Ich möchte mich in dieser Arbeit mit dem Orientbild in Hermann Hesses „Die Morgenlandfahrt“ beschäftigen und klären, ob es sich dabei um die westliche Imagination eines solchen handelt oder ob Hesse einen, wenn auch fiktiven, selbstständig kulturellen Orient entwickelt. Ich werde mich im Zuge dessen insbesondere mit dem Reisemotiv und der Entdeckung des Fremden in der Erzählung beschäftigen. Dabei werde ich insbesondere auf den Zusammenhang zur Orientalismusdebatte innerhalb postkolonialer Studien eingehen und versuchen, die Bedeutung des Romans für die Beziehung von Ost und West (auf literarischer wie gesellschaftlicher Ebene) herauszuarbeiten. Aus drei Gründen entschied ich mich für eine Analyse von „Die Morgenlandfahrt“ im Kontext postkolonialer Literatur: Erstens zählt Hermann Hesse zu denjenigen deutschen Autoren, die sich intensiv mit anderen Kulturen auseinandersetzten und nicht alles, was nicht national war, ablehnten. Zweitens finde ich es interessant ein anderes Werk als den Vorzeigeroman „Siddharta“ in Bezug auf den Aspekt des Östlichen und dessen Bild im Westen zu untersuchen und drittens treffen Hesses Schreib- und Denkweisen meinen persönlichen Geschmack, wobei ich zugeben muss, dass ich seine Romane bis zu Beginn des Seminars Postcolonial Studies und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht unter dem Blickwinkel betrachtet habe, den ich in dieser Arbeit verfolgen werde. Nach einer kurzen Biographie des Autors Hermann Hesse und einer Zusammenfassung der inhaltlichen Ereignisse in „Die Morgenlandfahrt“ werde ich unter Punkt 3.1 theoretische Grundlagen zum Orientalismus darstellen und mich dabei insbesondere auf die Ausführungen von Edward W. Said beziehen, der innerhalb dieser Forschungsrichtung die bisher bedeutendsten Ideen lieferte. Im Punkt 3.2 werde ich dann „Die Morgenlandfahrt“ auf Reisemotive und die Entdeckung des Fremden und des Anderen untersuchen, wobei ich mich auf das erste Kapitel der Erzählung beschränke, da hier die eigentliche Pilgerreise dargestellt wird. Anschließend möchte ich unter Punkt 3.3 die beiden vorher genannten Punkte miteinander verknüpfen, also darauf eingehen, inwiefern Hesses Roman mit den Ansätzen des Orientalismus übereinstimmt oder davon abweicht und welche Bedeutung dies für postkoloniale Studien deutschsprachiger Literatur hat.
1. Einleitung
Ich möchte mich in dieser Arbeit mit dem Orientbild in Hermann Hesses „Die Morgenlandfahrt“ beschäftigen und klären, ob es sich dabei um die westliche Imagination eines solchen handelt oder ob Hesse einen, wenn auch fiktiven, selbstständig kulturellen Orient entwickelt. Ich werde mich im Zuge dessen insbesondere mit dem Reisemotiv und der Entdeckung des Fremden in der Erzählung beschäftigen. Dabei werde ich insbesondere auf den Zusammenhang zur Orientalismusdebatte innerhalb postkolonialer Studien eingehen und versuchen, die Bedeutung des Romans für die Beziehung von Ost und West (auf literarischer wie gesellschaftlicher Ebene) herauszuarbeiten. Aus drei Gründen entschied ich mich für eine Analyse von „Die Morgenlandfahrt“ im Kontext postkolonialer Literatur: Erstens zählt Hermann Hesse zu denjenigen deutschen Autoren, die sich intensiv mit anderen Kulturen auseinandersetzten und nicht alles, was nicht national war, ablehnten. Zweitens finde ich es interessant ein anderes Werk als den Vorzeigeroman „Siddharta“ in Bezug auf den Aspekt des Östlichen und dessen Bild im Westen zu untersuchen und drittens treffen Hesses Schreib- und Denkweisen meinen persönlichen Geschmack, wobei ich zugeben muss, dass ich seine Romane bis zu Beginn des Seminars Postcolonial Studies und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht unter dem Blickwinkel betrachtet habe, den ich in dieser Arbeit verfolgen werde. Nach einer kurzen Biographie des Autors Hermann Hesse und einer Zusammenfassung der inhaltlichen Ereignisse in „Die Morgenlandfahrt“ werde ich unter Punkt 3.1 theoretische Grundlagen zum Orientalismus darstellen und mich dabei insbesondere auf die Ausführungen von Edward W. Said beziehen, der innerhalb dieser Forschungsrichtung die bisher bedeutendsten Ideen lieferte. Im Punkt 3.2 werde ich dann „Die Morgenlandfahrt“ auf Reisemotive und die Entdeckung des Fremden und des Anderen untersuchen, wobei ich mich auf das erste Kapitel der Erzählung beschränke, da hier die eigentliche Pilgerreise dargestellt wird. Anschließend möchte ich unter Punkt 3.3 die beiden vorher genannten Punkte miteinander verknüpfen, also darauf eingehen, inwiefern Hesses Roman mit den Ansätzen des Orientalismus übereinstimmt oder davon abweicht und welche Bedeutung dies für postkoloniale Studien deutschsprachiger Literatur hat. Aufgrund des begrenzten Umfanges dieser Hausarbeit werde ich die Darstellung des Orientalismus auf zentrale Punkte beschränken, die mir für die Untersuchung der Erzählung im Rahmen einer solchen Forschungsrichtung am wichtigsten erscheinen
2. Hermann Hesse und „Die Morgenlandfahrt“
Der Schriftsteller und Freizeitmaler Hermann Karl Hesse wurde am 02. Juli 1877 in Calw geboren und wuchs dort in einer schwäbisch-indischen Familie auf. Seine Eltern und sein Großvater, Dr. Hermann Gundert, waren vor seiner Geburt in Indien als Missionare tätig, weshalb in Hesses Elternhaus eine für diese Zeit ungewöhnlich „aufgeschlossene Atmosphäre gegenüber Fremden herrschte“[1], die den Schriftsteller in seinem Denken und Handeln stark beeinflusste. Der junge Hesse erkannte jedoch schon bald, dass der christliche Glaube seiner Familie sie in ihrer Einstellung gegenüber der fremden Kultur so beeinflusste, dass sie jene zwar anerkannten, jedoch nie eine andere Religion als die des Christentums akzeptieren konnten. Daraufhin begann die persönliche geistige Reise des fünfzehnjährigen Hesse mit der Distanzierung vom streng dogmatischen christlichen Glauben[2] gegen den Willen seiner Eltern, die geprägt war durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Hinduismus und dem Buddhismus. Dieses vorbehaltlose Interesse an fremden Kulturen, insbesondere der Indiens, spiegelt sich vor allem in Hesses literarischen Werken wieder[3], die bestimmt sind durch das Grundmotiv des
[…] Durchbruch des einzelnen aus dem Bestehenden heraus und seine daran anschließende, freiwillige Einordnung in das Ganze, die durch den Prozeß [sic!] der Individuation sehr viel rascher erreicht wird, als durch blinde Treue dem Bestehenden gegenüber.[4]
Diesen Ausbruch ins Alleinsein und die Wiedereinordnung in ein Ganzes aus eigenem Willen finden wir auch in der 1932 erschienen Erzählung „Die Morgenlandfahrt“ durch den Protagonisten des Violinenspielers H.H., der von seinen Erinnerungen an eine Reise des Bundes, dem er einst angehörte, in den Osten berichtet und in dem sich offensichtlich der Schriftsteller Hermann Hesse selbst verkörpert[5].
[…] Jede stets bereit, sich in eine größere Einheit aufzulösen und eine Weile ihr anzugehören, aber nicht minder bereit, stets wieder vereinzelt weiterzuziehen. Mancher zog auch ganz allein seines Weges, auch ich bin zuzeiten allein marschiert, wenn irgendein Zeichen oder Ruf mich auf eigene Wege lockte.[6]
Im weiteren Verlauf der Erzählung erkennt H.H. die Ziel- und Sinnlosigkeit seines Vorhabens, die Geschichte der Morgenlandfahrt zu erzählen und sucht seinen alten Kameraden Leo auf, der ihn jedoch nicht wieder zu erkennen scheint. Einige Tage später erscheint Leo und führt H.H. zum Bunde zurück, der ihn des Verrates und der Fahnenflucht beschuldigt. Unter der Auflage, H.H. möge im Archiv des Bundes seinen eigenen Namen nachschlagen, wird er frei gesprochen und sogar in den obersten Rat aufgenommen. H.H. tut wie ihm befohlen und sieht die Bilder seiner Person mit der Leos verschmelzen; er muss schließlich erkennen, „[…] daß [sic!] die Gestalten aus Dichtungen lebendiger und wirklicher zu sein pflegen als die Gestalten ihrer Dichter.“[7]
Hermann Hesse gilt als einer der wenigen Schriftsteller, die sich vom deutschen Nationalismus vor und im Ersten, sowie Zweiten Weltkrieg umgehend distanzierte und nicht in die Hasstriaden der Deutschen gegen andere Länder und Kulturen einstimmte. „Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges […] die Verteufelung des Fremden waren für ihn ein Schock, der ein ‚Erwachen‘ bewirkt hat.“[8] Dieses ‚Erwachen‘ besteht nun darin, dass Hesse versuchte, eine Verständigung unter den verschiedenen Nationen anzustreben und sich mit den Lebens- und Denkweisen fremder Völker ohne jegliche Vorurteile beschäftigte. Er nahm auch keine erhöhte Position ein bei seinen Betrachtungen, fühlte sich nicht überlegen, was wohl unter anderem auf den Ausbruch aus der Religion in seiner Jugend zurückzuführen ist. Aufgrund seiner kompletten Abneigung gegenüber der nationalen, fremdenfeindlichen Haltung Deutschlands, zog Hesse im Jahre 1919 nach Sorengo (Tessin), wo er vielen seiner Künstlerkollegen- und Freunden auf dem Weg ins Exil Unterschlupf bot, so zum Beispiel Thomas Mann und Bertolt Brecht.
1946 erhielt Hermann Hesse den Nobelpreis für Literatur für sein Gesamtwerk, das neben der „Morgenlandfahrt“ noch Romane wie „Unterm Rad“ (1906), „Demian“ (1919), „Siddharta“ (1922), „Der Steppenwolf“ (1927), „Narziß und Goldmund“ (1930) und „Das Glasperlenspiel“ (1943) umfasst. Am 09. August 1962 starb Hesse schließlich nach langer, jedoch unbemerkter Erkrankung an Leukämie in Montagnola.
[...]
[1] Ganeshan, Vridhagiri: Hermann Hesse und Indien – Ein Kapitel der Missverständnisse. Punkt 2.
[2] Hesse kritisierte „den Verrat, den das Christentum an Christus immer wieder begangen habe.“
(vgl. Küng, Hans: Nahezu ein Christ? Hermann Hesse und die Herausforderung der Weltreligion. S. 160.)
[3] Vgl. Ganeshan, Vridhagiri: Hermann Hesse und Indien – Ein Kapitel der Missverständnisse. Punkt 6.
[4] Ebd.
[5] Auf ganz subtiler Ebene der gleichen Initialen beispielsweise.
[6] Hesse, Hermann: Die Morgenlandfahrt. S. 27.
[7] Hesse, Hermann: Die Morgenlandfahrt. S. 122.
[8] Ponzi, Mauro: Umwege der Modernisierung. S.385.
- Arbeit zitieren
- Carolin Hildebrandt (Autor:in), 2009, Der Orient in Hermann Hesses „Die Morgenlandfahrt“ - Westliche Imagination oder Entwicklung einer selbstständigen Kultur?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148824
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