Macht und Ohnmacht in den Dramen Friedrich Dürrenmatts und Max Frischs


Magisterarbeit, 2008

85 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Annäherungen an einen Begriff von Macht
2.1. Elemente von Macht
2.2. Manifestationen von Macht
2.2.1. Das Labyrinth
2.2.2. Das Lager
2.2.3. Die Mauer
2.3. Positionen der Ohnmacht
2.3.1. Der homo sacer
2.3.2. Der Sündenbock

3. Manifestationen von Macht bei Frisch und Dürrenmatt
3.1. Max Frisch: Die ‚Chinesische Mauer‘ als Instrument der Macht
3.1.1. Das Lager und die ‚Chinesische Mauer‘
3.1.1.1. Hwang Ti als Erbauer der ‚Chinesischen Mauer‘
3.1.1.2. Der Stumme als Stimme des Volkes
3.1.1.3. Der Stumme als Legitimation für den Prinzen
3.1.2. Die Ohnmacht des Lösungsversuchs
3.1.2.1. Der Heutige und der Ariadnefaden
3.1.2.2. Mee Lan und die Erkenntnis der Hilflosigkeit
3.2. Friedrich Dürrenmatt: ‚Achterloo‘ als labyrinthisches Lager
3.2.1. Die Form des Irrenhauses und die Insassen
3.2.2. Warum sind die Irren irre?
3.2.3. Kardinal Richelieu und die Ärzte: Machtpositionen
3.2.4. Die Handlung und das Labyrinth der Weltgeschichte
3.3. Das Lager und das Labyrinth

4. Positionen der Ohnmacht bei Frisch und Dürrenmatt
4.1. Max Frisch: ‚Andorra‘ und die Erschaffung eines Außenseiters
4.1.1.Die Bedrohung
4.1.2. Die Gesellschaft
4.1.3. Der Sündenbock
4.1.4. Die Judenschau
4.2. Friedrich Dürrenmatt: Der Blinde und die Macht des Ohnmächtigen
4.2.1. Die Katastrophe des Krieges und ihre Auswirkungen
4.2.2. Herrschaft als Ausweg – Negro da Ponte
4.2.3. Akzeptanz und Resignation – Palamedes und Octavia
4.2.4. Die Macht des Ohnmächtigen
4.3. Die Außenseiter und die Wahrheit

5. Schluss

Literaturverzeichnis
Macht
Max Frisch
Friedrich Dürrenmatt

1. Einleitung

In einem interkulturellen Dialog geht Verstehen-Wollen stets mit Verstanden-Werden-Wollen einher. Dabei geht es nicht nur darum, wie ich mich selbst und wie ich das Fremde verstehe, sondern zugleich, wie das Fremde sich selbst und wie es mich versteht. Dies bedeutet erstens das eigene Selbst- und Fremdverständnis, zweitens das Selbst- und Fremdverständnis des Anderen. [...]

Hier ist Macht ein verhältnisbestimmendes Hindernis des Dialogs auf jedwedem Gebiet. Keine Kultur kann sich völlig von Chauvinismus und Fundamentalismus freisprechen. Der Stärkere hat Recht, Macht geht vor Recht, Recht ist, was den eigenen Interessen nützt.[1]

Macht beeinflusst also laut dem Trierer Philosophen Hamid Reza Yousefi das Verständnis des Menschen zu sich selbst und zu anderen. Der Mensch und die Machtverhältnisse stehen in einem Wechselverhältnis zueinander. Der interkulturelle Dialog kann nur stattfinden, wenn der Mensch sich über den Anderen und sich selbst im Klaren ist. Machtansprüche stören einen solchen Dialog allerdings.

Bei Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt treffen in den Dramen ebenfalls verschiedene Kulturen, das Fremde und die Gesellschaft aufeinander. Allerdings führt dies zu Krisensituationen, die eine besondere Erscheinung von Macht begünstigen.

In dieser Arbeit wird in einem ersten Schritt ein Überblick über den soziologischen Begriff von Macht entwickelt. Darin gilt ein besonderes Augenmerk auf die Manifestationen von Macht in Form des Labyrinths, dem in der Forschung zu Friedrich Dürrenmatt eine besondere Beachtung geschenkt wird[2] und der Erscheinung des Lagers bei Giorgio Agamben. Beide bilden eine territoriale Manifestation von Macht. Sie sind das Ergebnis von darüber organisierten Machtstrukturen und Machtausübung.

Die Untersuchung dieser Manifestation findet in einem zweiten Schritt statt. So sollen die territorialen Manifestationen von Macht bei Frisch und Dürrenmatt untersucht werden. Während ‚Der Blinde‘ und ‚Andorra‘ im Gesamtwerk Friedrich Dürrenmatts und Max Frischs als typische Werke erscheinen, treten ‚die Chinesische Mauer‘ und ‚Achterloo‘ durch ihre Form der Farce und ihre Masken- und Rollenspiele besonders hervor. Beide zeichnen sich dadurch aus, dass ein bestimmtes Gebäude im Mittelpunkt steht: In der ‚Chinesischen Mauer‘ erscheint der Bau der Mauer als ein Instrument der Machtfestigung des chinesischen Kaisers und in ‚Achterloo‘ findet das gesamte Stück in den Räumlichkeiten eines Irrenhauses statt. Hier wird untersucht, inwiefern eine territoriale Manifestation von Macht zutrifft und wie diese hervorgerufen wird.

Eine Schwierigkeit hierbei liegt bei der Übertragung territorialer Gebilde auf eine gesellschaftliche Struktur. Doch ist die Theorie des Labyrinths und auch die Theorie des Lagers auch auf diese Weise zu verstehen. Die Menschen bilden gesellschaftliche Konstrukte, um miteinander existieren zu können. Diese Konstrukte können genauso verwirrend oder ausgrenzend sein, wie ein Labyrinth oder ein Lager.

Der dritte Arbeitsschritt stellt die Untersuchung von Machtverhältnissen in einem soziologischen Gebilde – einer Gesellschaft – dar. Hierfür werden die Theorie des homo sacer nach Giorgio Agamben und die Theorie des Sündenbocks nach René Girard als Ausgangspunkt gewählt. Es soll betrachtet werden, welche gesellschaftlichen Strukturen in den jeweiligen Dramen zum Tragen kommen und welche Auswirkungen diese auf das Geschehen und die Machtverhältnisse haben.

Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt sind in der Rezeption oft verglichen worden. Dies gründet wohl in ihrer gemeinsamen Herkunft und Zeitgenossenschaft ihrer Schaffensphase nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg. Weiterhin behandeln sie ähnliche Themen und arbeiten in ähnlichen Gattungen, zum Beispiel im Roman und im Drama. „Mit dem Tode Dürrenmatts und Frischs verlor die Schweiz wohl die letzten Vertreter einer Generation, die willens und in der Lage waren, sich über Jahrzehnte hinweg mit ihren kritischen und unbequemen Stellungnahmen immer wieder Gehör zu verschaffen“[3]. Die Nähe zu den Manifestationen und zu der Erscheinung des Außenseiters führte zur Auswahl der beiden Autoren und der Dramen als Gegenstand dieser Arbeit. Es wurde in allen Fällen die letzte Version des jeweiligen Stückes verwendet, da diese als die vom Autor aktuelle Stellungnahme zum Thema Macht und Ohnmacht gesehen werden kann und hier keine Werksgeschichte betrieben werden soll.

‚Die Chinesische Mauer‘ und ‚Achterloo‘ erscheinen beide mit einer ungewöhnlichen Handlung und einem ungewöhnlichen Schauplatz. Verschiedene Zeitebenen werden vermischt, wobei ersteres als am Anfang des Schaffens von Max Frisch steht und letzteres am Endpunkt des Schaffens Dürrenmatts. ‚Der Blinde‘ und ‚Andorra‘ behandeln beide einen Außenseiter in einer kleinen, abgeschlossenen Gesellschaftsstruktur. Diese Außenseiter bilden gemeinsam mit den jeweils vorhandenen Machtpositionen durch ihre Ohnmacht ein ausgeglichenes Machtgefüge, das jedoch im Verlauf der Stücke verschoben wird. Die Macht kann nicht ohne ein Gegenstück der Ohnmacht existieren; Macht und Ohnmacht sind zwei Seiten einer Medaille, die untersucht werden sollen. Inwieweit kann Ohnmacht immer noch Macht entfalten und wie etabliert sich die Macht in den soziologischen Strukturen der Dramen.

2. Annäherungen an einen Begriff von Macht

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“[4] So definiert Max Weber die Macht in soziologischer Hinsicht. Er geht also davon aus, dass Macht die Möglichkeit bedeutet, auch gegen Positionen anderer das eigene Bestreben durchzusetzen. Demgegenüber trennt Hannah Arendt Macht von Gewalt, die auch ein Durchsetzungsvermögen darstellt. Sie geht davon aus, dass Macht auf einer sozialen Komponente, auf der Ermächtigung durch andere gründet und dass, „wo Gewalt dominiere, [...] Macht abwesend“[5] sei. Schneider zeigt in seinem Aufsatz ‚Macht in Perspektive‘ noch weitere Möglichkeiten auf, wie verschiedene Autoren versucht haben, einen Begriff von Macht zu entwickeln. Jedoch erweist es sich als schwierig, zu definieren, was Macht bedeutet. Dies ist unter anderem dadurch erschwert, dass der Begriff Macht in vielen verschiedenen Bereichen des Lebens verwendet wird und im Alltagsgebrauch mit einer negativen Konnotation behaftet ist. Menschen, die Macht besitzen, sehen sich selbst als ohnmächtig, da sie zweifeln, die Macht zu gebrauchen, und Menschen, die keine Macht besitzen, sehen sich als ohnmächtig, da sie nicht handeln können, wie Macht besitzende Menschen.[6]

Daraus ergibt sich aber, dass Macht eine soziale Komponente hat und ein Verhältnis zwischen mehreren Individuen darstellt. Bei Weber bleibt der Machtbegriff „soziologisch amorph“, da nicht spezifiziert ist, wie die Situation oder das Individuum beschaffen sein muss, um Macht zu haben und diese Möglichkeit durchzusetzen.[7] Wenn der Mensch nun seine psychischen und physischen Fähigkeiten dazu einsetzt, um mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, und sich somit in ein Umfeld von Machtgefügen begibt, so werden verschiedene Faktoren zu seiner Stellung in der Welt als Ganzes führen. Sobald der Mensch sozial aktiv wird, begibt er sich in irgendeine Art von Machtgefüge, das nicht immer deutlich als ein solches hervortritt oder sich manifestiert, da

„Macht [...] sehr verschiedene Möglichkeiten und Formen der Durchsetzung von Interessen und der Beeinflussung von Handlungen [bezeichnet], die generell auf einem Überlegenheits- bzw. Abhängigkeitsverhältnis zwischen Personen, Gruppen, Organisationen, Staaten oder Gesellschaften beruhen.“[8]

2.1. Elemente von Macht

Peter Imbusch hat in dem Band ‚Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie‘ mehrere Aspekte dargestellt, die versuchen, dem Begriff Macht näher zu definieren. Als Ausgangspunkt seiner Ausführungen stellt er in einem Schaubild die verschiedenen Bereiche der Grundlagen und der Wirkung von Macht dar.[9] Im Anschluss an Heinrich Popitz sieht er vier Grundtypen von Macht:

1. Aktionsmacht (als Verletzungsmacht) meint nicht nur jene kreatürliche Verletzbarkeit des menschlichen Körpers, dem der Mensch in vielfältiger Weise ausgesetzt ist, sondern auch ökonomische Verletzbarkeit [...]
2. Instrumentelle Macht (als Unterwerfungsmacht) [...] Sie basiert auf dem Geben- und Nehmen-Können, der Verfügung über Belohnungen und Strafen, dem Gewähren oder dem Entzug von Gratifikationen [...]
3. Autoritative Macht (als das Verhalten und die Einstellungen steuernde Macht) ist eine Macht, die einwilligende Folgebereitschaft erzeugt. [...]
4. Datensetzende Macht (als objektvermittelnde Macht technischen Handelns) ergibt sich etwa aus jenen technischen Artefakten, mittels deren Hersteller Macht über andere Menschen ausüben können, weil in die Dinge latente, jederzeit potentiell manifest werdende Macht eingebaut ist[...][10]

Die Gründe dafür, warum sich Menschen unterwerfen, werden in ihrer Verletzbarkeit, der Sorge um die Zukunft, dem Anerkennungs- und Maßstabsbedürfnis und der Abhängigkeit von der Technik gesehen. Die Unterscheidung der vier Grundtypen zeigt, dass Macht potentiell und aktuell sein kann. So kann die Macht von einer Möglichkeit zu einer Fähigkeit werden, um schließlich aktuell zu einer latent wirkenden beziehungsweise zu einer manifesten Macht zu werden.[11]

Weitere mögliche Unterscheidungen von Macht wären direkte und indirekte Macht, legitime und illegitime Macht oder die verschiedenen Erscheinungsformen von Macht, die das ‚Lexikon der Soziologie‘ aufführt[12].

Ein erster Schritt zur Machtbildung ist die Durchsetzung von Privilegien durch Person, die sich gegen andere hervortut. Diese Privilegien werden durch gesellschaftliche Ressourcen erreicht und betreffen knappe Güter. Um weiterhin den Zugang zu diesen Gütern zu behalten, solidarisiert sich die Gesellschaft mit dem Machthaber, was zur Verfestigung der Macht führt. Schließlich entwickeln sich aus dem Privileg Institutionen und Organisationen, die der Macht Struktur verleihen. „Macht stabilisiert sich also über soziale Schließungsprozesse und über die gestufte Partizipation an ihr“[13]. Diese Solidarisierung der Individuen mit den Machthabern zeigt wiederum, dass Macht sich in einem sozialen Gefüge manifestiert und von der Gesellschaft akzeptiert sein muss, um nicht als Gewalt die Ziele durchsetzen zu müssen. Folglich wird der Machthaber durch die anderen Individuen legitimiert, die somit eine Legitimations-Macht ausüben und indirekt ihre Macht ebenfalls einsetzen, um weiterhin Zugang zu den Ressourcen zu behalten. Also üben „alle [...] ihre Macht in einem arbeitsteiligen System aus, d.h. aber in einem Kooperationssystem, in dem viele Akteure mit Handlungsspielräumen – also Macht – komplementär ausgestattet sind.“[14]

Zusätzlich zu den Typen der Macht, die ein Verständnis davon geben, in welchen Bereichen Macht stattfinden kann, gibt es verschiedene Erscheinungsformen beziehungsweise Dimensionen der Macht. Imbusch unterscheidet zwischen vier Dimensionen, die er wiederum genauer herausarbeitet: Machtquellen, Machtmittel, Formen der Machtausübung und Wirkungsmechanismen von Macht.[15] Hierbei ist auch die Unterscheidung zwischen der potentiellen und aktuellen Macht zu beachten. Jemand kann sich durch einen Zugang zu bestimmten Ressourcen zwar in einer Machtposition befinden und somit Macht innehaben, doch tritt diese Macht erst durch die Ausübung zutage, was in bestimmten Fällen erst dazu führt, dass die Machtposition deutlich wird. Die Machtquellen sind nun eine potentielle Form der Macht, da sie die Situation zugunsten des Machthabers beeinflussen. Hierbei gibt es verschiedene Quellen.

Deutlich ist, dass jemand, der physisch stärker ist als ein anderer, eine Machtposition innehat, die sich durch Gewalt manifestieren würde. Die „Monopolisierung physischer Gewalt“ ist eine Quelle der Macht. Doch auch jemand, der durch sein Auftreten oder sein Wissen, seine Bildung oder seine Fähigkeit im Umgang mit Menschen andere Menschen beeinflussen kann, kann Autorität erlangen. Da sie auf einer psychischen Ebene helfen, andere nach eigenem Gutdünken zu beeinflussen sind „Persönlichkeit und Charisma“ eine Quelle der Macht. Dieser Einfluss kann aber auch durch Besitz oder Reichtum erreicht werden. Wenn man im Besitz vieler Ressourcen ist, kann man diesen Besitz dazu verwenden, Druck auf andere auszuüben oder die eigene Position positiv zu beeinflussen. Dies kann aber nur durch die „Monopolisierung von Ressourcen“ geschehen. Eine letzte Quelle basiert auf der Überlegung, dass man gemeinsam stark sein kann. Zum Beispiel manifestiert sich dies in den Gewerkschaften oder in Gruppierungen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Dieser Zusammenschluss von Menschen gibt ihnen Macht in dem Sinne, dass ihre Forderungen besser gehört werden können. Somit sind „Organisationen als Machtquelle“ in unserer Zeit zu sehen.[16]

Machtmittel stellen dagegen die konkreten Medien der Machtausübung dar. Mittels ihres Einsatzes wird der Ausgang von Machtkämpfen und Herrschaftskonflikten entschieden.“[17] Hier wären die verschiedenen Arten des Kapitals – das ökonomische, soziale und kulturelle – zu nennen. Der Unterschied zwischen der Machtquelle der Ressource und dem Machtmittel des Kapitals ist darin zu sehen, dass die Quelle durch die Möglichkeit des Zugriffs offengelegt wird, während das Kapital das manifeste Mittel der Macht darstellt. So kann man Geld eintauschen, Beziehungen nutzen, um Einfluss geltend zu machen, oder durch eine Beeinflussung der Kultur einen dauerhaften, positiv eingestellten Zustand erreichen. Organisationen sind manifeste Machtmittel. Wenn man Mitglied einer Organisation ist, hat man einen Zugang zu Machtmitteln. Dadurch sind die Organisationen auf der einen Seite Quelle und auf der anderen Seite Mittel der Macht. Bei der Macht der Organisationen kann es sich „sowohl um kompensatorische wie auch konditionierende Macht handeln“[18]. Das heißt, dass die Organisationen intern hierarchisch gegliedert sind und extern normsetzend agieren können.

Das wohl bekannteste Machtmittel ist die Sanktion. Diese kann negativ ausfallen – in Form von Strafen – aber es gibt auch positive Sanktionen, wie zum Beispiel die Vergütung und durch das Versprechen eines Vorteils.[19] Die Sanktionsdrohung ist das eigentliche Machtmittel, da man mit ihr Taten verbieten oder eben einfordern kann.[20]

Ein viertes Mittel der Macht ist – in Anlehnung an den Typ der datensetzenden Macht – die Information. Wenn man Informationen über jemanden oder über etwas besitzt, so hat man ein Mittel, um denjenigen unter Druck zu setzen und zu beeinflussen. Die Redewendung „Wissen ist Macht“ besagt zum Beispiel, dass man mit einer guten Bildung eine bessere gesellschaftliche Position erreichen kann. Auch wird durch die Medien deutlich, wie der Umgang mit Information ein soziales Gefüge beeinflussen und verändern kann – etwa durch positive oder negative Propaganda.[21]

Macht kann diskret ausgeübt werden, indem man Einfluss geltend macht, jemanden überzeugt oder motiviert. „Einfluss, Überzeugung und Motivation sind damit genuine Formen kommunikativer Macht“[22], da sie nicht unbedingt gegen Widerstände arbeiten, sondern versuchen, das Handeln des Gegenübers zu ändern. Die Möglichkeit, diese Formen einzusetzen, setzt jedoch eine Autorität des Mächtigen voraus. Diese Autorität kann entweder durch eine gesellschaftliche, soziale Stellung – zum Beispiel durch den Beruf oder ein Amt – dargestellt werden. Dann ist die Autorität aber dem Amt inne und nicht der Person angeeignet. Dies kann zu dem Problem führen, dass der Wille zwar durchgesetzt wird, aber sich die Person sich ohne ihr Amt nicht durchsetzen könnte. Eine weitere Art der Autorität ist die Anerkennung der Person, die durch ihre Persönlichkeit und ihre Ausstrahlung Autorität erkennen lässt, und somit von Natur aus Autorität besitzt, der sich andere beugen.[23]

Weniger diskrete Formen der Machtausübung sind die Ausübung durch Kontrolle oder die verschärfte Machtausübung durch Zwang. Wenn jemand kontrolliert wird, versucht man, seine Sache gut zu machen, da der nächste Schritt zum Zwang führen könnte. Zwang findet statt, wenn die Macht durch Druck durchgesetzt wird, zum Beispiel durch Androhung von Sanktionen oder Ähnlichem.

In der Sphäre des Staates ist festzustellen, dass der Staat ein Gewaltmonopol besitzt. Der Staat regelt das Leben der Bürger, hat aber auch die Mittel, um seine Macht durchzusetzen – so zum Beispiel in Form der Exekutive. Falls die Bürger ihre Pflichten nicht erfüllen, kann der Staat auch Zwangsmittel einsetzen, um seine Macht durchzusetzen.[24]

Zwar wurde die Gewalt von der Macht getrennt, doch muss „auch die Gewalt als eine Form der Machtausübung – als Machtdemonstration – angesehen werden“[25]. Laut Imbusch kann man der Aussage Hannah Arendts, „dass es zwischen Macht und Gewalt keinerlei Übergänge gibt“[26], nur bedingt zustimmen. Es gilt zu beachten, dass Gewalt als Machtmittel gebraucht werden kann, „weil sie unmittelbar Gehorsam erzwingt und Widerstand zu überwinden weiß“[27].

Um diese Konzepte der Machtmittel mit Methoden zu füllen, gilt es, wieder auf Sanktionen zurückzugreifen. Mit negativen Sanktionen kann man durch die Androhung von Strafe den Willen durchsetzen. Gleichzeitig kann man aber durch das Versprechen von Vergütungen, positiven Sanktionen, einer Kompensation, jemanden überzeugen, etwas zu tun. Diese beiden Mechanismen bedeuten eine bewusste Entscheidung des Sanktionierten. Entweder nimmt man die Strafe an oder man handelt nach Wunsch.[28] Entgegengesetzt wirkt die Manipulation. „Die Unterwerfung entspricht scheinbar dem selbstgewählten Kurs und wird vom Beeinflussten entweder gar nicht oder zumindest nicht vollständig als das erkannt, was sie tatsächlich ist, nämlich Machtausübung“[29]. Die drei Methoden der Sanktion, der Kompensation und der Manipulation werden „als repressive Macht, als kompensatorische Macht und als konditionierte Macht bezeichnet“[30].

Als Abschluss der allgemeinen Überlegungen über die Elemente von Macht zeigt Imbusch auf, wie die Effekte der Macht eingeordnet werden können. So kann die Macht eine unterschiedliche Reichweite haben, je nachdem, welche Ressourcen zur Verfügung stehen, wie die Autorität des Machthabers beschaffen ist oder welche Methode angewandt wird. Ein weiterer Aspekt ist die „Wirkungsintensität“ von Macht, die „mit der Größe einer Herausforderung steigen“[31] müsste.

Gerade im Bezug auf die Reichweite der Macht, die „am ehesten in personeller oder territorialer Weise“[32] in Erscheinung tritt, also in der Anzahl an Personen, die man beeinflussen kann, sowie in der räumlichen Ausdehnung des Machtbereichs, wird es nun auch im Hinblick auf das Thema der Arbeit interessant, die Manifestationen von Macht und die Möglichkeit und Erscheinung von Ohnmacht zu untersuchen.

2.2. Manifestationen von Macht

Wenn man davon ausgeht, dass Macht immer eine soziologische Komponente beinhaltet, so stellt sich die Frage, wie sich Macht äußert. Oben wurden verschiedene Aspekte der Macht dargestellt, um eine Idee davon zu bekommen, was man überhaupt unter dem schwer zu fassenden Begriff verstehen könnte und in welcher Richtung und mit welchen Mitteln sich einer Untersuchung des Phänomens entwickeln kann.

Macht ist soziologisch gesehen ein Verhältnis zwischen Individuen, das sich erst auf der Basis von Kommunikation äußert (diese kann auf sprachlicher Ebene, aber auch außersprachlich stattfinden). Im Hinblick auf die Untersuchung der Macht in Dramen kann man sich hierbei wohl auf eine durch Sprache manifestierte Erscheinungsform der Macht einstellen, da die Dramen in ihrer Form auf dem Dialog und somit auf der Kommunikation mehrerer Individuen basieren. Die Welt der Dramen wird durch Sprache konstituiert.

In einer räumlichen Dimension kann sich Macht nachvollziehbar manifestieren. Giorgio Agamben, der den „Platz des zentralen westlichen Intellektuellen mittlerweile auszufüllen scheint“[33], hat ausgehend von der Figur des homo sacer aus dem römischen Recht eine Theorie über das Lager in unserer Zeit entwickelt. Eine weitere, ältere räumliche Manifestation von Macht ist das Panoptikum von Jeremy Bentham, in dem sich die Macht indirekt, aber für den Außenstehenden deutlich erkennbar darstellt. Florentine Strzelczyk hat in ihrem Aufsatz ‚Im Labyrinth: Zum Verhältnis von Macht und Raum bei Bachmann und Dürrenmatt‘ das Phänomen des Labyrinths und des Panoptikums als einer Weiterentwicklung des Labyrinths und das Romanfragment ‚Der Fall Franza‘ von Ingeborg Bachmann und die Erzählung ‚Der Auftrag‘ von Friedrich Dürrenmatt auf die Verwendung dieser Art der Manifestation von Macht untersucht.

Es soll die Theorie des Labyrinths und seiner verschiedenen Erscheinungsformen als Machtinstrument dargestellt werden, um anschließend die Theorie der Entstehung des Lagers als Weiterentwicklung eines Labyrinthes nachzuvollziehen. Dies wird schließlich zu der Frage führen, wie sich Macht in Herrschaft institutionalisiert, auf welche Art und Weise aus einer Machtposition eine Ohnmachtsposition entstehen kann und welche Macht immer noch hat eine Ohnmachtsposition. Die Relevanz dieser Position für diese Arbeit liegt in der thematischen Untersuchung von ‚Andorra‘ und ‚Der Blinde‘ unter dem Gesichtspunkt der Ohnmachtsposition des jeweiligen Protagonisten und in der Untersuchung der ‚Chinesischen Mauer‘ und ‚Achterloos‘ als Manifestationen im Sinne des Labyrinths.

2.2.1. Das Labyrinth

Wenn man sich ein Labyrinth vorstellt, so erscheint ein Bild eines Gangsystems, in dem das Individuum ausgesetzt ist, und aus dem es einen Ausweg finden muss. In der einfachsten Erscheinungsform, die wohl jedem geläufig sein dürfte, ist es ein Rätsel in einer Zeitung, bei dem man von Punkt A einen Weg nach Punkt B suchen soll, für dessen Lösung man verschiedene, einfache Strategien entwickeln kann. Auf einer metaphorischen Ebene kann man aber auch das Leben des Menschen auf eine solche Ausgangssituation übertragen: Der Mensch wird geboren und muss – ohne die Möglichkeit, das Rätsel des Lebens von oben betrachten zu können oder von hinten aufrollen zu können – einen Weg durch den Irrgarten des Lebens finden, wobei jede einzelne Entscheidung den Ausgang ändert. Dieses Leben spielt sich in einer Gesellschaft ab, die den Weg, der eingeschlagen wird, mittels der Kommunikation beeinflusst. Auf dieser Überlegung gründet Strzelczyk ihre Darstellung des Labyrinths in einem historischen Zusammenhang; die Ansichten, wie das Labyrinth des Lebens sich darstellt, haben sich von der Antike bis heute geändert, aber die Funktion des Labyrinths ist immer noch aktuell:

Grundsätzlich werden in der Labyrinthidee die Zusammenhänge von Macht und Raum und die Rolle des handelnden Subjekts strukturiert: Der Einzelne kann – um die extremen Pole zu benennen – seine Labyrinthsituation in der Gesellschaft als autonom handelndes Subjekt erfahren und zu Distanz, Kontrolle und Übersicht gelangen. Oder er erlebt sie als machtloses Opfer, das die Gesellschaft als labyrinthisches Chaos, Machtlosigkeit und Eingeschlossenheit erfährt.[34]

Das antike Labyrinth wurde der Sage nach von Daedalus entworfen, um den Minotaurus zu kontrollieren. So war das Übel in der Mitte des Stollensystems untergebracht und nur mit Hilfe des Ariadnefadens konnte Theseus in das Labyrinth eindringen, den Minotaurus besiegen und das Labyrinth auf gleichem Wege wieder verlassen. Diese einfache Technik – das Überwinden der komplizierten Welt durch das Auslegen eines einfachen Fadens – durchbricht das Funktionsprinzip des Labyrinths: Indem Theseus den Faden auslegt, gibt er sich eine ordnende Richtschnur, der er folgen muss, um das Labyrinth zu bezwingen. Das verzwickte System von Gängen wird somit übersichtlich und überwindbar.[35]

Nach Wolfgang Welsch zeigt das Labyrinth des Minotaurus mehrere Charaktereigenschaften des abendländischen Denkens auf: So bildeten Innen und Außen, Subjekt und Objekt, totale Kontrolle und totale Machtlosigkeit eine Ganzheit.[36] Dies ist insofern europäisch, als das Denken in Gegensatzpaare aufgeteilt ist und somit eine Hierarchie darstellt. Im Mittelalter wurde das Mittel, das zur Überwindung des Machtraums des Labyrinths eingesetzt wurde, der Ariadnefaden – symbolisch gedeutet: „Der Mensch verirrt sich in der Welt als Labyrinth, wenn er nicht durch den Ariadnefaden – Gottes Allwissenheit – hinausgeleitet wird, die für universelle Macht in Form von Übersicht und Kontrolle steht“[37].

Doch diese zentrierte Weltsicht, wie sie auch im antiken Labyrinth durch seinen Aufbau widergespiegelt wird, wird in der Renaissance überwunden. Der Mensch sieht die Erde nicht mehr als unbedingten Mittelpunkt. Somit existiert der Mensch nicht mehr in einem von einer Mitte aus strukturierten Labyrinth, sondern das Labyrinth wird ohne einen Mittelpunkt mit einem Minotaurus gedacht. Es gibt keinen Zielpunkt mehr, sondern man ist auf der Suche nach einem Weg durch das Labyrinth und nach dem Ausgang. Als ein solches Labyrinth kennt man den Irrgarten, der durch Sackgassen und nur einen Ausgang gekennzeichnet ist: „Diese von der Renaissance an beliebte Struktur des Labyrinths legt den Schwerpunkt nicht so sehr auf einen Minotaurus im Zentrum, als auf die Fähigkeit des Individuums, mittels der richtigen Technik die richtige Wahl zu treffen.“[38]

Wenn man dies auf eine soziologische Struktur übertragen will, so erscheint der Irrgarten als etwas, das der aufgeklärte Mensch in seiner Welt wiederfindet. Durch die Fortschritte in der Technik und in der Wissenschaft und durch den Machtverlust der Kirche wird das Ziel des Menschen – das Erreichen des göttlichen Paradieses durch gutes Handeln – verändert: Der Mensch findet sich in einer wirren Welt ohne den früher absolut standfesten Glauben an Gott wieder und er muss mit Hilfe der Technik und der Wissenschaften versuchen, den Irrgarten des Lebens zu meistern.

Als die Technik jedoch weiter entwickelt war, entstand schließlich eine neue Art des Labyrinths. Strzelczyk sieht das Netzwerk als

ein Gebilde ohne Zentrum und ohne Peripherie; als unendlicher Raum besitzt es keinen Ausgang, so daß die Oppositionen von Innen und Außen aufgehoben sind. Ein solches Gebilde, für das Deleuze/Guattari die Bezeichnung „Rhizom“ geprägt haben, besteht aus horizontalen und zentrumslosen Vielfalten, die nicht unter einer vereinheitlichenden Struktur subsummiert werden können.[39]

Das bedeutet, dass es keinen Ariadnefaden mehr geben kann, der aus dem geschlossenen System an Netzwerken heraushelfen könnte. Es gibt keine Hierarchie mehr, die man überwinden könnte, kein Innen und Außen, weshalb es auch keinen Ausgang aus dem Netzwerk gibt. Wenn man dies auf die moderne Gesellschaft überträgt, so muss man nicht nach einem Instrument suchen, um den Ausgang aus dem Irrgarten zu finden, sondern man muss versuchen, sich mit der Unüberschaubarkeit des Netzwerkes zu arrangieren und sich ein Leben darin zu ermöglichen. Der Mensch lebt in der heutigen Zeit mit vielen sozialen Beziehungen und Verpflichtungen, die durch das Labyrinth als Netzwerk symbolisiert werden können.[40]

Man sieht die Verbindung zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen des Labyrinths: Jedes Labyrinth ist eine Verbindung von Irrwegen. Der Unterschied liegt in den Möglichkeiten, die jeweiligen Labyrinthe zu meistern. Je nachdem, in welchem Labyrinth man sich befindet, muss man verschiedene Methoden und Techniken anwenden. Wenn man davon ausgeht, dass das Leben auch aus vielen Irrwegen besteht und man ständig Entscheidungen fällen muss, die den weiteren Verlauf beeinflussen, so ist die Vorstellung, die Gesellschaft als ein soziologisches Labyrinth zu verstehen, durchaus nachvollziehbar. Die Kenntnis der richtigen Methode zum Meistern des Labyrinths kann ein Individuum in eine Machtposition versetzen. Gerade das Labyrinth als Netzwerk zeigt, dass man in ihm besser oder schlechter überleben kann. Somit ist

auch dem Diskurs der Macht [...] eine bestimmte labyrinthische Struktur inhärent. Michel Foucault unter anderen analysiert Macht als Netzwerk vielfältiger Machtrelationen und versteht Machtverhältnisse als grundsätzliche und interdependente Strukturen zwischen Menschen und Gruppen, denen man sich nicht entziehen kann.[41]

Die technische Revolution hat den Menschen zu einem Teil einer großen Maschine gemacht. Der Mensch lebt in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr von oben herab organisiert, sondern von innen heraus. Die Macht des christlichen Gottes entstand aus der Androhung von Strafe für Todsünden oder durch den Ausschluss aus dem Paradies. Doch genügt dies in einer Welt, in der die Androhungen an Durchsetzungsvermögen eingebüßt hatten, nicht mehr. Der Mensch musste beginnen, die Gesellschaft und auch sich selbst unter Kontrolle zu halten, ohne auf eine übergeordnete göttliche Entität zu vertrauen. Diese Selbstkontrolle manifestierte sich in der „Geburt des Gefängnisses“: „In ‚Überwachen und Strafen‘ konstatiert Foucault eine Entwicklung vom Kerker zum Gefängnis, von der ‚bloßen‘ Bestrafung zur totalen Überwachung der Täter, die zu einer Ummodellierung der Körper führe.“[42] Die moderne Machtausübung geschieht also in Form einer Disziplinarmacht, die die Techniken der Beobachtung von Individuen und der Untersuchung anwendet. Die Manifestation der absoluten Beobachtung des Menschen ist das von Jeremy Bentham befürwortete „Panoptikum“, das Foucault als ein Paradigma für die „Mechanismen disziplinärer Technologie modellhaft wirken sieht“[43].

Das Panoptikum, das als „Gefängnis so angelegt [ist], dass von einer zentralen Position aus alle Zellen eingesehen werden können“[44], ist ein Sinnbild für unsere heutige Welt, in der gläserne Politiker gefordert werden, das Fernsehen jeden über alles informiert, der Staat im Internet die privaten Archive Verdächtiger untersuchen darf und „Big Brother is watching you“ ein geläufiger Satz geworden ist.

Foucault geht in seiner Biopolitik, die das Leben an sich als einen Bereich, auf den die moderne Politik zugreift, erkennt, darauf ein, dass der Mensch bis in die kleinsten Aspekte seines Lebens kontrolliert, beobachtet und beeinflusst werden kann.[45] Auf dieser Grundlage entwickelt Giorgio Agamben seinen Begriff des homo sacer und die Theorie des Lagers „als biopolitisches Paradigma der Moderne“[46].

2.2.2. Das Lager

Ausgehend von den Konzentrationslagern im zweiten Weltkrieg zeigt Agamben, dass das Lager in der Moderne eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: In der Biopolitik wird auch der letzte Bereich des Menschen, der vorher noch nicht in politischen Beziehungen mit einbezogen war, zum Objekt gemacht. Das nackte Leben, also das Leben an sich, ohne klassifizierende Qualifikationen, wird von der Politik beeinflusst. Durch Geburtenkontrolle, durch die Medizin und durch die Frage nach der Herkunft, also durch Überlegungen, nach welchen Kriterien die Staatszugehörigkeit zugestanden wird. Im Falle der Konzentrationslager wurden Juden aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Nationalsozialisten erließen nach der Machtergreifung die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ und hoben somit die Grundrechte auf. Dieser Ausnahmezustand ermöglichte die Durchführung des nationalsozialistischen Staates und die Konzentrationslager konnten entstehen. „Die Lager gehen also nicht aus dem gewöhnlichen Recht hervor (und noch weniger, wie man hätte vermuten können, aus einer Verwandlung und Entwicklung des Strafvollzugsrechtes), sondern aus dem Ausnahmezustand und dem Kriegsrecht.“[47]

Dies bedeutet, dass das Lager einen Raum darstellt, in dem sich außerhalb des Rechts befindende Individuen untergebracht werden. Durch die Politik der Nazis wurden die Juden als Menschen zweiter Klasse bewertet und somit außerhalb des Rechtes gestellt, weshalb sie in den Lagern untergebracht werden konnten. Wenn in der Moderne Menschen aus irgendwelchen Gründen außerhalb des Rechts gestellt werden – sei es aufgrund ihrer Herkunft oder Ähnlichem – und sie werden in einem Raum außerhalb des Rechts untergebracht, so hat man nach der Meinung Agambens eine Manifestation des Lagers:

Wenn dies stimmt, wenn das Wesen des Lagers in der Materialisierung des Ausnahmezustandes besteht und in der daraus erfolgenden Schaffung eines Raumes, in dem das nackte Leben und die Norm in einen Schwellenraum der Ununterschiedenheit treten, dann müssen wir annehmen, daß jedesmal, wenn eine solche Struktur geschaffen wird, wir uns virtuell in der Gegenwart eines Lagers befinden, unabhängig von der Art der Verbrechen, die da verübt werden.[48]

Dies könnte man aber auch so verstehen, dass es auch Lager in nicht-materieller Form gibt: Man könnte Randgruppen einer Gesellschaft so verstehen, dass sie in einem Lager außerhalb der Norm eingesperrt sind. Wenn man nun davon ausgeht, dass es möglich ist, Menschen in außerrechtliche Räume zu sperren, oder auf soziologischer Ebene aus der Gesellschaft auszusperren, so ist das Lager ein Machtinstrument. Wer die Möglichkeit besitzt, ein Lager entstehen zu lassen, wer also einen Ausnahmezustand hervorrufen kann, der es ermöglicht, dass Räume außerhalb des Rechts entstehen, der kann das Lager dazu verwenden, seine Macht offensichtlich zu machen und einzusetzen, um sie zu festigen oder zu schützen.

Um jedoch ein solches Lager entstehen zu lassen, muss es eine Macht geben, die über dem Recht steht oder dieses außer Kraft setzen kann. In seinem Werk ‚Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben‘ kommt Agamben zu dem Schluss, dass das Lager das biopolitische Paradigma der Moderne[49] darstellt. Dies geschieht dadurch, dass der Ausnahmezustand sich zum Normalzustand erweitert und sich das Lager weiter ausbreiten kann. Die Machtkonstellation, die zum Lager führt, ist die Beziehung zwischen dem homo sacer und dem Souverän, die als eine Opposition zwischen einer Macht- und einer Ohnmachtsposition behandelt werden soll.

2.2.3. Die Mauer

Im Hinblick auf Max Frischs ‚Die Chinesische Mauer‘ soll hier eine Überlegung zur Mauer als Machtmittel stattfinden. Die oben untersuchten Manifestationen von Macht in Form des Labyrinths und des Lagers haben gemeinsam, dass in allen Formen ein Individuum räumlich eingeschlossen wird. Das Instrument, um die Bewegungsfreiheit eines Individuums einzuschränken, ist die Mauer. Eine Mauer kann dazu dienen, etwas ein- oder auszugrenzen oder etwas zu umschließen. Ihre Funktion kann also schützend oder einschränkend sein. Eine Mauer ist eine deutliche Erscheinungsform von Macht, da sie den Willen des Erbauers deutlich macht. Im Falle der historischen Chinesischen Mauer wäre dies die Verteidigung des Kaiserreichs gegen die Mongolen. Bedenkt man die jüngste Geschichte so ist der Fall der Berliner Mauer ein Symbol für den Zusammenbruch des Ostblocks und somit für den Sieg über den Kommunismus in Osteuropa. Dies eröffnet eine weitere Ebene der Macht einer Mauer. Eine Mauer kann rein physisch als Bollwerk Grenzen vorgeben. Doch wenn man an die heutigen Grenzsteine bei Grundstücken denkt, so ist ein kleiner Stein an jeder Ecke des Grundstückes ein symbolisches Überbleibsel der Mauer, das immer noch den Besitz eingrenzt. Eine Mauer kann auch in den Köpfen entstehen, also Gedanken blockieren und somit auch die Freiheit des Menschen in geistiger Hinsicht einengen.

Am Beispiel der Berliner Mauer kann man die verschiedenen möglichen Bedeutungen erkennen, die von den jeweiligen Blickwinkeln abhängen. Robert Darnton hat in seinem Buch ‚Der letzte Tanz auf der Mauer‘, das die Zeit des Mauerfalls und die Reaktionen darauf behandelt, verschiedene Positionen dargestellt, die zeigen, welche symbolische Kraft in einer einfachen Einrichtung wie einer Mauer stecken kann:

Wie viele mächtige Symbole hat auch die Mauer zahllose Bedeutungen angenommen, die von West nach Ost erheblich differieren; sie wirkt von beiden Seiten sogar unterschiedlich. Aus westlicher Sicht ist sie eine Gefängnismauer, die Ost-Berlin totalitaristisch einschloß. [...] [E]in monströser Betonwall, dahinter der Todesstreifen [...] In Ost-Berlin sah man eine andere Mauer, bemalt mit hell- und dunkelblauen Mustern, sauber, freundlich, bar aller Graffiti. Sie versperrte den Blick auf das repressive System dahinter.[50]

Darnton zitiert einen Intellektuellen aus Ostberlin, der riet:

Reißt die Mauer nicht ein. Wir brauchen sie als Schutzwall. Sie sollte durchlässig sein, aber stehenbleiben. Einer der großen Fehler in der Geschichte Berlins war, daß man 1867 die Zollschranken einriß, in die das Brandenburger Tor eingebettet war. Danach begannen die Tragödien des modernen Zeitalters.[51]

Da Ost-Deutschland nicht unbedingt eine Vereinigung mit der Bundesrepublik anstrebte, sondern eine Reform der Deutschen Demokratischen Republik, war die Mauer eine klare, identitätsstiftende Grenze. „Um lebensfähig zu sein, muß ein Staat seine Grenzen festlegen und seine Identität gegenüber den Nachbarstaaten behaupten.“[52]

Aber gleichzeitig gab es im Westen den Mauer-Tourismus und es wurden Andenken an die Mauer verkauft. Hier wurde deutlich, dass die Mauer zwei Systeme abgetrennt hatte, und nicht nur physisch, sondern auch sozial wirksam war. „Die Verkäufer hatten ihre [Post]Karten an Ständen vor den Geschäften ausgestellt, und da die Ostberliner noch nie so offen dargebotene Waren gesehen hatten, meinten sie, es seien Werbestücke, und nahmen sie ohne zu zahlen mit.“[53]

Auch zeigt die Mauer die Gefahr auf, die Agamben in dem Ausnahmezustand sieht, der zum gewohnten Zustand wird, wenn er länger andauert[54]: „Sie akzeptierten die Mauer als unausweichliches Faktum, als Teil der Landschaft, der vor ihrer Geburt da war und nach ihrem Tod noch immer existieren würde. Sie überließen die Mauer den Touristen, nahmen sie als Selbstverständlichkeit hin, vergaßen sie oder übersahen sie einfach.“[55]

Diese Beispiele zeigen, dass die Mauer als ein starkes Machtinstrument gebraucht wird und solch komplexe Formen wie Lager und Labyrinthe, die die psychische Seite des Menschen noch weiter unterdrücken, hervorbringen kann.

[...]


[1] Hamid Reza Yousefi: Dialog & Macht. Ein Kommentar. in: Neue Universal 71, Oktober 2007, S. 10.

[2] Vgl. z.B.: Friedrich Dürrenmatt: Die Welt als Labyrinth. Ein Gespräch mit Franz Kreuzer. Zürich: Diogenes, 1986.

[3] Nadja Schiemann und Kai-Ulrich Hartwich: „Der Schweiz liebster Bürgerschreck“ und der „Unschweizer von gestern“. Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und ihr „verluderter Staat“: Anmerkungen zum Problem Schweizer Identität. in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue Allemande. Tome XXIII, 3, Juillet-Septembre 1991, S.378.

[4] Zitiert nach Heinrich Schneider: Macht in Perspektive. Nachbemerkungen zum Symposion. In: Macht und Ohnmacht. Hg. von Heinrich Schneider. Wien: Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, 1988, (=Forum St. Stephan: Gespräche zwischen Wissenschaft, Kultur und Kirche, Bd. 6), S. 67.

[5] Zitiert nach ebd., S. 67.

[6] Vgl.: Peter Imbusch: Lektion IX. Macht und Herrschaft. In: Herrmann Korte, Bernhard Schäfers: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 6., erweiterte und aktualisierte Aufl. Opladen: Leske und Budrich, 2002 (=UTB), S. 162.

[7] Vgl. Bernhard Schäfers, Johannes Kopp (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie. 9., grundlegend überarbeitete und aktualisierte Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006 (= Einführungskurs Soziologie, hg. von Hermann Korte und Bernhard Schäfers, Bd I.) S. 166.

[8] Hermann L. Gukenbiehl, Johannes Kopp: Macht. In: Bernhard Schäfers (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie. 8., überarb. Aufl. Opladen: Leske und Budrich, 2003 (=UTB), S. 210

[9] Vgl. Imbusch: Macht und Herrschaft. S. 164.

[10] Imbusch: Macht und Herrschaft, S. 165

[11] Ebd., S. 165.

[12] Autoritative Macht, Brachiale Macht, Geistig-geistliche Macht, Informelle Macht, Legitime Macht, Normative Macht, Personale-funktionale Macht, politische Macht, petriale Macht, symbolische Macht, weltliche Macht. (Vgl. Werner Fuchs-Heinritz u.a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie. 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl., durchges. Nachrduck, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995, S. 410-411.)

[13] Imbusch: Macht und Herrschaft. S. 166

[14] Ulrich Matz: Grenzen der Macht: Beobachtungen im Zusammenhang mit den sogenannten Neuen sozialen Bewegungen. In: Macht und Ohnmacht. Hg. von Heinrich Schneider. Wien: Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, 1988, (=Forum St. Stephan: Gespräche zwischen Wissenschaft, Kultur und Kirche, Bd. 6), S. 36.

[15] Imbusch: Macht und Herrschaft. S. 166-171.

[16] Ebd., S. 167.

[17] Imbusch: Macht und Herrschaft, S. 168.

[18] Ebd., S. 168.

[19] Vgl. Niklas Luhmann: Die „Macht der Verhältnisse“ und die Macht der Politik. In: Macht und Ohnmacht. Hg. von Heinrich Schneider. Wien: Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, 1988, (=Forum St. Stephan: Gespräche zwischen Wissenschaft, Kultur und Kirche, Bd. 6), S. 46.

[20] Vgl. Imbusch: Macht und Herrschaft. S. 168.

[21] Vgl. ebd., S. 168 f.

[22] Imbusch: Macht und Herrschaft, S. 169.

[23] Vgl. ebd., S. 169.

[24] Vgl. ebd., S. 170

[25] Ebd., S. 170.

[26] Zitiert nach ebd., S. 170.

[27] Ebd., S. 170.

[28] Vgl. Imbusch: Macht und Herrschaft, S. 170.

[29] Ebd., S. 171

[30] Ebd., S. 171.

[31] Ebd., S. 172.

[32] Ebd., S. 172.

[33] Hans Ulrich Gumbrecht: Keine Zeit für Genies. in: Cicero 11, 2006, S. 97.

[34] Florentine Strzelczyk: Im Labyrinth: Zum Verhältnis von Macht und Raum bei Bachmann und Dürrenmatt. in: Seminar 32:1, February 1996, S. 17.

[35] Vgl. ebd., S. 17 f.

[36] Zitiert nach vgl. Strzelczyk: Im Labyrinth, S. 18.

[37] Zitiert nach ebd., S. 17 f.

[38] Zitiert nach ebd., S. 18.

[39] Zitiert nach Srzelczyk: Im Labyrinth, S. 18.

[40] Zitiert nach ebd., S. 18.

[41] Zitiert nach ebd., S. 18 f.

[42] Annette Treibel: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. 6., überarbeitete und aktualisierte Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004 (=Einführungskurs Soziologie, hg. von Hermann Korte und Bernhard Schäfers, Bd. III.), S. 64.

[43] Strzelczyk: Im Labyrinth. S. 19.

[44] Treibel: Einführung in soziologische Theorien, S. 63.

[45] Vgl. ebd.. S. 66.

[46] Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002 (=Erbschaft unserer Zeit. Vorträge über den Wissensstand der Epoche, Bd. 16), S 125.

[47] Agamben: Homo sacer, S. 175.

[48] Vgl. ebd., S. 183.

[49] Vgl. Agamben: Homo sacer. S. 125.

[50] Robert Darnton: Der letzte Tanz auf der Mauer. Berliner Journal 1989-1990. München, Wien: Carl Hanser, 1991, S. 52 f.

[51] Ebd., S. 53.

[52] Ebd. S. 54.

[53] Ebd., S. 57.

[54] Vgl. Agamben: Homo sacer. S. 177.

[55] Darnton: Der letzte Tanz auf der Mauer. S. 58.

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Macht und Ohnmacht in den Dramen Friedrich Dürrenmatts und Max Frischs
Hochschule
Universität Trier  (Fachbereich II - Germanistik, Neuere deutsche Literaturwissenschaft)
Note
3,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
85
Katalognummer
V148206
ISBN (eBook)
9783640579983
ISBN (Buch)
9783640580262
Dateigröße
861 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"Die vorliegende Arbeit widmet sich einem ebenso neuralgischen wie in der germanistischen Forschung nie explizit behandelten Themenkomplex [...] Dabei sind Mut und Originalität der Fragestellung hervorzuheben, die sich auf wenig Rückhalt in der - zumal in letzter Zeit nicht eben produktiven - Forschung zum dramatischen Oeuvre von Dürrenmatt und Frisch zu stützen vermag. Umso stärker ist zu gewichten, dass der Verfasser mit R. Girards Arbeiten zur Sündenbock-Problematik und G. Agambens Homo-sacer-Projekt auf zwei aktuelle wie theoretisch elaborierte Beiträge zurückgreift.[...]"
Schlagworte
Friedrich Dürrenmatt, Der Blinde, Achterloo, Max Frisch, Andorra, Die Chinesische Mauer, Giorgio Agamben, Homo Sacer, Lager, Labyrinth, René Girard, Sündenbock, Macht, Ohnmacht
Arbeit zitieren
Christoph Höbel (Autor:in), 2008, Macht und Ohnmacht in den Dramen Friedrich Dürrenmatts und Max Frischs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148206

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