Das Nibelungenlied1 ist seit seiner Wiederentdeckung Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
immer wieder ideologisch Instrumentalisiert worden.
Diente es Anfang des 19. Jahrhunderts zur Befriedigung patriotischer Affekte, so half es nach
der gescheiterten Revolution 1848 dem Bürgertum seine Ohnmacht gegenüber dem Staat zu
kompensieren, während es unter dem Nationalsozialismus zur Stütze eines blinden
Gefolgschaftskultes verwertet wurde.2
Auch die neuere Forschung schrak nicht davor zurück, diesen Text zum Beweis ihrer Ideen zu
berufen und stilisierte beispielsweise Brünhild zur Zeugin eines untergegangenen
Matriarchats3.
Selbstverständlich ist es nicht unproblematisch, Verbindungen zwischen literarischer Fiktion
und der Realität herstellen zu wollen, mir wird es in dieser Arbeit jedoch um ein Phänomen
gehen, das sehr wohl einen (leider noch immer aktuellen) Wirklichkeitsbezug aufweist:
Karin Stuchly stellt fest, dass „sexuelle Gewalt [...] nicht sexuellen Zwecken, sondern der
Artikulation von Gewalt und auch der Herrschaft über eine Frau [dient].“4
Der Begriff sexuelle Gewalt meint: „alle Formen sexueller Bedrohung, Übergriffe,
Einmischung und Ausbeutung sowie [...] Belastungen ohne physische Schädigungen[,] oder
Penetration“5.
*** *** ***
1Die folgende Ausgabe wird von mir verwendet:
Das Nibelungenlied 1. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hrg. v. Brackert, Helmut. 27. Auflage.
Frankfurt a. M. 2001.
2 ebd., S. 2.
3 Classen, Albrecht: The Defeat of the Matriarch Brünhild in the Nibelungenlied. With Some Thoughts on
Matriarchy as Evinced in Literary Texts. In: „Waz sider da geschah“. American- German Studies on the
Nibelungenlied. Text and Reception. Hrsg. v. Werner Wunderlich und Ulrich Müller. Göppingen 1992, S. 89-
110.
4 Stuchly, Karin: Frauen auf der Flucht. Das psychische, physische und soziale Befinden von weiblichen
Flüchtlingen infolge von Flucht, Vertreibung und den Lebensbedingungen im Asylland.
http://www.zebra.or.at/doc/frauen-flucht/sexuelle-gewalt.htm (Zugangsdatum: 02.04.03).
5 UNHCR: Sexuelle Gewalt gegen Flüchtlinge. Richtlinien zur Vorbeugung und Reaktion. Bonn 1997, Seite 1.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Brünhilds Verteidigung ihrer Integrität
- Gunthers machtpolitische Beweggründe
- Gunthers und Siegfrieds Misogynie
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Darstellung sexueller Gewalt im Nibelungenlied und konzentriert sich insbesondere auf die Überwindung Brünhilds im Brautgemach. Ziel ist es, aufzuzeigen, wie diese Form der Gewalt zu machtpolitischen Zwecken eingesetzt wird und welche Rolle die traditionelle Geringschätzung von Frauen in der höfischen Dichtung dabei spielt.
- Sexuelle Gewalt als Mittel der Machtpolitik
- Brünhild als selbstbewusste Herrscherin
- Gunthers Machtwille und die Unterwerfung von Frauen
- Die Rolle der Misogynie in der höfischen Kultur
- Die Bedeutung von Körper und Gefolgschaft in der Machtstruktur
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Die Einleitung stellt die Problematik der Instrumentalisierung des Nibelungenlieds für ideologische Zwecke dar und führt den Begriff der sexuellen Gewalt ein. Die Arbeit konzentriert sich auf die Überwindung Brünhilds als Beispiel für den Einsatz sexueller Gewalt zu machtpolitischen Zwecken.
Brünhilds Verteidigung ihrer Integrität
Dieses Kapitel analysiert Brünhilds Rolle als selbstbewusste Herrscherin und ihre Verteidigung ihrer Integrität gegenüber den Bewerbern um ihre Hand. Die "spil diu starken" werden als höfische Form der Verteidigung gegen Angriffe auf die Souveränität der Regentin interpretiert.
Gunthers machtpolitische Beweggründe
Dieses Kapitel beleuchtet Gunthers Machtwille und seine Motivation, Brünhild zu heiraten. Die Heirat wird als Mittel der Machtvergrößerung durch die Einverleibung eines mächtigen Körpers in sein Gefolge betrachtet. Siegfried dient als weiteres Beispiel für diese Strategie.
Gunthers und Siegfrieds Misogynie
Dieses Kapitel untersucht die Ignoranz Gunthers und Siegfrieds gegenüber Brünhilds Willen, nicht zu heiraten. Beide Figuren handeln aus einer traditionellen Geringschätzung gegenüber Frauen heraus, die sich in der höfischen Kultur widerspiegelt.
Schlüsselwörter
Sexuelle Gewalt, Machtpolitik, Nibelungenlied, Brünhild, Gunther, Siegfried, Misogynie, höfische Kultur, Körper, Gefolgschaft, Herrscherin, Integrität, Unterwerfung, Tradition.
- Arbeit zitieren
- Anja Schmidt (Autor:in), 2004, Sexuelle Gewalt im Nibelungenlied als Mittel der Artikulation von Herrschaft über Frauen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147399