Leseprobe
Inhalt
Urbanisierung und veränderte Wahrnehmung
Der Flaneur
Annäherungen an Baudelaire
Zu Poes „Der Massenmensch“
Literaturverzeichnis
Urbanisierung und veränderte Wahrnehmung
Im 19. Jahrhundert begannen einige große Städte sich von den restlichen dadurch zu unterscheiden, daß ein äußerer und innerer Urbanisierungsprozeß stattfand und aus der großen Stadt eine Großstadt wurde. Dieser Urbanisierungsprozeß bewirkte in den Menschen eine Veränderung in der Wahrnehmung, welche wiederum, so soll im folgenden gezeigt werden, eine Veränderung in den künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten forderte. An der großstädtischen Realität wird exemplarisch die Moderne erfahren, so daß sich urbane Erfahrung als die Erfahrung der Moderne schlechthin definieren läßt. Diese Gleichsetzung der Modernität mit dem urbanen Bewußtsein markiert den Beginn einer „Literatur der Moderne“. Im Unterschied zu einer Literatur über die Großstadt (z.B. sozialer Roman), wie sie im Naturalismus anzutreffen war, versucht die Literatur der Moderne die Großstadt „selbst zum Sprechen zu bringen“, als das Produkt einer formalen Gestaltung urbaner Erfahrung und Wahrnehmung. Die wahrgenommene Stadt „ist nicht mehr Objekt einer erzählerischen Rekonstruktion und Repräsentation, vielmehr repräsentiert sie als Objekt [...] die Wahrnehmungsintensität des ästhetischen Subjekts“[1].
Die oben erwähnte äußere Urbanisierung meint vor allem die Mechanisierung und Elektrifizierung des Verkehrs und der Stadt, also z.B. Straßenbahnen, Beleuchtung von Cafés, Schaufenster und Straßen. Dieser Prozeß ging einher mit der inneren Urbanisierung und ist nicht von ihr zu trennen. Innere Urbanisierung meint die Herausbildung einer urbanen Mentalität, die also als innere Reaktion auf die äußeren Verhältnisse zu verstehen ist. Diese besteht in erster Linie in einer Abwehr gegenüber einer Reizüberflutung, die permanent und schockartig als Impressionen, Bilder und Szenen, die oft nur einen Augenblick wahrgenommen werden können, auf den Menschen eindringen. Ohne diese Abwehr würde er Gefahr laufen, im großstädtischen Treiben nivelliert zu werden. Der Reizschutz besteht aus einer selektierenden, fragmentierenden Wahrnehmung, die verhindert, daß nicht jeder von außen kommende Reiz tiefer in das Bewußtsein eindringt. Prioritäten müssen festgelegt und Entscheidungen zwischen verschiedenen eingehenden Reizen getroffen werden, d.h. Reiz A wird vielleicht zuerst verarbeitet, während B noch ungelöst ist oder ein Reiz wird völlig aufgegeben. Eine andere Möglichkeit ist die nur oberflächliche Wahrnehmung vieler Reize, was dadurch erreicht wird, daß jeder Reiz weniger Zeit erhält. Großstädtische Wahrnehmung läßt keine Versenkung in einen Eindruck zu, sondern ist auf die Bewältigung vieler Eindrücke angelegt, so daß Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit ihre wichtigsten Kennzeichen sind. Es ergibt sich eine gewisse Reserviertheit der Großstädter untereinander, ohne die der Mensch sich in der Masse der Sozialkontakte verlieren würde. Die Dynamisierung der Außenwelt erfordert die Dynamisierung des Sehens, d.h. die Wahrnehmung des Passanten wird durch flüchtige Eindrücke, Impressionen bestimmt, die er auf Grund der Plötzlichkeit und raschen Abfolge als Schocks empfindet. Dieser Schock wird zur Grundform städtischer Erfahrung. Im Hinblick auf diese veränderte industrialisierte Realität unterscheidet Walter Benjamin die Wahrnehmungsform der ländlichen Erfahrung und des großstädtischen Erlebnisses und bringt diese in Zusammenhang mit den Erzähltraditionen. Das Erzählen ist an Wiederholbarkeit und Erinnerung und somit an eine narrative Tradition gebunden. In der technisierten Moderne ist diese Tradition nicht mehr anwendbar, da hier die Möglichkeit eines geschlossenen Erfahrungsbereichs nicht mehr gegeben scheint: Kontinuität, Dauer, Wiederholung und Wiederholbarkeit als Voraussetzung der Erfahrung sind in der Großstadt nicht mehr gewährleistet. An die Stelle der Erfahrung tritt das Schockerlebnis als neue städtische Wahrnehmungsform. Die Begegnung mit der städtischen Realität konstituirt sich aus flüchtigen Wahrnehmungen, die keine Erinnerung hinterlassen und sich zum momentanen Erlebnis verdichten. Der Atomisierung der Wahrnehmung entspricht die Atomisierung der ästhetischen Vermittlung.
Der Flaneur
Für Baudelaire ist die einzig angemessene Form der Wahrnehmung und Verarbeitung der Stadt einer so beschaffenen großstädtischen Welt die Flanerie. Der Flaneur paßt sich dem städtischen Dynamisierungsprozeß durch die Dynamisierung des Sehens an. Er fängt die sich ihm darbietenden Szenen fast ausschließlich im Vorübergehen ein, die sich ihm als bloße Augenblicksbilder wieder entziehen. Der Flaneur setzt sich, in Parallelität zur Stadt, selbst in Bewegung und hat bei seinen Beobachtungen keinen festen Standpunkt. Er taucht in die Menge ein wobei es ihm jedoch wichtig ist, nicht mit der Menge zu verschmelzen und sich die Einsamkeit in ihr zu bewahren. Geschützt durch die Menge kann er diese ungestört beobachten. Jedoch ist seine Beziehung zur Großstadt ambivalent: Zum einen ermöglicht ihm die Masse ein großes Erlebnisspektrum, zum anderen ist er in ihr isoliert und macht wirkliche, unmittelbare Begegnungen unmöglich. Eine weitere Eigenschaft des Flaneurs ist die Reflexion, die sich der Wahrnehmung anschließt: Sein Müßiggang und die Faszination des Stadtgetümmels erregen seine Phantasie und lösen in ihm Träumereien aus. Die wahrgenommene objektive Welt wird in eine Welt der subjektiven Bedeutungen verwandelt.
[...]
[1] Scherpe: Von der erzählten Stadt zur Stadterzählung. S. 423