Vor genau einem Monat, am 25. Januar 2002, wurde Bosnien-Herzegowina als 44. Mitglied
des Europarats aufgenommen. Eintrittskarte für die Mitgliedschaft war dabei die Unterzeichnung
der 1953 in Kraft getretenen Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte
und Grundfreiheiten (EMRK), einem weltweit einzigartigen Mechanismus zum Schutz der
Grund- und Menschenrechte, dem sich nun mit Bosnien-Herzegowina 44 europäische Staaten
verpflichtet haben. Bis 1998 überwachte ein Kontrollmechanismus aus drei Instanzen die
Einhaltung der Konvention, der durch das am 30. Juni 1998 in Kraft getretene Protokoll Nr.
11 von Grund auf reformiert wurde.
Warum der Aufsichtsmechanismus reformiert wurde und welche Auswirkungen diese Veränderungen
haben, soll in dieser Arbeit untersucht werden. Anhand dieser Fragestellung soll in
erster Linie gezeigt werden, wie sich der Grad der Verrechtlichung der EMRK nach der Reform
durch das Protokoll Nr. 11 geändert hat. Zwei Phasen werden also miteinander verglichen:
der Aufsichtsmechanismus vor und nach 1998.
Die theoretische Grundlage dieser Untersuchung bildet der Aufsatz Legalized Dispute Resolution:
Interstate and Transnational von Robert O. Keohane, Andrew Moravcsik und Anne-
Marie Slaughter aus dem Jahr 2000.1 Die Autoren unterscheiden in diesem Aufsatz zwei Stufen
von Streitbeilegungsmechanismen in der internationalen Politik, die jeweils an einem Ende
der Verrechtlichungsskala anzusiedeln sind: die interstaatliche und die transnationale Konfliktbeilegung.
Zur Unterscheidung dieser beiden Mechanismen stellen sie ein Analyseraster
mit mehreren Kriterien auf, dass auf den Fall der EMRK angelegt werden soll. Dieses Raster
dient in der Arbeit als Instrument, um die beiden Phasen des Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR), vor und nach der Reform 1998, hinsichtlich ihres Verrechtlichungsgrades
zu vergleichen. Dabei soll auch kritisch überprüft werden, ob die drei Autoren
mit ihrer Einordnung des EGMR in das Verrechtlichungsschema richtig liegen.
[...]
1 Vgl. Keohane/Moravcsik/Slaughter (2000): Legalized Dispute Resolution: Interstate and Transnational. In:
International Organization 54, 3, Summer 2000, S. 457-488. Zur Vereinfachung wird in der Arbeit immer von
der Theorie von Keohane im Singular gesprochen, wobei dieser Aufsatz der drei Autoren gemeint ist.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Der ursprüngliche Aufsichtsmechanismus von Kommission und Gerichtshof
- Der historische Kompromiss von 1948
- Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof nach den Kategorien von Keohane
- Die Unabhängigkeit des Gerichtshof (Independence)
- Wahl und Amtszeit der Richter
- Ermessensspielraum bei der Urteilsfindung (legal discretion)
- Kontrolle über finanzielle Ressourcen
- Zugang zum Gerichtshof (Access)
- Kontrolle der Urteilsumsetzung (Embeddedness)
- Die Unabhängigkeit des Gerichtshof (Independence)
- Zusammenfassung: der Verrechtlichungsgrad des Gerichtshofs vor 1998
- Der neue Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
- Gründe für die Reform des alten Aufsichtsmechanismus
- Die zwei diskutierten Reformmodelle
- Der neue Menschenrechtsgerichtshof nach den Kategorien von Keohane
- Der Unabhängigkeitsgrad des Gerichtshofs nach der Reform
- Wahl und Amtszeit der Richter
- Kontrolle der Urteilsumsetzung
- Kontrolle über finanzielle und personelle Ressourcen
- Der Zugang zum reformierten Gerichtshof
- Kontrolle der Urteilsumsetzung
- Der Unabhängigkeitsgrad des Gerichtshofs nach der Reform
- Zusammenfassung: Wandel des reformierten Gerichtshofs nach den Kategorien von Keohane
- Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht die Reform des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs im Jahr 1998 und deren Auswirkungen auf den Verrechtlichungsgrad der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Sie analysiert die beiden Phasen des EMRK-Aufsichtsmechanismus vor und nach 1998, um den Wandel der Verrechtlichung zu beleuchten.
- Der historische Kompromiss bei der Gründung des Gerichtshofs und die anfänglichen Grenzen der Verrechtlichung
- Die Gründe für die Reform des Aufsichtsmechanismus und die damit verbundenen Veränderungen
- Die Analyse der beiden Phasen des Gerichtshofs anhand der Kategorien von Keohane (Independence, Access, Embeddedness)
- Die Entwicklung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hin zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt den historischen Hintergrund und die Forschungsfrage der Arbeit dar. Sie erläutert das Ziel, den Verrechtlichungsgrad der EMRK im Vergleich vor und nach der Reform von 1998 zu untersuchen und skizziert die theoretische Grundlage der Analyse anhand der Kategorien von Keohane.
Kapitel 2 beleuchtet den ursprünglichen Aufsichtsmechanismus der EMRK vor 1998. Es werden der historische Kompromiss bei der Gründung und die verschiedenen Kategorien der Verrechtlichung im Hinblick auf Independence, Access und Embeddedness diskutiert.
Kapitel 3 widmet sich dem neuen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach der Reform. Es werden die Gründe für die Reform, die beiden diskutierten Reformmodelle und die Auswirkungen auf den Verrechtlichungsgrad der EMRK anhand der Kategorien von Keohane untersucht.
Schlüsselwörter
Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Verrechtlichung, Internationales Recht, Menschenrechte, Reform, Keohane, Independence, Access, Embeddedness, europäischer Verfassungsgerichtshof.
- Quote paper
- Marion Kaufmann (Author), 2002, Der neue Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Das Reformprotokoll Nr. 11 und seine Folgen für die Verrechtlichung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14786