Was ist Realismus?

Eine Annäherung an Bazins Verständnis von realistischer Darstellung im Film


Seminararbeit, 2006

18 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Fotografie als Vorläufer des Films
2.1. Von der Malerei zur Fotografie
2.2. Objektivität und verworfene Zeitlichkeit
2.3. Zusammenfassung

3. Die Entwicklung von realistischer Darstellung im Film
3.1. Das Kino als idealistisches Phänomen
3.2. Realistische Darstellung im Film und ihre technische Bedingungen
3.3. Die Bedeutung der Montage
3.3.1. Der Einsatz der Schärfentiefe
3.3.2. Zusammenfassung
3.4. Neorealismus
3.5. Zusammenfassung

4. Der filmische Realismus und die italienische Schule
4.1. Geschichtliche Rahmenbedingungen des italienischen Films
4.2. Charakteristika der Italienischen Schule: Ästhetik und Realismus
4.3. Formen des Realismus außerhalb von Italien
4.4. Paisà als Beispiel für die Umsetzung vom filmischen Realismus in Italien
4.5. Zusammenfassung

5. Fazit

6. Literatur

1. Einleitung

Inwiefern ein Film realistisch ist, kann man an unterschiedlichen Kriterien festmachen, grundlegend bedingt durch das subjektive Verständnis von Wirklichkeit. Ist dieses Verständnis von Wirklichkeit näher definiert, entwickelt sich die Perspektive, den realistischen Anspruch eines Films mit diesem Verständnis abzugleichen. Daher entstehen zu einem Film unterschiedliche Meinungen, ob und wann dieser die Wirklichkeit realistisch abbildet. Welche Bedingungen sind jedoch dafür verantwortlich und lassen sie sich genauer umschreiben?

Der französische Filmtheoretiker und Filmkritiker André Bazin entwickelte sein Verständnis vom filmischen Realismus und veröffentlichte dazu nach 1945 viele zentrale Texte. In der vorliegenden Hausarbeit, die sich primär mit ausgewählten Texten von Bazin auseinandersetzt, soll eingehend die Theorie vom filmischen Realismus vorgestellt werden und welche Aspekte der Fotografie dazu beitragen. Mit diesem Gegenstand beschäftigt sich das zweite Kapitel der Arbeit.

Anschließend werden im dritten Kapitel die Entwicklung von realistischer Darstellung im Film und dessen technische Bedingungen erschlossen, wobei einleitend die Prämisse nach Bazin vom Kino als idealistisches Phänomen herangezogen wird. Das Kapitel soll die Frage beantworten, welchen Stellenwert man technischen Rahmenbedingungen zusprechen kann und inwiefern sie die Umsetzung von realistischer Darstellung im Film ermöglichen.

Aufschlussreich sind auch Bazins interkulturelle Untersuchungen zu filmischen Realismus in unterschiedlichen Ländern, deren äußerste Umsetzung man im italienischen Film findet. Diese Tatsache wirft die Frage auf, welche Bedingungen für die Zuspitzung der realistischen Darstellung im Rahmen der italienischen Schule verantwortlich sind. Der italienische Neorealismus, der bereits im dritten Kapitel angeführt wird, soll im vierten Kapitel weiter vorgestellt werden. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht nur die einführende Darstellung der geschichtlichen Rahmenbedingungen und folgende Charakterisierung des italienischen Neorealismus, sondern auch filmische Beispiele, die Bazins Annahmen veranschaulichen.

Eine Zusammenfassung der gesamten Arbeit im fünften Kapitel, die auch die geschlossene Beantwortung der Ausgangsfragen beabsichtigt, rundet die Arbeit ab.

2. Die Fotografie als Vorläufer des Films

Im Folgenden werden die Entwicklung von der Malerei zur Fotografie dargestellt und der Konflikt, mit dem sich die Kunst vor der Entwicklung der Fotografie auseinander setzen musste. Dann folgt eine Unterscheidung zwischen der Subjektivität der Malerei und der Objektivität der Fotografie sowie zwischen malerischem und fotografischem Bild. Ingesamt soll herausgestellt werden, dass der Film an die Absichten der Fotografie anknüpft und das Bestreben nach einer realistischen Darstellung im Film neue Umsetzungsmöglichkeiten findet.

2.1. Von der Malerei zur Fotografie

Bazin sieht in der Mumifizierung der alten Ägypter den Ursprung der Malerei. Für die Ägypter war der materielle Fortbestand des Körpers nach dem Tod bestimmend. Der Versuch, „das Wesen durch die Erscheinung zu retten“[1], wird auch später in der Malerei weitergeführt. Sie soll dazu dienen, der Zeit zu entkommen und das Objekt vor dem Vergessen zu bewahren, wobei es nicht ausdrücklich um das Überleben des Menschen geht, sondern vielmehr um eine Erschaffung eines Universums nach dem Abbild des Wirklichen.[2]

Bazin sieht in der Geschichte der Bildenden Kunst die Geschichte ihrer Psychologie und ihrer Ästhetik und somit auch die des Realismus. Die Malerei wendete sich mit der Zeit von der symbolischen Darstellung ab und wurde realistischer, d. h. sie versuchte, die Welt immer häufiger zu imitieren. Nicht unwesentlich steuerte die Entwicklung der ‚Perspektive’ einen Teil dazu bei, mit der man einen dreidimensionalen Raum imitieren konnte.

Die Malerei war nun zerrissen zwischen der Ästhetik und Symbolik ihrer Kunst und dem psychologischen Bedürfnis, die Welt zu imitieren. Die Perspektive hatte jedoch nur das Problem der Form, nicht das der Bewegung gelöst und somit musste der Realismus „weitersuchen, und zwar nach einem dramatischen Ausdruck des Augenblicks“.[3] Trotz jeglicher Bemühungen blieb die Malerei jedoch immer subjektiv, vom Auge des Künstlers ausgehend. Dieses Problem löste sich durch die Entwicklung der Fotografie, deren Eigenschaften der Ansatzpunkt für Bazins Theorie vom filmischen Realismus ist und somit als Vorläufer des Films bezeichnet werden kann.

2.2. Objektivität und verworfene Zeitlichkeit

Soziologisch gesehen sind die Fotografie und der Film eine Erklärung „für die geistige und technische Krise der modernen Malerei“.[4] Die Fotografie kann das Problem des dramatischen Ausdrucks des Augenblicks lösen, denn sie und der Film „sind Erfindungen, die das Verlangen nach Realismus ihrem Wesen nach endgültig befreien“.[5] Wie bereits dargestellt, liegt das Problem der Malerei in der Subjektivität, die ein Maler seinem Bild unvermeidlich anheftet. Unabhängig davon, wie stark sein Versuch die Wirklichkeit zu imitieren auch sein mag, das Bild trägt letztendlich seine Handschrift. Die Fotografie hingegen ist ihrem Wesen nach objektiv.[6] Zum ersten Mal wird die Abwesenheit des Menschen gelobt, der in allen anderen Künsten nicht wegzudenken ist. Gleichzeitig oder gerade deshalb besitzt das photografische Bild eine Wahrhaftigkeit oder Überzeugungskraft, wie sie nie durch ein gemaltes oder gezeichnetes Bild erzeugt werden kann. Ein weiterer Punkt, in dem die Fotografie und später auch der Film die Malerei übertrifft, ist die Zeit. Bazin spricht davon, dass das photografische Bild nicht nur ein Bild eines Objekts sei, sondern es sei das Objekt selbst, nur ohne seine Zeitlichkeit bzw. Vergänglichkeit:

„…[D]ie Photographie erschafft nicht, wie die Kunst, Ewigkeit, sondern sie balsamiert die Zeit ein…“[7]

Die ästhetische Wirkungskraft der Fotografie liegt darin, das Wirkliche zu enthüllen. Dinge, die der Mensch als gegeben hinnimmt, dessen Schönheit er nicht mehr wahrnimmt, werden durch sie wieder zu etwas neuem:

„[D]ie Photographie [fügt] der natürlichen Schöpfung etwas hinzu, anstatt sie durch eine andere zu ersetzen.“[8]

2.3. Zusammenfassung

Die Theorie des filmischen Realismus leitet sich grundsätzlich von dem Bestreben nach Objektivität und dem Drang nach realistischer Darstellung ab. Diesem Ziel kommt die Fotografie näher, als es der Malerei je möglich war. Der Film ist die Vollendung der Fotografie, da er zusätzlich zu ihr ein Bild der Dauer, der „wirklichen Zeit der Dinge“ hergibt. Und daraus folgert Bazin: Der Realismus ist für Photographie und Film, anders als für die Malerei, ästhetisch zentral. Beide zielen auf die Enthüllung des Wirklichen.

3. Die Entwicklung von realistischer Darstellung im Film

Nachdem Bazins Theorie vom filmischen Realismus dargelegt wurde, soll im dritten Kapitel die Entwicklung von realistischer Darstellung zwischen 1930 und 1940 umrissen werden. Die Frage, welchen Stellenwert man technischen Rahmenbedingungen zusprechen kann und inwiefern sie die Umsetzung von realistischer Darstellung im Film ermöglichen, kann man erst beantworten, wenn man Bazins Idee vom totalen Film heranzieht. Erst durch die Berücksichtigung dieser Prämisse lässt sich Bazins Blick auf die Entwicklung von realistischer Darstellung im Film nachvollziehen, der die Entstehung der Idee des filmischen Realismus vor dessen technischen Umsetzung sieht: „Das Kino ist ein idealistisches Phänomen.“[9]

3.1. Das Kino als idealistisches Phänomen

Die Idee von realistischer Darstellung im Film existierte nach Bazin bereits vor dessen Umsetzung, wie auch seine Ausführungen zur Fotografie belegen. In Bezug auf den Film widerspricht er gezielt der These, dass die industrielle Entwicklung der Motor für diese Idee war, sondern abseits der Wissenschaft viele Zufälle ineinander wirkten, die angetrieben wurde von der Phantasie einzelner Vorbereiter: „[Es] ging eine annähernde und komplizierte Verwirklichung der Idee fast immer der industriellen Entwicklung voran, die damit lediglich die praktische Nutzanwendung ermöglichte.“[10] Das Ziel, das aller Vorbereiter verfolgten, wie Eadweard Muybridge oder Nicéphore Niepce, war die Idee einer ‚totalen, allumfassenden Vorstellung der Realität’, die sich an der gedanklichen Stoßrichtung orientierte, die Bazin bereits mit der Fotografie beschrieb und durch Aspekte wie Bewegung, Ton und Farbe erweitert werden sollen.[11] Diese idealistische Vorstellung, verwurzelt in dem Bedürfnis nach Objektivität und verworfener Zeitlichkeit, setzt Bazin folglich lange vor der eigentlichen industriellen Entwicklung an und erklärt sie sogleich als das Ziel eines technischen Prozesses, dessen Bewertung sich an der Vorstellung messen muss, wie hinreichend sich die filmische Darstellung der Wirklichkeit angenähert hat:

„Es ist der Mythos eines allumfassenden Realismus, einer Wiedererschaffung der Welt nach ihrem eigenen Bild, einem Bild, das weder mit der freien Interpretation des Künstlers noch mit der Unumkehrbarkeit der Zeit belastet wäre.“[12]

Wenn man anhand dieser Idee eine Entwicklungsstufe wie das Zeitalter des Stummfilms bewertet, ist das Kino im Sinne des totalen Films noch nicht erfunden. Die Faktoren, die den ‚allumfassenden Realismus’ verhindern sind folglich technischer Natur, auch wenn die Idee in der Phantasie der Vorbereiter bereits existierte und einen Weg beschrieb, der sich als Ziel setzte, die Imitation der Natur zur verwirklichen: „Und der Film wurde aus dem Zusammenfließen ihrer [Fanatiker, Verrückte, Pioniere] Besessenheit geboren, das heißt aus einem Mythos, der Mythos vom totalen Film.“[13]

[...]


[1] Bazin, André: Ontologie des photographischen Bildes. In: Fischer, Robert (Hrsg.): Was ist Film. Berlin 2004. S. 33.

[2] Vgl. ebd. S. 34.

[3] Ebd. S. 35.

[4] Ebd. S. 34.

[5] Ebd. S. 36.

[6] Vgl. ebd. S. 36.

[7] Ebd. S. 39.

[8] Ebd.

[9] Bazin, André: Der Mythos vom totalen Film. In: Fischer, Robert (Hrsg.): Was ist Film? Berlin 2004. S. 43.

[10] Ebd. S. 44.

[11] Vgl. ebd. S. 45 f.

[12] Ebd. S. 47

[13] Ebd. S. 48

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Was ist Realismus?
Untertitel
Eine Annäherung an Bazins Verständnis von realistischer Darstellung im Film
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
2,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
18
Katalognummer
V148936
ISBN (eBook)
9783640717484
ISBN (Buch)
9783640717583
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
André Bazin, Realismus, Theorie Realismus, Bazin Film
Arbeit zitieren
Jennifer Koss (Autor:in), 2006, Was ist Realismus? , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148936

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