum mehr zur Kenntnis genommen.[40]
3.2 Frankreich
Im Gegensatz zu Deutschland verstand sich Frankreich - von wenigen Phasen in der neuesten Geschichte des Landes abgesehen – stets als Einwanderungsland. Dies gilt auch hinsichtlich des Asylrechts. Die Bedeutung der Nation als „ terre d’asile “ geht bis auf die französische Revolution und die Menschenrechtsdeklaration von 1789 zurück. Damals wurden jedem Individuum unveräußerliche Rechte wie Freiheit, Recht auf Besitz, persönliche Sicherheit und das Recht, Widerstand gegen Unterdrückung zu leisten, eingeräumt. Sie drückten Grenzen des staatlichen oder gesellschaftlichen Zugriffs auf das Individuum aus und sollten so das Prinzip der Souveränität des Volkes garantieren – basierend auf den Rechten des Einzelnen. Das Flüchtlingsrecht leitet sich direkt aus einigen dieser Rechte ab. Ein Flüchtling, der wegen Verletzung dieser seiner Rechte Zuflucht suchte, wurde als Kämpfer für Freiheit und Menschenrechte aufgenommen. Diese Tradition läßt sich auch heute noch – wenn auch mit deutlichen Abstrichen – erkennen.
Ähnlich wie die Bundesrepublik Deutschland schloss Frankreich in den 60er Jahren bilaterale Abkommen mit Marokko, Tunesien, Mali, der Türkei und anderen Staaten zur Anwerbung von Arbeitskräften ab. Der Bedarf an ausländischen Arbeitern und damit nach Einwanderung koinzidierte jedoch mit einem anwachsenden Nationalbewußtsein und damit dem Bedürfnis des Staates, Migrationsphänomene zu begrenzen. So wurde die Einreise von Migranten mit bestimmten beruflichen Qualifikationen, für die aus Sicht der Regierung kein Bedarf herrschte, beschränkt, und die Pflicht, über einen Pass oder einen Identitätsausweis zu verfügen, eingeführt.
Trotz verschiedener Bemühungen, die Grenzen für Arbeitseinwanderung zu schließen, blieb legale und illegale Einwanderung nach Frankreich jedoch stets eine Realität.[41] Auch unterhält Frankreich ein auf dem ius soli -Gedanken basierendes Staatsbürgerschaftsrecht, das sich etwa vom deutschen grundlegend unterscheidet. In Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern erhalten automatisch die französische Staatsbürgerschaft.[42] Dieses Recht steht zwar in keinem direkten Zusammenhang mit der Asylgesetzgebung, kann jedoch als Zeichen für eine gewisse Offenheit der Nation gegenüber Einwanderung gewertet werden.
Die Zahl der in Frankreich Asyl suchenden Flüchtlinge ist geringer, als in Deutschland, und fiel zwischen 1990 und 1996 kontinuierlich ab. Während 1990 etwa 55.000 Menschen Asyl in Frankreich beantragten, waren es 1996 nur noch 17.000. 1999 wurde wieder eine Zahl von 33.000 erreicht. Die Anerkennungsquoten liegen in Frankreich geringfügig höher als in Deutschland.[43]
Die Mitte der neunziger Jahre sinkenden Asylbewerberzahlen sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass die französischen Regierungen damals asylpolitische Maßnahmen ausarbeiteten, die an jene in Deutschland erinnern: 1993, als in Deutschland die Änderung des Asylgrundrechts in Kraft trat, erschwerte Frankreich mit den nach dem damaligen Innenminister benannten Pasqua-Gesetzen die Bedingungen zur Erlangung des Asylbewerberstatus. Ebenso wurde die Drittstaatenregelung eingeführt, und ab 1994 installierte man – ähnlich wie im deutschen „Flughafenverfahren“ - Wartezentren für Flüchtlinge in den Transitbereichen der größeren Flughäfen. Gleichzeitig wurden Sanktionen gegen Schlepper beschlossen, Rückführungsabkommen mit Herkunftsländern ausgehandelt, und es wurde vereinbart, dass die Behörden Asylsuchenden die Einreise nach Frankreich bereits an den Grenzen verwehren können, wenn ihnen ihr Gesuch unbegründet erscheint. Eine Verschärfung der Visumpolitik hatte über den Asylbereich hinaus zur Folge, dass 1994 nur noch 2,3 Millionen Menschen eine Einreiseerlaubnis für Frankreich bekamen – gegenüber 5,6 Millionen im Jahr 1987.[44] Das Motto der Politik des damaligen Innenministers Charles Pasqua lautete: „keine Einwanderung“.[45]
[...]
[1] Europäischer Rat, Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Tampere, 15./16.10.1999, Spiegelstriche 2 und 3.
[2] Vgl.: Sandra Lavenex , The Europeanisation of Refugee Policies. Between human rights and internal security, Aldershot 2001, S. 2; Christoph Gusy/Hans Arnold , Die Rechts- und Asylpolitik der Europäischen Union, in: Werner Weidenfeld (Hg.), Europa-Handbuch, Bonn 2002, S. 531-542, hier S. 531f.
[3] EG-Vertrag in der Fassung vom 2. Oktober 1997 (Amsterdamer Vertrag), Artikel 61.
[4] Vgl.: Sadako Ogata, Flüchtlinge und Migranten: Möglichkeiten der Steuerung von Wanderungsbewegungen, in: Steffen Angenendt (Hg.), Migration und Flucht, Bonn 1997, S. 239-247, hier S. 239-241.
[5] United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), 2001 global population statistics, http://www.unhcr.ch (statistics), S. 2.
[6] Vgl.: Klaus J. Bade, Einwanderungskontinent Europa: Migration und Integration am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Klaus J. Bade (Hg.), Einwanderungskontinent Europa: Migration und Integration am Beginn des 21. Jahrhunderts, Osnabrück 2001, S. 19-47, hier S. 28.
[7] UNHCR , Number of asylum applications submitted in 30 industrialized countries, 1992-2001, http://www.unhcr.ch (statistics).
[8] UNHCR, Asylum applications submitted in the European Union: top 10 origins, 1992-2001, http://www.unhcr.ch (statistics).
[9] Vgl.: Frank Dudda, Das Asylrecht im Alten Testament, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR),1/1996, S. 32-37.
[10] Vgl.: Helmut M. Müller, Schlaglichter der deutschen Geschichte, Bonn 2002, S. 126f und 133f.
[11] Vgl.: Hubert Heinhold, Recht für Flüchtlinge, Frankfurt am Main 2000, S. 73-76.
[12] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, Artikel 14, Absatz 1.
[13] Zitiert nach: European Parliament (Directorate General for Research) , Working Paper LIBE 108 EN – Asylum in the EU Member States, Brüssel 2000, S. 4.
[14] Artikel 11 GFK.
[15] Artikel 33 GFK.
[16] Neben der GFK ist auch die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) vom 4. November 1950 für die Asyl- und Flüchtlingspolitik von Bedeutung.
[17] Vgl. beispielsweise: Alexander Schwan, Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung, in: Hans-Joachim Lieber (Hg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 1993, S. 157-258, hier S. 212.
[18] Vgl.: Rogers Brubaker, Einwanderung und Nationalstaat in Frankreich und Deutschland, in: Der Staat, 28/1989, S. 1-30, hier S. 2-6.
[19] Vgl.: Lavenex, S. 8-10.
[20] Zitiert nach: Heribert Prantl, Sind wir noch zu retten?, München/Wien 1998, S. 184.
[21] Zitiert nach: Martin Winter, Raumpatrouille Europa. Die gemeinsamen Grenzen sollen besser geschützt werden, in: Frankfurter Rundschau (FR), 31.05.2002; vgl. außerdem: EU plant Grenzpolizei, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 31.05.2002.
[22] Michael Waldstein, Das Asylgrundrecht im europäischen Kontext, Frankfurt am Main 1993, S. 22.
[23] Zu den demographischen Aspekten der Migrationspolitik vgl. beispielsweise: Rainer Münz/Ralf E. Ulrich , Migration und zukünftige Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, in: Klaus J. Bade/Rainer Münz (Hg.), Migrationsreport 2000: Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt am Main/New York 2000, S. 23-57.
[24] Reinhard Rupprecht, Zuwanderung und Innere Sicherheit; in: Angenendt 1997, S. 87-95, hier S. 87f.
[25] Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Arbeitsdokument 2001/743 der Kommission: Das Verhältnis zwischen der Gewährleistung der inneren Sicherheit und der Erfüllung der Anforderungen aus internationalen Schutzverpflichtungen und den diesbezüglichen Instrumenten, Brüssel, 05.12.2001, S. 6.
[26] Vgl.: Ebenda.
[27] Vgl.: Benedetto Conforti, Diritto Internazionale, Neapel 1999, S. 15 und 20.
[28] Vgl.: Conforti, S. 12f.
[29] Vgl.: Lavenex, S. 11-13; Otto Kallscheuer, Menschenrechte als Fortschritt der Humanität, in: Norberto Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte, Berlin 1999, S. 114-125, hier S. 122f.
[30] Vgl.: Norberto Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte, Berlin 1999, S. 52.
[31] Vgl.: Dietrich Thränhardt, Zuwanderungspolitik im europäischen Vergleich, in: Angenendt 1997, S. 137-153, hier S. 137f.
[32] Vgl.: Bade 2001, S. 19-20; Stefan Simons, Endstation Sehnsucht, in: Der Spiegel, 25/2002, S. 120.
[33] Vgl.: Thränhardt, S. 138.
[34] Vgl.: Klaus J. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl in der Bundesrepublik Deutschland, Hannover 1994, S. 29; Lavenex, S. 35.
[35] Vgl.: Lavenex, S. 44.
[36] Vgl.: Bade 1994, S. 6.
[37] Vgl.: Migrationsbericht der Ausländerbeauftragten im Auftrag der Bundesregierung, 2001, http://www.bundesauslaenderbeauftragte.de (Publikationen), S. 7.
[38] 1994 wurden 7,25 Prozent aller Asylantragsteller als Berechtigte im Sinne des Art. 16 a GG anerkannt, im Jahr 1995 9,04 Prozent; danach sanken die Anerkennungsraten drastisch; siehe: Statistik des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, http://www.bafl.de/bafl/template/index_statistiken.htm.
[39] Vgl.: Bernhard Santel/Albrecht Weber, Zwischen Ausländerpolitik und Einwanderungspolitik: Migrations- und Ausländerrecht in Deutschland, in: Klaus J. Bade / Rainer Münz (Hg.), Migrationsreport 2000: Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt am Main / New York 2000, S. 109-140, hier S. 117f; Michael Bommes, Bundesrepublik Deutschland: Die Normalisierung der Migrationserfahrung, in: Bade 2001, S. 49-60, hier S. 58; Cem Özdemir, Currywurst und Döner – Integration in Deutschland, Bergisch Gladbach 1999, S. 145-147; Prantl, S. 88-92; Lavenex, S. 50.
[40] Vgl.: Bommes, S. 58.
[41] Vgl.: Lavenex, S. 51-53; Heike Hagedorn, Frankreich: Integration à la francaise: Wie werden aus Migranten Franzosen?, in: Bade 2001, S. 89-103, hier S. 91.
[42] Die Regelung der automatischen Einbürgerung ausländischer Kinder, die auf französischem Boden geboren werden, wurde 1993 von der bürgerlichen Regierung unter Jacques Chiracs abgeschafft, von der linken Mehrheit um Lionel Jospin im Jahr 1998 jedoch wieder eingeführt; vgl.: Hagedorn, S. 94.
[43] Vgl.: Statistik des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, http://www.bafl.de/bafl/template/index_statistiken.htm; European Commission, Study on the legal framework and administrative practices in the Member States of the Eurropean Communities regarding reception conditions for persons seeking international protection. - country profile France, 2001, http://www.europa.eu.int/comm/justice_home/unit/doc_asile_immigrat/france_final_en.pdf, S. 6.
[44] Vgl.: Christian de Brie, Boulevard der Intoleranz – Frankreich entdeckt den Fremdenhaß, in: le monde diplomatique, 14.06.1996; Danièle Lochak, Von guten Ausländern und bösen Illegalen, in: le monde diplomatique, 14.11.1997; Philippe Bernard , De dissuasions en restrictions, un droit d´asile en peau de chagrin, in: le monde, 31.07.1997.
[45] Vgl.: Claire Saas, Die Neuregelung der Einreise und des Aufenthalts von Ausländern in Frankreich: Viel Lärm um nichts, in: ZAR, 1/1999, S. 10-17, hier S. 10.
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