Einer der faszinierenden Aspekte im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach ist die
Entwicklung Parzivals vom Jungen, der im Wald fern jeder Zivilisation aufwächst, hin zum
höfischen Ritter. Diese Faszination speist sich aus der Spannung zwischen den kulturellen
Normen der „hövescheit“ und ihrer Nichtbefolgung durch Unkenntnis.
Eine Leistung des Texts ist, dass diese Spannung sich nicht nur inhaltlich wieder findet,
sondern auch auf der Ebene des narrativen Texts vorhanden ist.
Um diese Bedeutungsebenen adäquat zu beschreiben, bietet sich das von Gerard Genette in
„Die Narration“ entwickelte textanalytische Instrumentarium an, auf das ich mich
hauptsächlich beziehen werde. Dort wird zwischen dem Signifikat „Geschichte“1 und dem
Signifikant „Erzählung“2 unterschieden und somit die oben skizzierte Besonderheit des Texts
beschreibbar gemacht.
Benutzt man dieses textanalytische Werkzeug um sich beispielsweise die erste
Zusammenkunft von Parzival und Condwîr-âmûrs3 - unter zwei Augen in einem privaten
Raum - anzusehen, so fällt folgendes auf:
Dieser Textabschnitt wirkt allein schon durch die auch in mittelalterlichen Texten topische
Situation erotisch, zumindest auf den heutigen Rezipienten.
Betrachtet man aber nüchtern, was tatsächlich an Handlungen und Sprechakten in der
Textstelle erzählt wird, so stellt man fest, dass keine sexuelle Handlung stattfindet und es
keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine der Figuren die doch hoch brisante Situation als
erotisch empfindet.
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1 In Genettes Terminologie bedeutet „Geschichte“ das „Signifikat“, „den narrativen Inhalt“, das ‚Was’ der
Handlungen und der Sprechakte, die durch den Akt der Narration produziert werden. Gérard Genette: Die
Erzählung. München 1998, S. 16.
2 „Erzählung“ bedeutet in Genettes Terminologie das „Signifikant“, den „narrative[n] Text“, das ‚Wie,’ die
durch den Akt der Narration produziert werden. Ebenda.
3 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von
Eberhard Nellmann Übertragen von Dieter Kühn. Eberhard Nellmann (Hg.). Frankfurt am Main 1994, 192,1-
196,8.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Minne und die Geschichte – Was passiert in Parzivals Kemenate?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Bedeutung von Minne und Erotik im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach, insbesondere im Kontext der Begegnung zwischen Parzival und Condwîr-âmûrs. Der Fokus liegt dabei auf der Analyse der narrativen Struktur und der Unterscheidung zwischen Geschichte (Signifikat) und Erzählung (Signifikant) nach Gerard Genette.
- Die Spannung zwischen höfischen Konventionen und deren Nichtbefolgung durch Unkenntnis
- Die Rolle der Minne im Mittelalter und ihre Auswirkung auf die Darstellung von Liebe und Sexualität
- Die Bedeutung von Sprechakten und Fokalisierungen für die Rekonstruktion der Basiserzählung
- Die Analyse von Parzivals und Condwîr-âmûrs Verhalten im Lichte des Minnekodex und der drei Diskurse Herrschaft, Minne und Religion
- Die Frage, ob Erotik im „Parzival“ tatsächlich abwesend ist, und die anthropologische Konstante des Reizes, über Sexualität zu sprechen
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Die Einleitung führt in die Thematik der Arbeit ein und stellt die Besonderheit des „Parzival“ im Hinblick auf die Entwicklung Parzivals vom Waldjungen zum höfischen Ritter heraus. Dabei wird die Spannung zwischen höfischen Normen und deren Nichtbefolgung durch Unkenntnis betont, die sich sowohl auf inhaltlicher als auch narrativer Ebene zeigt. Genettes textanalytisches Instrumentarium wird als Werkzeug für die Analyse dieser Spannung vorgestellt.
Minne und die Geschichte – Was passiert in Parzivals Kemenate?
Dieses Kapitel analysiert die Begegnung von Parzival und Condwîr-âmûrs in Parzivals Kemenate. Es wird untersucht, ob die im Text dargestellte Situation tatsächlich erotisch ist, obwohl keine explizite sexuelle Handlung stattfindet. Die Analyse bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen Geschichte und Erzählung und untersucht die Basiserzählung der Szene. Dabei werden die Sprechakte der Figuren und Fokalisierungen berücksichtigt.
Schlüsselwörter
Minne, Erotik, Parzival, Condwîr-âmûrs, Wolfram von Eschenbach, höfische Kultur, Geschichte, Erzählung, Signifikat, Signifikant, Sprechakte, Fokalisierungen, Basiserzählung, Diskurse, Herrschaft, Religion, Sexualität, mittelalterliche Epik
- Quote paper
- Anja Schmidt (Author), 2008, Minne und Erotik in Wolframs Parzival, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147397