Die Briefe des Weltpriesters Heinrich von Nördlingen an die mystisch begabte
Dominikanerin Margaretha Ebner gelten als „[...] die älteste persönlich gehaltene
Briefsammlung in deutscher Sprache“. Sie entstanden in der ersten Hälfte des 14.
Jahrhunderts und stehen damit an der Schwelle zur Tradition einer volkssprachlichen
privaten Briefkultur. Zuvor war die briefliche Kommunikation des Mittelalters lateinisch
und beschränkte sich vorwiegend auf den geschäftlich-juristischen Bereich. Eine
Ausnahme bildeten die Liebesbriefe, die jedoch meist fiktiv sind, einen hohen
Kunstcharakter aufweisen und daher kaum Ausdruck authentischer persönlicher Gefühle
sind.
Die ersten deutschen Prosabriefe entstanden im Kontext spätmittelalterlicher Mystik. Die
enge und vertraute Beziehung zwischen Beichtvater und Mystikerin gaben den Briefen
einen starken persönlichen Charakter, so dass sie fast schon den Anschein von Modernität
erwecken. Neben der Korrespondenz Heinrichs von Nördlingen sind in diesem
Zusammenhang auch die Briefe Heinrich Seuses an Elsbeth Stagel zu erwähnen, die
zeitlich betrachtet sogar älter sind. Allerdings wird ihnen der Briefcharakter nahezu
abgesprochen: „Da Seuses Schreiben eher briefliche Predigten und Traktate sind, kann
diese Korrespondenz [i.e. diejenige von Nördlingens] als der früheste deutsche
Briefwechsel bezeichnet werden.“ Damit kommt den Briefen Heinrichs von Nördlingen
eine besondere Bedeutung hinsichtlich der deutschen Privatbriefkultur im Mittelalter zu.
Die mittelalterliche Briefkommunikation unterscheidet sich eklatant von der modernen
Briefpraxis; sie wies schon früh formale Gewohnheiten auf und unterlag seit dem
Hochmittelalter den Kriterien der im 11. Jahrhundert neu aufgekommenen Ars dictaminis,
der Briefstellerlehre, die für die gesamte lateinische Brieftradition des Mittelalters
maßgeblich wurde. Zur Entstehungszeit der Briefe von Nördlingens haben diese Regeln noch immer
Gültigkeit, da die lateinische Brieftradition – vor allem in öffentlichen Bereichen – nach
wie vor gilt. Es stellt sich also die Frage, inwieweit sie noch Einfluss auf diese ersten
volkssprachlichen Mystikerbriefe nimmt, beziehungsweise worin gerade das Neue und
Eigenständige dieser Briefe liegt, die zu den bemerkenswertesten Errungenschaften der
deutschen Mystik des Mittelalters gezählt werden. Im Weiteren kann gefragt werden,
weshalb diese Errungenschaften ausgerechnet im Bereich spätmittelalterlicher Mystik
gemacht wurden [...]
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- 1. Thematische Einführung
- 2. Textüberlieferung und Forschungsüberblick
- II. Hauptteil
- 1. Exkurs: Zur mittelalterlichen Brieftradition
- 1.1. Begrifflichkeit und Tradition
- 1.2. Die Kriterien der Ars dictandi
- 2. Historisch-biographischer Entstehungskontext der Briefe
- 3. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner
- 3.1. Brief IV - Exemplarische Analyse
- 3.2. Brief XXXVII - Exemplarische Analyse
- 3.3. Die analysierten Briefe im Kontext der Sammlung
- 3.4. Diskussion und Ergebnis
- 1. Exkurs: Zur mittelalterlichen Brieftradition
- III. Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner im Kontext der mittelalterlichen Brieftradition. Dabei wird der Fokus auf die spezifischen Merkmale dieser frühen volkssprachlichen Mystikerbriefe gelegt, die im Vergleich zur lateinischen Briefkultur des Mittelalters Besonderheiten in Bezug auf Inhalt, Struktur, Sprache und Stil aufweisen. Die Analyse der Briefe soll Aufschluss darüber geben, inwieweit die Regeln der Ars dictaminis, der mittelalterlichen Briefstellerlehre, noch Einfluss auf diese frühen deutschen Mystikerbriefe hatten und welche neuen Elemente diese Briefe auszeichnen.
- Die Entstehung der frühen volkssprachlichen Mystikerbriefe im Kontext der mittelalterlichen Brieftradition
- Der Einfluss der Ars dictaminis auf die Briefe Heinrichs von Nördlingen
- Die spezifischen Merkmale der Briefe Heinrichs von Nördlingen in Bezug auf Inhalt, Struktur, Sprache und Stil
- Die Bedeutung der Briefe Heinrichs von Nördlingen für die Entwicklung der deutschen Privatbriefkultur
- Die Rolle der Mystik im Kontext der mittelalterlichen Briefkultur
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner als frühe Beispiele für die volkssprachliche Briefkultur des Mittelalters vor. Sie skizziert den historischen und biographischen Entstehungskontext der Briefe und gibt einen Überblick über die Forschungsliteratur. Der Hauptteil widmet sich zunächst einem Exkurs zur mittelalterlichen Brieftradition, insbesondere zur Ars dictaminis, der Briefstellerlehre. Anschließend werden die Briefe Heinrichs von Nördlingen anhand zweier ausgewählter Beispiele, Brief IV und XXXVII, exemplarisch analysiert. Die Analyse berücksichtigt Inhalt, Struktur, Sprache und Stil der Briefe und untersucht deren Einordnung in den Kontext der gesamten Sammlung. Schließlich werden die Ergebnisse der Analyse diskutiert und im Kontext der mittelalterlichen Briefkultur interpretiert.
Schlüsselwörter
Mittelalter, Mystik, Briefkultur, Ars dictaminis, Heinrich von Nördlingen, Margaretha Ebner, volkssprachliche Literatur, deutsche Sprache, Briefanalyse, Briefstellerlehre, Tradition und Innovation
- Arbeit zitieren
- Katharina Tiemeyer (Autor:in), 2006, Mystische Korrespondenz zwischen Tradition und Innovation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148239