Kommunikationstheoretische Aspekte in der systemischen Aufstellungsarbeit

Eine Fallstudie zum Prozess der subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung und -konstruktion sowie deren nachhaltiger Veränderung beim Klienten mittels Familienaufstellung und Brettaufstellung


Diplomarbeit, 2007

138 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG
1.1. Untersuchungsgegenstand
1.2. Erkenntnisinteresse
1.3. Forschungsstand
1.4. Literaturrecherche
1.5. Aufbau der Arbeit

2. DEFINITIONEN
2.1. Familienaufstellung
2.1.1. Begriffsdefinition
2.1.2. Geschichtlicher Entwicklungshintergrund
2.1.3. Ablauf
2.2. Brettaufstellung
2.2.1. Begriffsdefinition
2.2.2. Geschichtlicher Entwicklungshintergrund
2.2.3. Ablauf

3 THEORETISCHER TEIL - KOMMUNIKATIONSTHEORETISCHE ASPEKTE
3.1. WIRKLICHKEIT ALS INTERSUBJEKTIVE ERZEUGUNG
3.1.1. Erfahrbare Konstruktion
3.1.2. KONSTRUKTION DURCH SPRACHE
3.1.3. EXTERNALISIERUNG VON SUBJEKTIVER WIRKLICHKEIT
3.2. Kommunikatives Handeln
3.2.1. Intersubjektiv anerkannter Geltungsanspruch
3.2.2. Bezug auf objektive und soziale Welt
3.2.3 Situationsrelevanz der Lebenswelt
3.3. kybernetische Sicht
3.4. Zusammenfassung

4. METHODENWAHL
4.1. TEILNEHMENDE BEOBACHTUNG
4.1.1. Setting der Familienaufstellungen
4.1.2. Setting der Brettaufstellung
4.2. Dokumentationsmaterial
4.3. Qualitative Interviews
4.3.1. Interviewsituation
4.3.2. Einverständniserklärung
4.3.3. Transkription

5. EMPIRISCHER TEIL / DATENGEWINNUNG
5.1. Teilnehmende Beobachtung
5.2. QUALITATIVE INTERVIEWS
5.3. Problematiken während der Untersuchung
5.3.1. Einbindung in Aufstellung/ Protokollverhinderung
5.3.2. Privatsphäre / Klientenschutz
5.3.3. Tiefe Traumata / Klientenprozess / Interview nicht zumutbar
5.4. Auswertung der Interviews
5.4.1. Datenmaterial
5.4.2. Festlegung des Materials
5.4.3. Analyse der Entstehungssituation
5.4.4. Formale Charakteristika des Materials
5.4.5. Forschungsrelevante Fragestellung der Analyse

6. AUSWERTUNG UND ERGEBNISSE
6.1. Inhaltsanalytische Auswertung der Familienaufstellungen
6.1.1. Interview Klientin E
6.1.2. Interview Klientin A
6.1.3. Interview Klientin S2
6.1.4. Ergebnisse der Klientinnen der Familienaufstellungen
6.2. Inhaltsanalytische Auswertung der Brettaufstellungen
6.2.1. Interview Klientin M
6.2.2. Interview Klientin S1
6.2.3. Interview Klientin I
6.2.4. Ergebnisse der Klientinnen der Brettaufstellungen
6.3. Gegenüberstellung Ergebnisse Familienaufstellung / Brett

7. Zusammenfassung und interpretation

8. Schlussbemerkung

9. ABBILDUNGSVERZEICHNIS

10. TABELLENVER7ETCHNIS

11. quellen- und Literaturverzeichnis

12 Anhang

Interviewleitfaden

Protokolle - teilnehmende Beobachtung
Klientin E - Familienaufstellung
Klientin A-Familienaufstellung
Klientin S2 - Familienaufstellung
Klientin M - Brettaufstellung
Klientin S1 - Brettaufstellung
Klientin I - Brettaufstellung

Einverständniserklärung

TRANSKRIPTE
Interview Klientin E Familienaufstellung
Interview Klientin A Familienaufstellung
Interview Klientin S2 Familienaufstellung
Interview Klientin M Brettaufstellung
Interview Klientin S1 Brettaufstellung
Interview Klientin I Brettaufstellung

1. Einleitung

Ein vertieftes Interesse an der nachhaltigen Wirkungsweise systemischer Aufstellungsarbeit und deren Phänomenologie an- und insich werden vonseiten der Verfasserin vorausgeschickt.

Eine vermehrte Auseinandersetzung im Zuge des Studiums der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit konstruktivistischen Anschauungen und Wirklichkeitskonstrukten in sozialen Systemen mündete zusätzlich in der Ausbildung zur Dipl. Lebens- und Sozialberaterin und führte schlussendlich zur Verknüpfung der Kommunikationswissenschaft mit der Aufstellungsarbeit, als Versuch dessen diese qualitativ angelegte Untersuchung zu verstehen ist.

1.1. Untersuchungsgegenstand

Den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit stellen systemische Aufstellungen und deren „in Gang getretener“ „innerer Kommunikationsprozess“ beim Klienten dar. Mittels teilnehmender Beobachtung wurden Familienaufstellungen und Aufstellungen am Brett (auch Brettaufstellung oder Aufstellungen mit dem Systembrett genannt) protokolliert. Jeweils ca. 3 Monate nach den Sitzungen in denen mit dem Klienten am Brett gearbeitet wurde, sowie nach erfolgten Beobachtungen an den Familienaufstellungen der Klienten (mittels Darstellern/Personen) folgten Interviews mit ebendiesen. Gesamt umfasst die Untersuchung 6 Interviews, jeweils mit 3 Klientinnen, die zuvor eine Familienaufstellung gemacht haben und jeweils mit 3 Klientinnen, die zuvor in einer Beratungseinheit (Einzelstunde) mit dem Systembrett gearbeitet haben. Untersucht wurde die innerpersonale Kommunikation der Klienten, deren Prozess einer veränderten Wirklichkeitswahrnehmung und eine durch die Aufstellungsarbeit erwirkte „neue“ Perspektive der inneren Realität des Klienten bzw. nachhaltige Veränderungen im Leben des Klienten durch Veränderung seiner inneren Haltung.

1.2. Erkenntnisinteresse

Das Forschungsinteresse der Verfasserin wurzelt in der veränderten Wirklichkeitswahrnehmung der Klienten und der, durch die Aufstellung erwirkten veränderten Wahrnehmung (Perspektivenwechsel) des „inneren Bildes“, der Familienthematik, oder eben des geschilderten Anliegens des Klienten bzw. in den nachhaltigen Veränderungen seines Lebens. Anfangs hatte die Autorin vor, sich ausschließlich auf den Akt des jeweiligen Sprechens der Lösungssätze, welche vom Klienten - angeleitet durch den Aufstellungsleiter - während der Familienaufstellung gesprochen werden, zu konzentrieren und in den darauf folgenden Wochen mit den Klienten Interviews, dessen Fokus ausschließlich auf dem Sprechen dieser besagten Lösungssätze liegen sollte, zu führen, um so den inneren Prozess des Klienten zu orten und die Wirkung des Sprechens der Lösungssätze näher zu beleuchten und der Methode der Brettaufstellung gegenüberzustellen.

Im Zuge der laufenden Untersuchung wandelte sich das ursprüngliche Forschungsinteresse am „Sprechakt“ und führte zu einem spezifischeren Interesse am innerpersonalen Kommunikations- und Erlebensprozess, sowie der Veränderung der Wirklichkeitswahrnehmung des Klienten und den daraus resultierenden Veränderungen in seinem Leben, ausgelöst durch die therapeutischen Instrumentarien Familienaufstellung und Brettaufstellung.

Das Hauptaugenmerk dieser empirischen Untersuchung liegt somit auf dem inneren Kommunikationsprozess und dem subjektiven Erleben des Klienten, seiner veränderten Problemperspektive bzw. den Veränderungen in seinem Leben nach Aufstellungsarbeit und nicht ausschließlich auf dem Fokus des Sprechaktes der Lösungssätze in der Aufstellungsarbeit. Es wird versucht, diesem stattfindenden Perspektivenwechsel, welcher entweder durch eine Familienaufstellung oder durch eine Klientensitzung in Form einer Aufstellung am Systembrett, erfolgt, etwas auf den Grund zu gehen. Dieser Prozess der Wahrnehmung „seiner“ Wirklichkeit (Klientenwirklichkeit) und die durch die Aufstellungsarbeit stattfindende Veränderung des inneren Bildes des Klienten (innere Landkarte) wurden anhand zeitversetzter Interviews (ca. 3 Monate nach der Aufstellung) mit den jeweiligen Probanden dokumentiert und qualitativ ausgewertet.

Das Forschungsinteresse am Sprechakt der Lösungssätze stellt zwar nach wie vor ebenfalls Teil dieser Untersuchung dar, allerdings nur in einem Teilaspekte, nämlich dem, in welcher Form bzw. ob sie dem Klienten in abrufbarer Erinnerung geblieben sind.

1.3. Forschungsstand

Im Zuge der Literaturrecherche auf der Suche nach wissenschaftlich fundierten Arbeiten zur Phänomenologie des „Familienstellens“ fand sich auf dem Gebiet der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft eine Dissertation[1] über systemische Aufstellungsarbeit. Hier ist anzumerken, dass Selinger die Phänomenologie der systemischen Aufstellungsarbeit wissenschaftlich beleuchtet und in seiner Argumentation unter anderem mit wahrnehmungspsychologischen Ansätzen argumentiert.

Die Autorin dieser Diplomarbeit ist in ihrer Untersuchung empirisch vorgegangen und stützt sich in theoretischen Aspekten in keinerlei Weise auf die Phänomenologie der systemischen Aufstellungsarbeit - welche hier gar nicht beleuchtet werden soll - sondern legt den Schwerpunkt auf eine Verknüpfung kommunikationstheoretischer Aspekte mit dem inneren Kommunikationsprozess des Klienten während des Prozesses der Aufstellung bzw. dessen nachhaltiger Wirkung.

1.4. Literaturrecherche

Die Literaturrecherche zur Thematik dieser wissenschaftlichen Arbeit gestaltete sich umfangreich. Aus diesem Grund entschied sich die Verfasserin, grundsätzlich weiterführende Literatur, die zwar explizit in dieser Diplomarbeit nicht zitiert worden ist, jedoch an das Untersuchungsthema herangeführt bzw. das Forschungsinteresse geleitet hat und der Autorin im Gesamtkontext während der Erstellung dieser Arbeit einen weiteren Blickwinkel lieferte, eigens im Quellen- und Literaturverzeichnis als „weiterführende Literatur“ zu listen.

1.5. Aufbau der Arbeit

Folgende Arbeit gliedert sich in Kapitel 2 in einen anfänglichen Definitionsteil, welcher die Arbeits- und Vorgehensweisen, den Ablauf einer Familienaufstellung sowie einer Aufstellung am Systembrett erläutert und die Begriffsabgrenzung zu Psychodrama und Familienrekonstruktion zieht, sowie einen kurzen geschichtlichen Abriss beider Methoden liefert.

Der theoretische Teil umfasst Kapitel 3 und zieht als wissenschaftlichen Zugang zum Prozess der Wirklichkeitsveränderung des Klienten, bzw. dessen veränderter Wahrnehmung und dessen Perspektivenwechsel konstruktivistische Aspekte heran, beleuchtet mittels Habermas'scher Theorie des kommunikativen Handelns und bedient sich theoretischer Aspekte des kybernetischen Zugangs, um einen Versuch der Verknüpfung der Elemente systemische Aufstellungsarbeit und kommunikationstheoretische Aspekten erfolgen zu lassen.

Kapitel 4 ist der Methodenwahl dieses Untersuchungsdesigns gewidmet, welche einerseits teilnehmende Beobachtungen und andererseits qualitative Interviews, bildeten.

Wie die Daten erhoben worden sind bzw. welche Probleme sich in der Datengewinnung ergaben, sowie die Methodik der Auswertung mittels qualitativer Inhaltsanalyse werden in Kapitel 5 angeführt.

Die inhaltsanalytische Auswertung und die daraus resultierenden Ergebnisse der Untersuchung werden in Kapitel 6 präsentiert. Dieses Kapitel umfasst die qualitative Auswertung der Interviews beider Methoden (Familienaufstellung, Brettaufstellung) und eine Gegenüberstellung beider Ergebnisse.

In der Zusammenfassung in Kapitel 7 erfolgt die Interpretation der Ergebnisse sowie ein Ausblick auf weitere forschungsrelevante und -interessante sozialwissenschaftliche Fragen.

Der Interviewleitfaden, eine Kurzfassung der jeweiligen Protokolle[2] aus der teilnehmenden Beobachtung der Familienaufstellungen und der Brettaufstellungen, sowie die Vorlage des Einverständniserklärungsformulars und die vollständig transkribierten Klienten-Interviews sind im Anhang angefügt.

„Die Lösung des Problems merkt man an seinem Verschwinden.“

Ludwig Wittgenstein (1889-1951)

2. Definitionen

2.1. Familienaufstellung

2.1.1. Begriffsdefinition

Die Familienaufstellung[3] oder auch das Familienstellen genannt, ist die bekannteste Form der so genannten Systemaufstellung der systemischen Familientherapie, auch Systemische Therapie. Diese auf verschiedenen Ansätzen basierende Methode der Systemaufstellung ist ein von Bert Hellinger abgewandeltes Verfahren. Bei der Skulptur (Familientherapie), der Organisationsaufstellung und der Strukturaufstellung handelt es sich um verwandte Formen.

2.1.2. Geschichtlicher Entwicklungshintergrund

Die Aufstellungsarbeit entwickelte sich aus dem Psychodrama und der Familienrekonstruktion weiter und kann nach König[4] in drei Punkten beschrieben werden:

1. Sie formuliert sowohl eine Gegenstandstheorie, d.h. eine Theorie der Familie, als auch eine spezifische Vorgehensweise, und beides ist eng aufeinander bezogen.
2. Eine Aufstellung verlebendigt nicht nur das innere Bild eines Protagonisten, sondern in ihr wird zugleich eine Systemebene sichtbar, die über das Wissen des Protagonisten hinausgeht.
3. Und als Drittes nutzt sie den Kontext einer Gruppe in besonderer Art.

Festzuhalten ist, dass sich die Aufstellungsarbeit gegenüber dem Psychodrama[5] durch ihre konturierte Vorstellung von Familie ausweist.

Von der Familientherapie wiederum hebt sich gerade hier der Arbeitskontext Gruppe ab. Die Gruppe stellt den Resonanzboden, über den die Annahmen über basale familiale Strukturen verlebendigt werden, dar.

Die relative Kargheit der Aufstellungsarbeit gegenüber dem Psychodrama und der Familienrekonstruktion erwächst dabei aus dem Versuch, die „Oberflächenstruktur“ unser alltäglichen Annahmen und normativen Verschreibungen über Familie zu durchdringen, um an das dahinter angesiedelte implizite „Wissen“ eines jeden über diese Strukturen anzuschließen. Die Aufstellung nutzt dabei nicht so sehr unsere Fähigkeiten zur Identifikation, auch wenn diese eine Rolle spielen, sondern die Metaphorik des Raumes. In den Aufstellungen werden Beziehungen und dahinter wirkende Strukturen von den Repräsentanten körperlich symbolisiert wahrgenommen und gefühlt, und zwar nicht als Einzelbeziehungen, sondern in ihrer Einbettung im Feld der gesamten dargestellten familiären Konstellation. Die Teilnehmer greifen dabei zurück auf eine universelle Grammatik von Wahrnehmungen und Gefühlen, über die sich die räumlich symbolisierten Beziehungen erschließen.

Vor allem das Psychodrama, aber auch die Familienrekonstruktion überlassen in hohem Maße der Spontaneität des Protagonisten das Feld. In der Aufstellungsarbeit wird die Arbeit hingegen deutlicher gerahmt und auf die zentralen familiären Strukturen und Prozesse bezogen. Nicht der Protagonist führt die Veränderung durch, sondern die von ihm gestellten Repräsentanten seiner Familie erarbeiten sie. Der Aufstellungsleiter führt und begleitet diese Veränderung vor dem Hintergrund einerseits seines Wissens über familiäre Strukturen, andererseits aus den Wahrnehmungen und Rückmeldungen der Stellvertreter. Der Protagonist tritt dann in eine in ihrer Struktur veränderte Aufstellung hinein, und erst jetzt erfolgt die Arbeit an und mit den Gefühlen und Wahrnehmungen des Klienten.

In dieser Trennung der Arbeit an Strukturen im Stellvertretersystem einerseits und der Arbeit an den emotionalen Prozessen und Stellungnahmen des Protagonisten innerhalb und gegenüber den Beziehungen in diesen Strukturen andererseits liegt die wesentliche konzeptionelle Grundidee und Weiterentwicklung der Aufstellungsarbeit gegenüber ihren Vorläufern.

Die Aufstellungsarbeit[6] geht davon aus, dass die Arbeit mit Stellvertretersystemen die Strukturen und Dynamik der dargestellten familiären Realgruppe hinreichend gut abzubilden vermag. Zugleich liegt die Unterscheidung zwischen Darstellung und Dargestelltem, zwischen Bild und Abbild, zwischen Stellvertretergruppe und der dargestellten Familie dem ganzen Ansatz zugrunde. Diese Unterscheidung zurückzunehmen und anzunehmen, in einer Aufstellung käme die dargestellte

Familie naturalistisch zum Ausdruck, wie das manche Vertreter des Ansatzes glauben, negiert geradezu die Arbeitsgrundlage, aus der heraus die Aufstellungsarbeit ihre Kraft entwickelt. Gäbe es diesen Unterschied nicht, dann könnte der Aufstellungsleiter überhaupt nicht in der Art, wie dies in der Aufstellungsarbeit geschieht, in das System eingreifen. Das Abbild besitzt eben nicht die gleichen Beharrungskräfte wie das Abgebildete.

Darin liegt auch der zentrale Unterschied zum familientherapeutischen Einsatz von Skulpturen. In einer Familie, die therapeutische Hilfe sucht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit jedes Familienmitglied sein eigenes Bild der Familie haben. In einer Aufstellung könnte dieses Bild dann sofort von den anderen Familienmitgliedern mit ihren eigenen inneren Bildern verglichen werden. Das Veränderungspotenzial entsteht nicht zuletzt aus diesem Kennenlernen der gegenseitigen Bilder und ihrem Abgleich. In den individuellen Stellungnahmen drücken sich nicht nur die unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven der einzelnen Familienmitglieder aus, sondern auch ihre jeweilige Bereitschaft und Fähigkeit, die Struktureigenschaften familiärer Beziehungen und die jeweiligen Entwicklungsaufgaben, die sich aus ihnen ergeben, wahrzunehmen und anzuerkennen. Genauso wie der Therapeut verfügen auch die Familienmitglieder über ein „Wissen“ darüber, wie sich Strukturen und Beziehungen in der Metaphorik des Raums zeigen und mit welchen Bildern sich bestimmte Problemlagen verbinden. Und selbst wenn sie einzeln aus dem Bild heraustreten, um eine Außenperspektive einzunehmen, so geschieht dies immer im Kontext der realen Familie. Die Arbeit mit der Stellvertretergruppe bietet hier, gerade aufgrund des Unterschiedes zwischen Bild und Abbild, ein größeres Veränderungspotenzial für den einzelnen Protagonisten.

Im Gegensatz zur Rekonstruktionsarbeit, die sich stärker auf der Verhaltens- und Erlebensebene bewegt, richtet sich die Aufstellungsarbeit auf basale familiäre Strukturen und deren Dynamik aus.

Die Unterschiede zwischen Familienrekonstruktion und Aufstellungsarbeit sind allerdings geringer zu nehmen als die Unterschiede zwischen den verschiedenen Vertretern der jeweiligen Ansätze, die sich aus ihrem persönlichen Stil ergeben.[7] So ist von Kollegen bekannt, dass sie mit Fragebögen zum Familienstammbaum arbeiten, die im Vorfeld der Arbeit an die Teilnehmer gehen. Zwei Unterschiede sind relevant, der eine mehr praktischer, der andere mehr konzeptioneller Art[8]: Die Rekonstruktionsarbeit bewegt sich stärker auf der Verhaltens- und Erlebensebene, während die Aufstellungsarbeit auf basale familiäre Strukturen und Dynamiken ausgerichtet ist. Beide Arbeitsformen repräsentieren eine Art Kurzzeittherapie in der Gruppe, durch ihre Orientierung an diesen basalen Strukturen wird aber die Aufstellungsarbeit deutlich zu einer Fokaltherapie, die nicht auf eine vollständige Erfassung einer Familiengeschichte, sondern auf eine Veränderung der persönlichen Stellungnahme gegenüber dieser basalen Struktur und dem familiären Fokalkonflikt ausgerichtet ist. Darin liegt die Stärke der Aufstellungsarbeit.[9]

2.1.3. Ablauf

„Wer aufstellt, wählt aus der Gruppe Repräsentanten für Familienmitglieder, Kollegen, Symptome ect. und gibt ihnen, gesammelt und spontan, einen Platz im Raum. Aus der Anordnung der gestellten Konstellation und durch die verbale und nonverbale Mitteilung der Repräsentanten erkennt der Gruppenleiter im Problembild die unbewusste, von den Vorfahren kommende Schicksalsübertragung oder eigene, noch ungelöste Lebensthemen. Heilung gelingt durch das Anerkennen und Richtigstellen von Bindung, Ordnung, Ausgleich im System und durch die Tiefenprozessarbeit, welche eine früh unterbrochene Bewegung der Seele zu Ende führt und ankommen lässt. Das so gefundene Lösungsbild wird ins Herz genommen. Es wirkt und verändert unsere Bezüge im Alltag. “[10]

Die Familienaufstellung findet unter der Leitung eines ausgebildeten Aufstellungsleiters in einer Gruppe von mehreren Personen statt. Der Aufstellungsleiter klärt vorab in einem Vorgespräch mit dem Klienten die familiären Hintergründe, den Stammbaum bzw. Wissenswertes aus der Familiengeschichte und erfragt das Anliegen des Klienten, im Fachterminus auch „das Thema“ genannt, um weiteres mit dem Klienten gemeinsam eine Zielformulierung (=für den Klienten stimmiges positiv formuliertes Ziel) zu formulieren. Im Setting de Aufstellung wählt der Aufstellende unter den anderen Teilnehmern Stellvertreter für sein Familiensystem. Diese werden dann von ihm intuitiv im Raum platziert. Hier beginnt das System bereits zu wirken, bzw. zu arbeiten und die jeweiligen Repräsentanten werden vonseiten des Aufstellungsleiters auf ihre Empfindungen, Gefühle, Körpereindrücke und -symptome hin befragt. Die gestellten Personen schildern ihre Wahrnehmungen. Diverse Verstrickungen oder Verschiebungen mit den Vorfahren und Verwandten werden für den Aufstellungsleiter sichtbar.

„Sind alle wesentlichen Personen aufgestellt, beginnt das große Phänomen des wissenden Feldes. Es können sich immer mehr Personen in das Geschehen einreihen. Aus unerklärlichen Gründen, haben die Stellvertreter, die noch nie einen Bezug zum Klienten und den Personen hatten für die sie stehen, Zugang zu den Gefühlen der einzelnen, aufgestellten Familienmitglieder. Je nach ihrem Standort, ihrer Blickrichtung, verspüren die Stellvertreter sehr heftige Emotionen (Traurigkeit, Wut, Hass, u.a.) und körperliche Wahrnehmungen. Der Therapeut befragt die Stellvertreter nach ihren Gefühlen und Wahrnehmungen. So macht er sich ein Bild von der in der Familie herrschenden, seelischen Dynamik und den möglichen Verstrickungen.

Ziel der folgenden Schritte einer Aufstellung ist es, eine für den Klienten befreiende Lösung seiner übernommenen Gefühle und Verstrickungen zu finden.

Um diese Lösung zu erreichen sind, unter Anwendung der genannten Grundprinzipien, ritualisierte Lösungssätze und Achtung zeugende Verbeugungen, notwendig. Diese einfachen und oft sehr pathetisch klingenden Sätze, werden vom Therapeuten, der Situation und dem Gefühlszustand entsprechend, vorgegeben und von den Stellvertretern an eine Person gerichtet nachgesprochen."[11]

Dem Klienten, der gegen Ende der Aufstellung seinen Platz, den bis dato ein Repräsentant der Gruppe innehatte einnimmt, wird mit Begleitung des Aufstellungsleiters ein erleichternde und lösende Haltung, sowie Position ermöglicht. Die Größe der Gruppe setzt sich aus 12-20 Teilnehmern oder mehr zusammen. Eine Aufstellung kann zwischen 30 Minuten und bis zu 1,5 Stunden dauern.

„Die Tiefenwirkung von Aufstellungen zeigt sich im Nachhall dieses Ereignisses und den dadurch in Fluss gekommenen Bewegungen der Seele. Ohne aktiv etwas zu tun, öffnen sich in der Folgezeit weitere innere Tore, entstehen neue Sichtweisen oder Erkenntnisse und verändern nachhaltig das eigene Leben und die zwischenmenschlichen Beziehungen zum Guten.“[12]

2.2. Brettaufstellung

2.2.1. Begriffsdefinition

Das Systembrett[13] hat seinen Ursprung in der systemischen Familientherapie, wo es als „Familienbrett“ oder „Beziehungsbrett“ bekannt geworden ist. Es dient dazu neben intrapsychischen auch kontextabhängige Einflüsse für den Beratungsprozess nutzbar zu machen.

Die Figuren (rund, eckig) werden auf einem Holzbrett aufgestellt. Der Klient verleiht - unter Anleitung des Beraters - den beteiligten Figuren (s)eine Stimme. Durch dieses „Hineinversetzen“ wird er in hohem Maße für die unterschiedlichen Sichtweisen und Gefühlswelten der aufgestellten Personen sensibilisiert.

Die großen Figuren werden meist als Erwachsene genutzt und oder auch als besondere Qualität des Klienten und die kleinen als Kinder bzw. für besondere Ressourcen des Klienten.

Grundsätzlich werden die runden Figuren als weibliche und die quadratischen als männliche Personen genutzt.

2.2.2. Geschichtlicher Entwicklungshintergrund

Kurt Ludewig und Ulrich Wilken, beide Spezialisten für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Hamburg experimentierten im wissenschaftlichen Rahmen mit dem „Familienbretf[14].

Die Grundidee stammt aus den USA. David Kanto und das Ehepaar Bunny und Fred Duhl entwickelten Ende der 1960er Jahre die Familienskulptur - als für Familiensysteme konzipierte Weiterentwicklung von Psychodrama-Techniken. Den Ausgangspunkt bildete die Untersuchung menschlicher Erkenntnisprozesse in unterschiedlichen Bahnen.

Schweitzer und Weber, Heidelberger Systemtherapeuten erklären den Nutzen dieses Therapie-Verfahrens folgendermaßen: „linkshemisphärisch“, d.h. unter vorwiegender Aktivierung der linksseitigen Hirnregion. Sie meinen, dass sprachlich-logisches Denken, das die Wirklichkeit in ihre Bestandteile zerlegt, diese wiederum mit sprachlichen Etiketten belegt und dann nach den Regeln der Satzbildung und Grammatik wieder zusammenfügt.

Ein Denken in Ursache-Wirkungsketten, welches in der christlich-abendländischen Philosophie und theologischen Diskussion über eine jahrhundertealte Tradition verfügt.

Dieses Denken im Ursache-Wirkungsprinzip bildet auch heute noch das Grundgerüst unseres Lern- und Schulsystems. Bei dieser Logik-Lastigkeit wird „das rechtshemisphärische Denken“, das sich „in ganzheitlichen Bildern und Metaphern auf einer eher intuitiven Ebene, ohne dass die Elemente dieser Bilder in Einzelteile und Ursache-Wirkungsketten aufgeteilt werden“ vollzieht, vernachlässigt.

Das „rechte“, nicht lineare Denken in Bildern von parallel ablaufenden Prozessen, die sich wechselseitig beeinflussen und bedingen, ist Kennzeichen von kreisförmigen, so genannten zirkulären Wahrnehmungstendenzen und fußt nicht so sehr auf analytischen, sprachlich-logischen (digitalen) Erkenntnisbausteinen, sondern auf visuellen und kinästhetischen[15] Informationen, die sich zum Bild einer inneren Landkarte der Familie fügen und analog (in Metaphern) kommuniziert werden. Analoges, zirkuläres Denken bildet die Grundlage zahlreicher östlicher Erkenntnisphilosophien.

Duhl und Kantors Entdeckung[16] erweiterte die bislang analytische Form digitalisierter Erkenntnisprozesse in der psychotherapeutischen Arbeit um die mehrdimensionale Familienskulptur, welche analoge Selbst-Wahrnehmungskanäle nutzbar macht.

Für die Familienskulptur wird ein Familienmitglied gebeten, den „Bildhauer‘ zu spielen. Alle anwesenden Familienmitglieder werden so aufgestellt, dass der räumliche Abstand, die zwischen ihnen bestehende emotionale Nähe bzw. Entfernung zueinander abgebildet wird. Die Reihenfolge wird vom Aufstellenden selbst gewählt.

Der Klient kann Haltung, Mimik, Sitzposition etc. korrigieren und zum Schluss seinen eigenen Platz einnehmen. Schlussendlich erfolgt die Aufforderung an alle Beteiligten, ihre gemachten Erfahrungen, Erkenntnisse auszutauschen.

Die Eigen- und Handlungsbeteiligung der Klienten wird gerade dadurch gefördert, indem diese ihre Skulpturen eigenhändig aufbauen und allfällige Neuordnungswünsche selbst formulieren. Auftauchende Veränderungsvorschläge können sofort modelliert und als Lösungsszenario auf ihre Wirkung und Auswirkung hin überprüft werden. Die therapeutische Praxis hat gezeigt, dass die Anwendung der Skulpturarbeit auch die Gefahr von Emotionsexplosionen oder - implosionen.

Ludewig und Wilken[17] experimentierten im geschützten Bereich einer jugendpsychiatrischen Station mit gefühlssanfteren Techniken. Sie griffen dafür auf formale Vorerfahrungen des Sceno-Tests zurück. Dieser Test wurde 1939 aus dem therapeutischen Puppenspiel kreiert und zählt zu den ältesten, projektiven Testverfahren zur Erforschung unbewusster kindlicher Ängste und Wünsche. Ludewig und Wilken nutzten die Strukturelemente dieses Test und entwickelten daraus ein einfaches, handhabbares Instrumentarium zur Erkennung und Veränderung von Beziehungskonstellationen für die Klienten selbst, ohne einen Anspruch auf objektivierbare therapeutische Wahrheiten zu stellen.

Dies gestaltet sich in der praktischen Anwendung eines 50x50cm messbaren Holzbrettes, auf dem Holzfiguren aufgestellt werden, die unterschiedliche Familienmitglieder symbolisieren.

Der Begriff Systembrett bildete sich, da die Brett-Arbeit den ausschließlichen Anwendungskontext in der Familientherapie verlassen hat und Anwendung in verschiedensten Beratungskontexten wie z.B. dem Coaching, der Lebens- und Sozialberatung, der Unternehmensberatung, der Supervision, der Mediation etc. gefunden hat.

Folgende Grafik[18] veranschaulicht die Herkunft des Systembretts:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 Herkunft des Systembretts

[...]


[1] SELINGER, Martin : Systemische Aufstellungen: Eine kommunikationswissenschaftliche Untersuchung, Universität Wien, Dissertation, 2003.

[2] Diese Protokolle wurden anonymisiert und stark gekürzt und umfassen die Darstellung des Anliegens des Klienten, den Wunsch - das Ziel - und eine Nennung und Aufzählung der „aufgestellten“ Personen bzw. Figuren aus dem jeweiligen Familiensystem.

[3] Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Familienaufstellunq [Stand: 10.10.2007]

[4] KÖNIG, Oliver (2004): Familienwelten: Theorie und Praxis von Familienaufstellungen, Stuttgart, S. 146-149.

[5] Vgl. ebenda.

[6] Vgl. ebenda.

[7] KÖNIG (2004), S. 148.

[8] Vgl. ebenda

[9] Vgl. ebenda, S. 149.

[10] Quelle: http://www.wildner.at/meinweg.html “Was passiert beim Aufstellen?” [Stand: 11.11.2007]

[11] Quelle: http://www.feninger.eu/ablauf.html [Stand: 21.11.2007]

[12] Quelle: ebenda.

[13] Vgl. http://www.das-systembrett.de/Info/info.html [Stand: 10.11.2007]

[14] Vgl. POLT/RIMSER (2006), S.7-10.

[15] Kinästhetisch bezieht sich auf Körper-Eindrücke, Körper-Sensationen, Körper­Empfindungen, Gefühle, innere körperliche Zustände.

Quelle: http://www.nlp.at/lexikon neu/show.php?input=122 [Stand: 12.09.2007]

[16] Vgl. POLT/RIMSER (2006), S.7-10.

[17] Vgl. ebenda.

[18] Abbildung. POLT/RIMSER (2006), S.9.

Ende der Leseprobe aus 138 Seiten

Details

Titel
Kommunikationstheoretische Aspekte in der systemischen Aufstellungsarbeit
Untertitel
Eine Fallstudie zum Prozess der subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung und -konstruktion sowie deren nachhaltiger Veränderung beim Klienten mittels Familienaufstellung und Brettaufstellung
Hochschule
Universität Wien  (Publizistik- und Kommunikationswissenschaft)
Note
2
Autor
Jahr
2007
Seiten
138
Katalognummer
V149180
ISBN (eBook)
9783640599219
ISBN (Buch)
9783640598854
Dateigröße
1960 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
systemische Aufstellungsarbeit, Konstruktivismus, Wirklichkeitswahrnehmung, Wirklichkeitsveränderung, systemisches Coaching, systemische Beratung, Familienaufstellung, Brettaufstellung, Fallstudie, Interpersonale Kommunikation
Arbeit zitieren
Mag. Katharina Stefanic (Autor:in), 2007, Kommunikationstheoretische Aspekte in der systemischen Aufstellungsarbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149180

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