Wachsende soziale Ungleichheit, Kinderarmut, Exklusion und Stigmatisierung großer Bevölkerungsteile („neue Unterschicht”, „abgehängtes Prekariat”), sowie die Vereinseitigung
von Mentalitäten („Ellenbogengesellschaft”, „Konsumzwang”) - diese und weitere ähnlich gelagerte Phänomene werden oftmals als Folgen einer „neoliberalen” Politik kritisiert.
In der hier vorliegenden Magister- und Staatsexamensarbeit geht es darum herauszuarbeiten, wie es möglich ist, dass eine solche Politik ungeachtet mehrfacher Regierungswechsel über Jahre hinweg erfolgreich war und weiterhin ist: Welche Macht vermag dieses?
Offensichtlich ist es - unter den Bedingungen unserer liberalen Demokratie - nicht ausreichend mit dem Finger auf die politischen, wirtschaftlichen und moralischen Eliten zu zeigen, weil diese
sich (vermeintlich oder tatsächlich) nur an ihren Eigeninteressen orientieren.
Die Frage fällt vielmehr auf uns alle zurück: In welcher Weise formt eine solche Politik uns, und in welcher Weise formen wir diese Politik, aber auch unsere Mitmenschen und uns selbst?
Eine solche umfassendere Perspektive, die zugleich die Makro- und die „Mikrostrukturen der Macht” im Auge hat, bietet der theoretische Ansatz von Michel Foucault und von verschiedenen Vertretern der „Gouvernementalitätsstudien”, die Foucaults Ansatz weiterentwickeln.
Aus dieser Perspektive formuliert der Autor Antworten auf die Frage nach den Gründen für die andauernde Dominanz dieser neoliberalen Politik - und mithin: Antworten auf die Frage nach ihrer Funktionsweise. Dies nimmt den größten Teil der vorliegenden Arbeit ein (Kapitel C und E).
Anschließend (Kapitel F) geht es darum, das in letzter Zeit häufig diskutierte Konzept eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) vor diesem Hintergrund zu beleuchten:
Könnte es sich bei dem BGE um einen Weg handeln, die Dominanz der neoliberalen Politik zu mildern? Welche Risiken wären mit einem solchen Weg verbunden?
Inhaltsverzeichnis
Kapitel A Einleitung
1. Hinführung: Allgemeiner Kontext, theoretischer Rahmen und erkenntnisleitende Fragen
2. Entwicklung und Diskussionstand der Gouvernementalitätsstudien
3. Agenda: Aufbau der Arbeit und weitere Vorhaben
Kapitel B Foucaults Analyse der Macht: Grundlagen
1. Theorie als Werkzeugkiste - Ein Zugang zu Foucaults Analyse der Macht
2. „Macht” und „Herrschaft” bei Foucault
3. Macht und Subjektivierung: Selbst- und Fremdführungstechniken
4. Wissen und Wahrheit, Diskurse und Rationalitäten
5. Mikro- und Makrostrukturen: Fokus und Methode
6. Restriktive oder produktive Macht?
Kapitel C Das Gouvernementalitätskonzept und Foucaults Analyse des Neoliberalismus
1. Regierung: die ökonomische Kunst der Menschenführung
2. Drei zentrale Techniken der Macht
2.1 Die Sanktionierung des Individuums mittels Recht
2.2 Die Konditionierung und Integration des Individuums durch Disziplinierung
2.3 Die Regulierung der Bevölkerung mihilfe von Sicherheitsdispositiven
3. Das Gouvernementalitätskonzept: Regieren über Sicherheitsdispositive
4. Die Erfindung der Bio-Macht
5. Foucaults Analyse des (Neo)Liberalismus
5.1 Klassischer Liberalismus: Veridiktion des Marktes und Laissez-faire
5.2 Neoliberalismus I: Ordoliberalismus
5.3 Neoliberalismus II: Chicagoer Schule
5.4 Die Aporie (Neo-)Liberaler Souveränität
5.5 Das Paradox des Liberalen Paternalismus: Die Produktionskosten der Freiheit und die utilitaristischen Interventionen
Kapitel D Schwelle : Kritik warum, Freiheit wozu?
Kapitel E Der Januskopf der Bio-Macht: Gouvernementalitätsstudien über ambivalente Praktiken in der neoliberalen Demokratie
1. Quellen der Beunruhigung
1.1 Die Hegemonie der ökonomischen Rationalität
1.2 Die harmonistische Fiktion gleichgerichteter Interessen
1.3 Untiefen neoliberaler Souveränität
2. Ambivalente Praktiken: Demokratisierung von Macht oder Intensivierung von Herrschaft?
2.1 Erster Kreis - die Fragmentierung des Raumes: Communities statt Kommune und Nationalstaat
2.2 Zweiter Kreis - die Fragmentierung der Gruppe: Der Unternehmer seiner selbst
2.2.1 Persönlichkeitsentwicklung, Sinngebung und das neoliberale Gebot des Selbstseins
2.2.2 Individualisierung von Verantwortung, Privatisierung von Risiken: die Apologie sozialer Ungleichheit
2.3 Dritter Kreis - die Fragmentierung des Körpers: Die Verantwortlichkeit der Gene
2.4 Perspektivwechsel - die Fragmentierung der Bevölkerung: Neoliberale Souveränität durch ökonomischen Rassismus
3. Die Essenz neoliberaler Regierungstechniken: Intensives Regieren über verengte und hergestellte Freiheit
Kapitel F Das Konzept eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) vor dem Hintergrund von neoliberaler Gouvernementalität und Biopolitik
1. Einführung in das Konzept eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE)
1.1 Grundlegendes zum Grundeinkommen
1.2 Das BGE in der Diskussion: liberale und libertäre Positionen
2. Bewertung des libertären BGE vor dem Hintergrund von neoliberaler Gouvernementalität und Biopolitik
2.1 Vorüberlegungen
2.2 Autonomie und Freiheit des Subjekts: Das libertäre BGE und die Konditionierung zum homo oeconomicus
2.3 Die Exklusionsproblematik aus der Perspektive der von Exklusion Betroffenen
2.4 Die Exklusionsproblematik aus der Perspektive der staatlichen Souveränität
3. Ergebnisse
Kapitel G Schluss: Rückblick und Ausblick
Literaturverzeichnis
1. Schriften, Vorträge und Interviews von und mit Michel Foucault (MF)
2. Schriften anderer Autoren
Anhang
1. Nachweis Internetquelle (Blaschke 2005)
Kapitel A Einleitung
1. Hinführung: Allgemeiner Kontext, theoretischer Rahmen und erkenntnisleitende Fragen
Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit sind gewisse zeitgenössische Verwerfungen in den Lebenswelten der Menschen und in der gesellschaftlichen Verteilung von Reichtum und Teilhabechancen, welche nicht nur in aktuellen politikwissenschaftlichen und soziologischen, sondern ebenso in massenmedialen und politischen Debatten immer wieder diagnostiziert und häufig als Folgen ‹neoliberaler›1,2 Politik kritisiert werden. Schlagwörter in diesem Kontext sind: ‹wachsende Einkommens3 - und Vermögensungleichheit4 und neue Armut›, ‹zunehmende Exklusion und neue Unterschicht›, ‹Privatisierung von Vermögen sowie Sozialisierung von Schulden›, ‹Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen›, ‹Abstiegsangst der Mittelschicht›, ‹Leistungsdruck›, ‹Konsumzwang›, ‹Ellenbogengesellschaft› und ‹Abnahme oder Verarmung sozialer Bindungen›.
Die geographische und kulturelle Perspektive wird in dieser Arbeit aus Opportunitätsgründen auf die BRD beschränkt bleiben müssen.
Die Debatte um die genannten Verwerfungen wird hierzulande wiederkehrend seit vielen Jahren geführt, ohne dass diese relativiert werden würden - eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Auch die maßgeblichen politischen Parteien reagieren nicht mit einer Neuausrichtung ihrer Programmatiken.5
Die erste Frage, die meine Untersuchung leitet, kann daher wie folgt umrissen werden: ‹Woran liegt es, dass in einem (formell) freien und demokratisch regierten Land wie der BRD Tatbestände, welche zweifellos von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung als Missstände identifiziert werden, nicht behoben sondern ‹freiwillig› reproduziert und verstärkt werden? (sowohl durch die Entscheidungen bei der Wahl der politischen Vertreter_Innen6 als auch durch das alltägliche Verhalten aller Menschen in ihrem jeweiligen Nahfeld).›
Die in der Frage implizite Vorannahme bei meinen Überlegungen ist also, dass sich eine Kritik an gesellschaftlichen Zuständen unter den Bedingungen einer liberalen Demokratie nicht auf den Vorwurf einer schlechten, lobbyistischen, von Partikularinteressen geleiteten Herrschaft beschränken darf, welcher den politischen Repräsentant_Innen und wirtschaftlichen oder moralischen Eliten gegenüber erhoben werden könnte. Dies ist aber genau die Position, welche den meisten zeitgenössischen Kritiken neoliberaler Politik implizit ist7, wenn sie etwa den Neoliberalismus ausschließlich 8 als ein „interessengeleitetes, manipulatives, ‹falsches Wissen›” attackieren (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004:19) und die Verwerfungen als Resultat einer „ Rück bildung des Staates”9 auf Kosten einer Ausweitung der ökonomischen Sphäre interpretieren.
Demgegenüber soll in dieser Arbeit die Perspektive von Analysen verfolgt werden, welche über derartige „ökonomistische und ideologiekritische Verkürzungen” hinausgehen (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004:19), indem sie zu zeigen versuchen, dass aktuelle Transformationsprozesse - bezüglich des Verhältnisses der Individuen zu sich selbst und zu anderen sowie bezüglich gesamtgesellschaftlicher Organisationsformen - nicht auf einen „Rückzug des Staates” zurückzuführen sind sondern ganz im Gegenteil auf „eine vehement aktive bzw. aktivistische Politik” (Gertenbach 2007:124); dass diese Politik nicht einen desorganisierten, sondern einen anders organisierten Kapitalismus begleitet (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004:25).
Die Perspektive, die ich hiermit skizziert habe, ist die der „Gouvernementalitätsstudien”, welche ihren Ausgangspunkt in dem von Michel Foucault entworfenen Konzept der „Gouvernementalität” nehmen. Dies wird also der theoretische Rahmen meiner Arbeit sein: Michel Foucaults Blick auf die Modalitäten moderner Machtausübung und die Aufnahme und Weiterentwicklung derselben durch Vertreter_Innen der Gouvernementalitätsstudien. Diese Perspektive hat eine besondere analytische Kraft und große gesellschaftspolitische Relevanz, weil sie vor dem Hintergrund der angedeuteten Verwerfungen und Transformationsprozesse aufzeigt, „wie die Selbstregulationsfähigkeit von Individuen und Gruppen mit ökonomischer Profitmaximierung und gesellschaftspolitischen Zielen verknüpft wird” (Lemke 1997:Vorwort).
Der „Historiker der Denksysteme”10 hat ein umfang- und facettenreiches Werk hinterlassen, das Literaturkritik und Sprachphilosophie ebenso abdeckt wie die Geschichte des Gefängnisses und anderer Institutionen und, allgemeiner, die Sozialisation - mit Foucault sollten wir lieber sagen: die Konstitution - von Subjekten in Abhängigkeit von historisch determinierten Wahrheiten und Machtverhältnissen. Die Originalität des Foucaultschen Zugangs liegt darin, dass er unter Verweis auf ihre historische Variabilität die Modalitäten der Subjektwerdung und in der Folge auch „das Problem des Willens jenseits [der Kategorien, S.A.] von Freiwilligkeit und Zwang” thematisiert (Lemke 2007:43). Aus diesem Grunde scheint der theoretische Zugang Foucaults besonders geeignet zu sein, Antworten auf die erstaunte Frage zu finden, warum erkannte Verwerfungen in einer demokratischen Gesellschaft ‹freiwillig› reproduziert werden.
Meine zweite erkenntnisleitende Frage schließt sich an die erste an: Sie verknüpft die Analyse der Hintergründe zeitgenössischer Transformationsprozesse mit der Debatte um das Konzept eines „Bedingungslosen Grundeinkommens” (BGE), eine Debatte die seit einigen Jahren in Politikwissenschaft und Soziologie, Massenmedien und Politik ebenfalls stark expandiert. Die vorläufige Fragestellung lautet hier: ‹Inwieweit wäre ein BGE geeignet, den Transformationsprozessen entgegenzuwirken?›.
2. Entwicklung und Diskussionstand der Gouvernementalitätsstudien
Die Gouvernementalitätsstudien knüpfen wie gesagt an das Foucaultsche Konzept der Gouvernementalität an, sowie an seine Analyse von Liberalismus und Neoliberalismus, welche er im Rahmen einer Vorlesungsreihe 1979 der Öffentlichkeit präsentierte (MF 1979). Dabei untersuchen Foucault und die Gouvernementalitätsstudien den Liberalismus nicht als eine „Ideologie” oder ein „Ideal”, sondern als eine „komplexe Form des Regierens und der ‹Regierungsrationalität›”11 (MF 1980:46), also als eine spezifische und konkrete Regierungstechnik, wobei der Begriff der Regierung nicht auf die Sphäre des Staates beschränkt ist, sondern ganz allgemein die Führung von sich selbst und von anderen meint.
Nach frühen Fortsetzungen solcher Untersuchungen durch einige von Foucaults Studenten in den späten 1980ern und frühen 1990ern ist das Interesse seit den späten 1990ern und der Jahrtausendwende vor allem im anglophonen („ governmentality studies ”) und deutschsprachigen Raum („Gouvernementalitätsstudien”) stark gestiegen, so dass heute eine kaum noch zu überschauende Fülle von Monographien, Sammelbänden und Aufsätzen in dieser Forschungstradition vorliegt (vgl. Lemke 2007:48-50).
„Dabei handelt es sich jedoch weniger um ein kohärentes Forschungsprogramm als um ein loses Netzwerk von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich in unterschiedlicher Weise und mit divergierenden theoretischen Interessen auf das Konzept der Gouvernementalität beziehen.” (Lemke 2007:49).
Fast immer wurden und werden dabei konkrete - meistens zeitgenössische - Diskurse und Praktiken auf die Modalitäten der in ihnen geforderten oder vollzogenen Formen von Regierung befragt. Populäre Themen sind dabei der Gesundheitsbereich (insbesondere die Gendiagnostik) (z.B. Lemke 2004), Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosigkeit (z.B. Bröckling 2004), der Bereich ‹Risiko und Risikovorsorge› (z.B. Schmidt-Semisch 2004), Formen substaatlicher Vergemeinschaftung und Konfliktbewältigung, sowie explizite Anleitungen zur Persönlichkeitsmodellierung (z.B. Bröckling 2004b, Duttweiler 2004:157, Rose 2004). Die hier genannten Beiträge werde ich in Kapitel E genauer vorstellen.
Darüberhinaus gibt es Beiträge, die das Konzept der Gouvernementalität in der Organisationssoziologie, der postkolonialen Theorie, der historischen Geographie, der Raumund Stadtforschung, der Sicherheits-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, der politischen Ökologie, der Staats- und Politikanalyse und im Kontext von weiteren kultur-, medien- , sozialund politikwissenschaftlichen Fragestellungen aufgreifen12.
Seltener sind Beiträge zur Theoriebildung, die sich mit Prämissen, Methodik und Fragestellung der Gouvernementalitätsstudien auseinandersetzen. Beispiele hierfür sind die Beiträge von Thomas Osborne, der sich dafür einsetzt, die Gouvernementalitätsstudien nicht „in ein festgelegtes Methodenset zu verwandeln” und aus dieser Intention heraus vorschlägt, lieber von „Studies of Governmentality” als von „Governmentality Studies” zu sprechen (Osborne 2004).
Thomas Lemke fordert, das Konzept der Gouvernementalität zu einer umfassenden Hinterfragung und Dekonstruktion der als „Ökonomie” und „Kapitalismus” imaginierten Entitäten zu nutzen (Lemke 2004b).
3. Agenda: Aufbau der Arbeit und weitere Vorhaben
In dem an diese ‹Agenda› anschließenden Kapitel wird es zunächst darum gehen, die Grundlagen des Foucaultschen Ansatzes zu erarbeiten (Kap. B). Dabei möchte ich auch versuchen, zur Klärung und produktiven Systematisierung eines unübersichtlichen Begriffsfeldes Foucaultscher Theorie beizutragen13. Anschließend (Kapitel C) werde ich mit den Foucaultschen Konzeptionen von „Regierung” und „Gouvernementalität” den Ausgangspunkt der Gouvernementalitätsstudien rekonstruieren und Foucaults Analyse von Liberalismus und Neoliberalismus darstellen, welche die Gouvernementalitätsstudien aufnehmen und weiterführen. Dabei möchte ich die besondere Bedeutung der Sicherheitsdispositive hervorheben (Kapitel C 3), herausstellen, wo die Verbindungslinien zwischen „Biopolitik” und Liberalismus verlaufen14 (Kapitel C 5) und Foucaults Analyse des Ordoliberalismus kritisch hinterfragen (Kapitel C 5.2).
In Kapitel D setzte ich mich mit der grundsätzlichen Möglichkeit von Kritik aus einer postmodernen, Foucaultschen Perspektive auseinander, um zum einen Absicht und Impetus der Gouvernementalitätsstudien zu klären und zum anderen Leitfragen für die Bewertung eines BGE in Kapitel F zu erarbeiten.
In Kapitel E stelle ich dann die Perspektive der Gouvernementalitätsstudien auf zeitgenössische neoliberale Transformationsprozesse vor. Dabei handelt es sich nicht um einen Beitrag zur Theoriebildung oder Methodenreflexion. Auch ist angesichts der Fülle der vorhandenen Untersuchungen keine erschöpfende oder repräsentative Darstellung beabsichtigt. Stattdessen sollen anhand von ausgewählten Beispielen die Charakteristika zeitgenössischer neoliberaler Regierungstechniken herausgestellt werden. In deren Beschreibung sehe ich zum einen mögliche Antworten auf meine erste erkenntnisleitende Frage. Zum anderen bilden sie den Ausgangspunkt, von dem aus das BGE im folgenden Kapitel auf seine von den neoliberalen Regierungstechniken (verstärkenden?, abweichenden?) Merkmale und Wirkungen hin befragt werden soll (Kapitel F).
In einem Schlusskapitel (Kapitel G) werde ich noch einen kurzen Blick zurück und auch nach vorn werfen.
Kapitel B Foucaults Analyse der Macht: Grundlagen
1. Theorie als Werkzeugkiste - Ein Zugang zu Foucaults Analyse der Macht
Michel Foucault hat im Lauf seines Forscherlebens ein vielschichtiges, dynamisches und auch widersprüchliches Werk hinterlassen: Die betrachteten Zeiträume und Gegenstände ändern sich ebenso wie die favorisierten Methoden, Analyseschemata und Begrifflichkeiten.
„Mir ist durchaus bewusst, dass ich sowohl im Verhältnis zu den Dingen, für die ich mich interessiere, als auch zu dem, was ich bisher gedacht habe, meine Position verschiebe. Ich denke niemals völlig das gleiche, weil meine Bücher für mich Erfahrungen sind. (...) Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht.” (MF 1978d:24)
„Ich habe keine Methode, die ich unterschiedslos auf verschiedene Bereiche anwende. (...) Ich versuche, meine Instrumente über die Objekte zu korrigieren, die ich damit zu entdecken glaube, und dann zeigt das korrigierte Instrument, dass die von mir definierten Objekte nicht ganz so sind, wie ich gedacht habe. So taste ich mich voran oder stolpere von Buch zu Buch.” (MF 1976ci:522)
„Wie Sie wissen, bin ich wie ein Krebs, ich bewege mich seitwärts.” (MF 1979:116)
Seine Analysen von Machtverhältnissen entwickelt er15 zunächst in Opposition zu der althergebrachten, staatszentrierten, „juridischen” Analyse von Macht16, welche auf die gesetzlich kodifizierten und institutionalisierten Machtbeziehungen fokussiert und sich folglich in Begriffen wie „Vertrag”, „Gesetz” und „Verbot” vollzieht.
Stattdessen verfolgt er lange eine „strategische” Betrachtung der Macht, die auf den Raum des ‹Sozialen›, also auf die „Mikrophysik der Macht” fokussiert (MF 1975:38, vgl. Lemke 1997:20) und die sich zunächst in „Kategorien wie Kampf, Konflikt oder Krieg” vollzieht (MF 1976:26, vgl. Lemke 1997:34). Noch 1976 formuliert Foucault: „Macht ist Krieg, der mit anderen Mitteln fortgesetzte Krieg”, und weiter, in Umkehrung des Clausewitzschen Bonmots, „daß die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist.” (MF 1976:26).
Seit 1978 arbeitet er dann, ausgehend vom Konzept der „Gouvernementalität”, mit Begriffen wie „Regierung”, „Bio-Macht” und „Machtspiele” die „produktiven” und „positiven” Aspekte der Macht heraus.
Dieser dritte, der ‹Regierungs-Zugang› zur Macht, vermittelt, wie mir scheint, zwischen den beiden ersten und erweitert ihn zugleich17. Dieser Ansatz ist es, der den Vertreter_Innen der Gouvernementalitätsstudien und auch mir am besten geeignet erscheint, die Modalitäten liberaldemokratischer Machtausübung herauszustellen. Ich werde daher, um Antworten auf die eingangs aufgeworfenen Fragen zu finden, eine Rekonstruktion von Foucaults Analyse der Macht versuchen, die sich stets an dem ‹Regierungs-Zugang› orientiert18.
Bei aller Divergenz gibt es aber auch Kontinuitäten, die sich durch alle seine Arbeiten ziehen und die es erlauben, von so etwas wie ‹Foucaults Werk› zu sprechen. Dies ist zunächst der größere thematische Kontext, in dem sich Foucaults Interesse für die Macht situiert: „Das menschliche Subjekt im Bedingungskreis der Macht- und Wissensgeschichte sich Foucaults vollständige Problemstellung umreißen” (Fink-Eitel 1989:9). Auf diesen grundlegenden Dreiklang - Macht, Wissen, Subjekt / bzw. Subjektivierung - möchte ich im folgenden noch kurz eingehen.
Die zweite große Konstante ist bereits bei der Thematisierung der Zugangsarten an das Problem der Macht angeklungen, nämlich die Ablehnung von deduktiven und die Zuwendung zu induktiven Deutungsversuchen.
2. „Macht” und „Herrschaft” bei Foucault
Was meint Foucault, wenn er von „Macht” und später auch von „Herrschaft” spricht?
- Die Macht „ist ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richtet, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen.” (MF 1982:286)
- „Machtbeziehungen schließen den Einsatz von Gewalt natürlich ebenso wenig aus wie die Herstellung von Konsens. Die Ausübung von Macht kann auf keins von beiden verzichten, und manchmal benötigt sie beides zugleich.” (MF 1982:286)
- „Macht existiert nur als Handlung, auch wenn sie (...) sich auf dauerhafte Strukturen stützt.” (MF 1982:285)
- Macht auszuüben heißt „das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturieren” (MF 1982:287).
Foucault verwendet also einen derart extensiven Machtbegriff, dass Machtbeziehungen überall dort anzutreffen sind, wo mindestens zwei Menschen interagieren. Machtbeziehungen im Foucaultschen Sinne sind stets aufs Engste mit jedweden „Kommunikationsbeziehungen” (id est: dem Austausch bedeutungstragender Zeichen) und „objektive(n) Fähigkeiten” (id est: „körperliche oder über Werkzeuge vermittelte Fertigkeiten”) verwoben (MF 1982:281-282).19 Machtbeziehungen sind relational, reziprok, mannigfaltig, vielfältig, zentrumslos20 und gründen auf einer relativen Freiheit der in ihnen interagierenden Menschen:
- „Der Ausdruck ‹Macht› bezeichnet eine Beziehung unter ‹Partnern›, (...) ein Ensemble wechselseitig induzierter und aufeinander reagierender Handlungen” (MF 1982:282)
- „Damit eine Machtbeziehung bestehen kann, bedarf es (...) auf beiden Seiten einer bestimmten Form der Freiheit. (...) Machtbeziehungen sind (...) mobil, reversibel, instabil” (MF 1984b:890).
- „Machtbeziehungen verhalten sich zu anderen Typen von Verhältnissen (ökonomischen Prozesse, Erkenntnisrelationen, sexuellen Beziehungen) nicht als etwas Äußerliches, sondern sind ihnen immanent.” (MF 1976c:115).
- „Das heißt natürlich, dass es so etwas wie die Macht nicht gibt, eine Macht die global und massiv oder in diffusem, konzentriertem oder verteiltem Zustand existierte” (MF 1982:285).
Foucault - und insoweit ich seiner Analyse in dieser Arbeit folge auch ich - gebraucht daher „das Wort Macht” lediglich als Abkürzung für „Machtbeziehungen” (MF 1984b:889).
Unter „Macht” versteht Foucault also ein umfassendes und komplexes Ensemble von Phänomenen, die menschlichen Interaktionen per se immanent sind. Das, was im allgemeinen Sprachgebrauch mit ‹Macht› assoziiert wird, firmiert hingegen (bei dem späten Foucault) unter „Herrschaft”:
„Mir scheint, dass man unterscheiden muss auf der einen Seite zwischen Machtbeziehungen als strategischen Spielen zwischen Freiheiten (...) und auf der anderen Seite Herrschaftszuständen, die das sind, was man üblicherweise Macht nennt.” (MF 1984b:900)
Herrschaftszustände im Foucaultschen Verständnis sind den Machtbeziehungen nachgeordnete Phänomene: Herrschaftszustände sind ehemalige Machtbeziehungen, die im Laufe der Zeit erstarrt sind und verfestigte Asymmetrien hervorgebracht haben (MF 1982:292-293), sodass der Austausch echter Machtbeziehungen erschwert wird: Herrschaftszustände entstehen dann,
„wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und jede Umkehrung der Bewegung zu verhindern.” (MF 1984b:878)
3. Macht und Subjektivierung: Fremd- und Selbstführungstechniken
Im Zentrum von Foucaults wissenschaftlichem Interesse steht nach eigenem Bekunden
„nicht die Macht, sondern das Subjekt. Allerdings ist es richtig, dass ich mich veranlasst sah, mich auch näher für das Problem der Macht zu interessieren. Mir wurde rasch klar, wenn das menschliche Subjekt in Produktionsverhältnisse und Sinnbeziehungen eingebunden ist, dann ist es zugleich auch in hochkomplexe Machtbeziehungen eingebunden.” (MF 1982:270).
In dem Zitat ist bereits angedeutet, dass Foucault eine konstruktivistische, anti-essenzialistische Auffassung von ‹dem Subjekt› vertritt:
„Als Erstes denke ich tatsächlich, dass es kein souveränes, stiftendes Subjekt, keine Universalform Subjekt gibt (...). Ich denke im Gegenteil, dass das Subjekt durch Praktiken der Unterwerfung oder, auf autonomere Weise durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit konstituiert wird” (MF 1984d:906).
Lange Zeit, bis ins Jahr 1978 hinein, liegt sein Fokus dabei, wie das folgende Zitat illustriert, einseitig - und wie er später finden wird zu einseitig (MF 1980b:204) - auf der Subjektivierung durch andere, also durch Machtbeziehungen:
„In Wirklichkeit ist das, was bewirkt, dass Körper, Gesten, Diskurse, Wünsche als Individuen identifiziert werden, eine der ersten Wirkungen der Macht. (...) Das Individuum ist ein Machteffekt und gleichzeitig, in genau dem Maße, wie es eine ihrer Wirkungen ist, verbindendes Element.” (MF 1976:39)
Später unterscheidet er zwischen „Herrschaftstechniken”, „Machttechniken”, „Fremdführungstechniken”, und „Selbsttechniken” / „Technologien des Selbst” / „Selbstführungstechniken”, mit welchen die Menschen sich und andere zu Subjekten formen21.
Selbstführungstechniken erscheinen Foucault dabei als Praktiken,
„die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.”22 (MF 1982b:968)
Demgegenüber seien Fremdführungstechniken jene Praktiken, „ which permit one to determine the conduct of individuals, to impose certain wills on them, and to submit them to certain ends or objectives ” (MF 1980b:203). „Regierung”, bzw. „Gouvernementalität” nennt Foucault genau das, was Fremdtechniken und Selbsttechniken vermittelt:
„The contact point, where individuals are driven by others is tied to the way they conduct themselves, is what we can call, I think, government.” (MF 1980b:203) „This contact between the technologies of domination of others and those of the self I call governmentality.” (MF 1982e:sec.I)
Regierung ist in diesem Sinne als „‹Führung der Führungen›” zu verstehen (Lemke 2007:43): Sich selbst Regieren bedeutet, seine eigenen Selbstführungstechniken zu aktivieren und auszurichten; andere zu regieren bedeutet, Fremdführungstechniken zu verwenden, um deren Selbstführungstechniken zu aktivieren und auszurichten.
4. Wissen und Wahrheit, Diskurse und Rationalitäten
„Die Wahrheit ist ohne Zweifel eine Form der Macht” (MF 1978f, zit. nach Schmid 1991:194). Mit dem Zitat ist zweierlei angedeutet: erstens, dass es für Foucault keine ‹absoluten› Wahrheiten gibt, sondern nur relative Wahrheiten innerhalb von Diskursen (und damit innerhalb der Machtbeziehungen, in denen sie erzeugt werden) (vgl. z.B. MF 1976c:78). Da der Diskurs Wahrheit konstruiert, bezeichnet Foucault ihn als „Wahrheitsspiel”, als eine „Gesamtheit von Regeln zur Herstellung der Wahrheit” (MF 1984b:897).
Zweitens ist bereits angedeutet, dass die Wahrheiten (und das Wissen, welches diese Wahrheiten in den Diskursen generieren und auf dem sie aufbauen) ganz entscheidend für die Ausübung von Macht und somit für die Konstitution von Subjekten sind.
„das Problem Wissen/Macht (...) [ist, S.A.] für mich (...) ein Instrument, das es ermöglicht, das Verhältnis zwischen Subjekt und Spielen der Wahrheit auf möglichst genaue Weise zu analysieren.” (MF 1984b:887)
Mit dem gleichen relativistisch-konstruktivistischen Impetus verwendet Foucault auch die Ausdrücke „Rationalität” und „Rationalisierung” , die er nicht mit einem „absoluten Vernunftwert” assoziiert, sondern auf eine „instrumentelle und relative Bedeutung” beschränkt wissen will. „Die Zeremonie der öffentlichen Hinrichtungen ist für sich genommen nicht irrationaler als die Inhaftierung in einer Zelle” (MF 1978g:33). Wenn also im folgenden von ‹Regierungsrationalität› oder ‹neoliberaler Rationalität› die Rede ist, so ist dies zunächst einmal als wertfreie Bezeichnung für ‹die spezifische Logik, Denk- und Handlungsweise dieser konkreten Regierung oder Diskursform› zu verstehen.
5. Mikro- und Makrostrukturen: Fokus und Methode
Im Gegensatz zu staats- und institutionenzentrierten Analysen von Herrschaft und Macht, die das ‹Gehorchenwollen› und die ‹Mitarbeit der Regierten› - wenn überhaupt - nur am Rande thematisieren23, zeichnet sich Foucaults Regierungszugang zur Macht gerade dadurch aus, dass er das „Einverständnis der Herrschaftsunterworfenen nicht als Grundlage zur Erklärung von Machtverhältnissen heranzieht”, sondern dieses Einverständnis höchstselbst als „Teil der Machtverhältnisse” entlarvt und zum zentralen Gegenstand seiner Untersuchungen macht (Lemke 2007:23-46). In diesem Sinne vollzieht Foucault eine „Umkehrung der Analyserichtung” (Lemke 1997:107): Nicht mehr die Makrostrukturen der Macht stehen im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses, sondern die mannigfaltigen und reziproken Machtbeziehungen in den alltäglichen Beziehungen der Menschen sowie die spezifische Form von Rationalität, innerhalb derer diese Machtbeziehungen funktionieren und mit Herrschaftsverhältnissen rückgekoppelt sind. Foucault spricht von der „Mikrophysik der Macht” (MF 1975:38).
„Es geht nicht mehr darum, die regulierten und legitimen Formen der Macht in ihrem Kern und in ihren allgemeinen Mechanismen oder ihren Gesamtwirkungen zu analysieren. Es geht vielmehr darum, die Macht an ihren Grenzen, in ihren äußersten Verästelungen, dort, wo sie haarfein wird, zu erfassen, die Macht also in ihren regionalsten und lokalsten Formen und Institutionen zu packen, besonders dort, wo sie sich über die Rechtsregeln, von denen sie organisiert und begrenzt wird, hinwegsetzt und sich konsequent über diese Regeln hinaus verlängert. (...) Die Macht, denke ich, muß analysiert werden als etwas, was zirkuliert und nur als Verkettung funktioniert. Sie ist niemals hier und dort anzutreffen, sie liegt niemals in den Händen gewisser Leute, sie läßt sich nie aneignen wie Reichtum oder ein Gut. Die Macht funktioniert. Die Macht wird ausgeübt über eine netzförmige Organisation. Und die Individuen zirkulieren nicht nur in ihren Maschen, sondern sind auch stets in einer Position, in der sie diese Macht zugleich erfahren und ausüben; sie sind niemals die unbewegliche und bewusste Zielscheibe dieser Macht, sie sind stets ihre Verbindungselemente” (MF 1976:36-38)
Induktion statt Deduktion also, „weil die Geschichte keine deduktive Wissenschaft ist” (MF 1979:115, vgl. auch MF 1976:39). Dementsprechend gehen seine Analysen zumeist von konkreten Praktiken zu bestimmten Zeiten der Geschichte aus (etwa von dem konkreten Umgang mit Sexualität, Wahnsinn, Delinquenz oder Kriminalität) - bzw. von den Diskursen, die über solche Praktiken geführt werden. Der Staat und seine Institutionen sind unter dieser Perspektive lediglich „ein bewegliche(r) Effekt” (MF 1984e:68), lediglich „eine Regierungstechnik neben anderen: Eine dynamische Form und historische Fixierung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen” (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004:27), „wenn auch vielleicht die wichtigste Form oder der wichtigste Ort”, da „sich alle anderen Machtbeziehungen in gewisser Weise auf ihn beziehen.” (MF 1982:290). Die Funktion des Staates bestehe darin,
„die allgemeine Hülle, die globale Kontrollinstanz, das Regulations- und in gewissem Maße auch das Verteilungsprinzip für die Machtbeziehungen in der jeweiligen Gesellschaft zu bilden.” (MF 1982:290).
Auch in dieser Hinsicht fungieren die Konzepte von Regierung und Gouvernementalität als Scharnier: „Der von ihm eingeführte weite Begriff von Regierung öffnet die ‹Mikrophysik› der Macht für die makropolitische Problematik des Staates” (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004:26).
6. Restriktive oder produktive Macht?
Norbert Elias hat mit seinem Werk „Über den Prozeß der Zivilisation” eine wichtige Untersuchung zur Entstehung der westlichen, demokratisch-kapitalistischen Moderne vorgelegt, welche er als das Ergebnis eines Wechselwirkungsprozesses zwischen psychologischen und sozialen Veränderungen beschreibt (Elias 1976a, 1976b). Elias` zentrale Erklärung für die Dynamik dieses Prozesses lautet, dass die Ausdifferenzierung der Gesellschaft im sich ausweitenden Prinzip der Arbeitsteilung eine stetig wachsende Koordinierung der Gesellschaftsmitglieder nötig gemacht habe:
„Das Verhalten von immer mehr Menschen muß aufeinander abgestimmt werden, das Gewebe der Aktionen immer genauer und straffer durchorganisiert sein, damit die einzelne Handlung darin ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt.” (Elias 1976b:317)
Deswegen sei der Einzelne „gezwungen, sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu regulieren” (Elias 1976b:317). Elias beschreibt diesen Vorgang als (individuelle) Verinnerlichung des (gesellschaftlichen) Koordinierungsbedürfnisses; als Prozess also, in dem „Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln”, mit dem Ergebnis, dass die Menschen nicht nur eine „bewußte[n] Selbstkontrolle” exekutieren, sondern zugleich auch noch unbewusst eine umfassende „automatisch und blind arbeitende Selbstkontrollapparatur” errichten (Elias 1976b:313).
Foucault schreibt den Veränderungen bei der Organisation der Produktionsverhältnisse ebenfalls eine herausragende Bedeutung für die Entwicklung der zeitgenössischen Machttechniken zu (vgl. Kapitel C) und teilt auch Elias Diagnose von einer expandierenden Selbstkontrollapparatur. Zugleich offenbart der Rekurs auf Elias aber auch einen wichtigen Absetzungspunkt (vgl. Lemke 2007:23-46):
Elias folgt mit seiner Konzeption von Individuum und Gesellschaft im Grundsatz der These Sigmund Freuds von der elementaren Opposition zwischen individuellen Trieben und gesellschaftlichen Zwängen24. Sowohl Freud als auch Elias sind also einem Schema verhaftet, das die Einflussnahme der Gesellschaft auf das Fühlen, Denken und Handeln des Individuums ausschließlich in Kategorien von Opposition, Konflikt und Zwang denkt:
„eine Macht, deren Mächtigkeit sich darin erschöpfte nein zu sagen, außerstande etwas zu produzieren, nur fähig Grenzen zu ziehen, wesenhaft Anti-Energie” (Foucault 1976c:106).
„Wie kommt es, dass unsere Gesellschaft und die westliche Gesellschaft schlechthin Macht so restriktiv, , so arm, so negativ versteht? Warum denken wir bei Macht immer an Gesetz und Verbot? Warum diese Privilegierung?” (MF 1976c:226).
Die Konzeption von Macht als „Anti-Energie” und alle Versuche, ihre Wirksamkeit ausschließlich in Kategorien von Opposition, Konflikt und Zwang zu erklären, sind laut Foucault angemessen und zielführend nur im Kontext des Übergangs von feudalen Gesellschaften zu absolutistischen Monarchien gewesen (MF 1976:44, MF 1976c:241, MF 1978e:21). Diese Form der Macht, die nach der „simplen binären Aufteilung zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen” operiert (MF 1978e:19) und auf Übertretungen mit Sanktionen reagiert, bezeichnet Foucault als „juridisch”, weil sie stets gesetzlich kodifiziert ist und historisch aus der „Wiederbelebung des römischen Rechts” resultierte. Sie habe sich in den Händen des Souveräns und weniger Vertrauter konzentriert (MF 1976:44). Die Interaktion des Souveräns mit seinen Untertanen habe sich auf das Abschöpfen von Gütern und den Schutz vor äußeren und inneren Feinden beschränkt und sie ansonsten unbehelligt aber auch ungeschützt gelassen. Seine Souveränität (id est: die Zugriffsmöglichkeit auf das Leben und die Güter seiner Untertanen) habe sich daher wesentlich darin manifestiert, im Extremfall den Tod seines Untertanen zu verfügen: „Leben lassen und sterben machen” sei das Motto gewesen.
Heute hingegen stelle diese „im politischen Denken und in der politischen Analyse” nach wie vor dominante juridische Konzeption von Macht (MF 1976c:110) einen defizitären Anachronismus dar; eine Konzeption, die zwar nach wie vor ihren Platz und wichtige Funktionen habe, die aber für sich genommen den grundlegend veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht entspreche: Heute sei nicht mehr die juridische Macht für die Koordinierung der Gesellschaft zentral, sondern „strategische” und „produktive Machtbeziehungen”. Die Interaktion des modernen Souveräns - genauer: der demokratisch gewählten Regierung eines kapitalistischen Staates - mit den Staatsbürger_Innen ziele nicht mehr auf die Abschöpfung von Gütern, sondern auf deren stetige und strategisch geplante Vermehrung; die Souveränität der Regierung bestehe nun maßgeblich in der Macht, das Leben ihrer Untertanen zu fördern: „Leben machen und sterben lassen” sei nunmehr das Motto, wenngleich auch das Verfügungsrecht über den Tod nicht gänzlich aufgegeben werde.25 „Anstelle der Drohung mit dem Mord ist es nun die Verantwortung für das Leben, die der Macht Zugang zum Körper verschafft.” (MF 1976c:170). Diese neue, produktive Form der Macht sei zuvorderst
„an der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte” interessiert; „diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen” (ebd.:163).
Kapitel C Das Gouvernementalitätskonzept und Foucaults Analyse des Neoliberalismus
1. Regierung: die ökonomische Kunst der Menschenführung
Insofern die soeben referierten Beobachtungen bezüglich der Produktivität der Macht zutreffend sind, ist ein gutes theoretisches Fundament gelegt, um Fragen wie die eingangs aufgeworfene nach der scheinbar freiwilligen Reproduktion von bestimmten Zuständen genauer zu untersuchen. Denn:
„Wenn wir aber davon ausgehen, dass Macht nicht in erster Linie die Funktion hat zu verbieten, sondern zu produzieren, Lust zu schaffen, können wir verstehen, warum wir der Macht gehorchen.” (MF 1976c:243)
Wie analysiert, beschreibt und erklärt nun Foucault den Paradigmenwechsel von den restriktiven zu den produktiven „Machttechnologien” (MF 1976c:243)?
Historisch verortet er diesen wesentlich im 17., 18. und 19. Jahrhundert, also im Kontext der Industriellen Revolution, der Genese der europäischen Nationalstaaten und des aufkommenden Zentralismus, Parlamentarismus und Kapitalismus. Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung unter kapitalistischem Vorzeichen und die Genese der produktiven Machttechnologie sieht er dabei als aufs Engste miteinander verbunden an:
„Und zwar insofern, als die Entwicklung des Kapitalismus die veränderte Machttechnologie erforderlich macht, und umgekehrt diese Veränderung erst die kapitalistische Entwicklung ermöglicht hat.” (MF 1976c:243)
Ähnlich wie Elias argumentiert er nämlich, dass die Ausweitung der arbeitsteiligen Produktionsweise „auch die Notwendigkeit, die Arbeit zu überwachen und die verschiedenen Tätigkeiten zu koordinieren” vervielfacht habe (MF 1976c:230). Die demographische Expansion und die Akkumulation von Kapital - beides sowohl Effekt als auch Voraussetzung für den Siegeszug der kapitalistischen Produktionsweise - machten den
„Wechsel hin zu Machttechniken notwendig, die einen geringeren (ökonomischen und politischen) Kostenaufwand mit einer intensiveren gesellschaftlichen Wirksamkeit kombinieren: Eine neue ‹Ökonomie der Macht›” (Lemke 1997:73-74, vgl. MF 1978:59, MF 1976c:168)
Die „traditionellen, rituellen, kostspieligen, gewaltsamen Machtformen” (MF 1975:283) seien der neuen, kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr angemessen gewesen; das „Prinzip von Gewalt/Beraubung” habe durch das Prinzip von „Produktion/Profit” abgelöst werden müssen (Lemke 1997:74). Die „Kunst des Regierens” ist daher für Foucault nichts anderes als
„ die Kunst, die Macht in der Form und nach dem Vorbild der Ö konomie auszuüben ”
(MF 1978:49, Hervorh. von mir, S.A.). Sein Regierungsbegriff ist dabei ähnlich weit gefasst wie sein Machtbegriff: Regierungskunst umfasst für ihn nicht nur die im engeren Sinne politische Ebene (ebd.:43), sondern ebenso sehr „die Regierung seiner selbst mit der Moral” und „die Kunst, in angemessener Weise eine Familie” oder einen Betrieb zu regieren (ebd.:47) - kurz gesagt: die Kunst, sich selbst oder andere in ökonomischer Weise in eine ökonomisch bestimmte Richtung zu führen (MF 1980c:154). Foucault benennt drei zentrale Elemente, bzw. „Technologien”, „Techniken” und „Taktiken” dieser neuen, produktiven Regierungskunst.
2. Drei zentrale Techniken der Macht
2.1 Die Sanktionierung des Individuums mittels Recht
Der juridisch-binäre Code bleibe bestehen, er erlebe sogar eine starke Ausweitung, eine „regelrechte Rechtsinflation” (MF 1978e:22), weil er mit den (nachstehend erläuterten) weiteren Elementen der Machtausübung (id est: der Regierungskunst) verquickt werde. Im Unterschied zur monarchischen Gesellschaft sei das Gesetz und seine passive, restriktive, binäre Eigenheit heute aber nicht mehr das grundlegende Prinzip, nach welchem die Macht funktioniere, sondern Gesetze seien heute nurmehr eine Führungstechnik unter anderen (Bröckling/Krasman/Lemke 2004:28). Das, wovon moderne staatliche Regierungen Gebrauch machen, seien eher Taktiken als Gesetze „oder äußerstenfalls Gesetze als Taktiken” (MF 1978:54).
2.2 Die Konditionierung und Integration des Individuums durch Disziplinierung
Das Prinzip von Disziplin und Disziplinierung entwickelt sich laut Foucault „seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zunächst im Rahmen partikularer Institutionen (Armee, Schule, Hospital, Werkstatt, etc.)” (Lemke 1997:137, vgl. MF 1976:279, MF 1975), welche die Möglichkeit eröffnen, jedem Einzelnen einen Platz in der sich ausdifferenzierenden Massengesellschaft zuzuweisen (MF 1976c:166, MF 1976c:234). Mit dem Prinzip der Disziplinierung gebe es nun
„über den gerichtlichen Akt, der den Schuldigen bestraft, hinaus, eine ganze Reihe von angrenzenden polizeilichen, medizinischen, psychologischen usw. Techniken, die auf Überwachung, Diagnose, eventuelle Veränderung von Individuen usw. hinweisen.” (MF 1978e:19)
Innerhalb der Rationalität des Disziplinierungsprinzips erscheint Foucault der Mensch „als eine komplexe Maschine” und besteht das Ziel darin, „die Steigerung der Fähigkeiten und Kräfte dieser Mensch-Maschine mit ihrer Integration in wirtschaftliche Produktions- und politische Herrschaftsverhältnisse zu verbinden” (Lemke 1997:136, vgl. MF 1976c:166).
2.3 Die Regulierung der Bevölkerung mihilfe von Sicherheitsdispositiven
Grundlage dieser Machttechnik sind „demographische Erhebungen” zur Kontrolle der „dem Leben eigenen Gesamtprozesse (...) wie Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit, usw.” (MF 1976:280-281). „Bevölkerung” wird dabei als „eine eigenständige biologische Entität” aufgefasst (Lemke 1997:136); nicht als eine Gruppe von Einzelnen, sondern als ein von ihnen abstrahiertes Eigentümliches; als ein Organismus, der seine Eigenschaften hat, der eigenen (statistischen) Gesetzmäßigkeiten unterliegt und entsprechend ‹gemanagt› werden muss:
„Die Bevölkerung ist eine Gruppe, die nicht einfach nur aus vielen Menschen besteht, sondern aus Menschen, die von biologischen Prozessen und Gesetzen durchdrungen, beherrscht und gelenkt sind. Eine Bevölkerung hat eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyramide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand. Eine Bevölkerung kann zugrunde gehen oder sich entwickeln.” (MF 1976c:235)
Die Bevölkerung erscheint wiederum als „Maschine”: „als Produktionsmaschine zur Erzeugung von Reichtum, Gütern und weiteren Individuen.” (MF 1976c:235, MF 1976c:166). Aufgabe der Regierung ist es, die Leistung dieser Produktionsmaschine zu steigern (MF 1978e:27,39), und für eine derartige Regulierung der Bevölkerung bedarf sie der „Sicherheitsdispositive”. „Sicherheit ist (...) eine bestimmte Art und Weise, (...) die alten Stützen von Gesetz und Disziplin zu ergänzen, in Gang zu bringen” (MF 1978e:26). Sicherheitsdispositive sind also Verfahren und Strategien, die das Rechtssystem und den „Disziplinarkorpus” nicht nur „sehr stark aktivier(en) und anreg(en)” (MF 1978e:22), sondern sie sind eine Art Weiterentwicklung und Amalgam aus ihnen: Sie bestehen „zu einem großen Teil in der Reaktivierung und Transformation der juridisch-rechtlichen und disziplinarischen Techniken” (MF 1978e:24). Dennoch unterscheiden sie sich von den beiden zuerst beschriebenen, was damit zusammenhängt, dass ihr (Haupt-)Bezugspunkt die Bevölkerung, also ein von den konkreten Einzelnen abstrahiertes Autonomes ist. Die Sorge der Regulierung gilt nicht dem Individuum Mensch, sondern der Gattung Mensch (MF 1976:280):
Sowohl Recht als auch Disziplin bewerten den/die Einzelnen anhand eines im Grundsatz binären Codes (z.B. schuldig des Diebstahls / nicht schuldig des Diebstahls; Prüfung bestanden / nicht bestanden)26 ; durch die Bewertung werden seiner/ihrer Person bestimmte ‹objektive› Eigenschaften zugeschrieben; der Effekt ist dann, dass sich die entsprechende Person mit bestimmten Kategorien (z.B. Häftling, Musterschüler) identifiziert und sich in ihnen konstituiert. (vgl. MF 1976:288).
Sicherheitsdispositive hingegen - Foucault nennt als Beispiel die Verfahren, Institutionen und Rationalitäten, die sich rund um die im 19. Jahrhundert aufkommende Kriminalitätsstatistik ansiedeln (1978e:23-24) - zeichneten sich dadurch aus, dass sie ausgehend von einer statistisch erfassten Realität eine „Kostenkalkulation” in Kategorien der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse anstellen und diese zur Grundlage ihrer (Nicht)Intervention machen (MF 1978e:19). Im konkreten Beispiel: Wie ist „das ökonomische Verhältnis zwischen den Kosten der Strafverfolgung [répression] und den Kosten der Straffälligkeit [délinquance]” (MF 1978e:24)? Was kostet es, einen bestimmten Akt als Verbrechen zu klassifizieren, den Verbrecher zu verfolgen, zu strafen, zu therapieren, umzuerziehen? Wie wahrscheinlich ist es, dass der/die Bestrafte, Therapierte, Umerzogene rückfällig wird? Welches sind die Risiken und Kosten für die Bevölkerung im Fall einer Intervention, welche im Fall von Nichtintervention? (MF 1978e:18, vgl. auch MF 1979:347-356).
Ein anderes Beispiel wäre die „Einrichtung einer Medizin, deren Hauptaufgabe jetzt in der öffentlichen Hygiene liegt” (also in der Prävention von Krankheiten und nicht mehr in der Behandlung von konkret Kranken) (MF 1976:281). Auch hier ließe sich eine Reihe ähnlicher Fragen anschließen.27 Die Einrichtung eines solchen Apparates, eines solchen „Sicherheitsdipositivs” impliziert offensichtlich die „Koordinierung der medizinischen Versorgung”, die „Zentralisierung der Information” und die „Normalisierung des Wissens” (MF 1976:282). Im Gegensatz zu Disziplinierungsmechanismen verfolgen die Sicherheitsdispositive keine absoluten Ziele (z.B. die totale Ausrottung von Verbrechen und Krankheit), sondern strikt relative: Sie setzen sich als Zielvorgabe einen statistischen „Mittelwert” von, beispielsweise, Verbrechen und Krankheit, „den man als (...) optimal für ein gegebenes soziales Funktionieren ansehen wird”, weil er nämlich den Zustand repräsentiert, in dem sich die Kosten von Intervention und Nichtintervention genau berühren (MF 1978e:18, 1979:352-355). Die Effekte der Machtausübung mithilfe von Sicherheitsdispositiven konstituieren daher - ganz im Gegensatz zu denen der Disziplinierung - keine Subjekte; sie sind „nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend” (MF 1976:280).
Das erste Sicherheitsdispositiv, das Foucault in seinen Untersuchungen ausmacht, ist das „Sexualitätsdispositiv”, welches rund um den Sex errichtet worden sei (MF 1976c:173-189). Anhand des Sexualitätsdispositivs beschreibt Foucault, was mir entscheidend für die Sicherheitsdispositive überhaupt zu sein scheint, nämlich, dass sie sich genau an der Schnittstelle zwischen der/dem Einzelnen und der Bevölkerung befinden und dort zwischen Selbst- und Fremdführungstechniken vermitteln. Foucault sagt, das Sexualitätsdispositiv bilde ein „Scharnier”, denn der Sex gebe
„Anlaß zu unendlich kleinlichen Überwachungen, zu Kontrollen aller Augenblicke (...) zu endlosen medizinischen oder psychologischen Prüfungen (...) Der Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben der Körper wie zum Leben der Gattung” (MF 1976c:173-174)
„Dank ihrer Fortpflanzungseffekte” (MF 1976:291) liegt die Sexualität „genau an der Verbindungsstelle zwischen der individuellen Disziplinierung des Körpers und der Regulierung der Bevölkerung.” (MF 1976c:236) Im Rahmen einer Macht, die sich zum Ziel setzt, die Produktivität der Bevölkerungsmaschine zu maximieren, muss die Sexualität also ein privilegierter Bezugspunkt sein,
„weil man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, der Demographie, der Kinderzahl oder des Konsums etwas erreichen will, über die Familie gehen muss” (MF 1978:60-61).
Die Disziplinierung des Einzelnen und die Regulierung der Bevölkerung unterscheiden sich zusammenfassend also dadurch,
- dass sie erstens Macht über verschiedenartige Objekte ausüben: Einmal steht der „KörperMensch” im Mittelpunkt und dann der „Gattungs-Mensch” (MF 1976:280); sie kontrollieren einmal Konkretes und dann Kontingentes.
- dass sie zweitens verschiedenartige Zielvorgaben haben: Die Disziplinierung orientiert sich an einer absoluten, feststehenden Norm, an der jede_r Einzelne auszurichten ist. Die Regulierung hingegen setzt sich eine statistisch berechnete Norm, die variabel und strikt relational ist, insofern sich diese Norm an einer zuvor beobachteten ‹Normalverteilung› und einem daran anschließenden Kostenkalkül orientiert.
- dass sie drittens verschiedenartige Ausführungsmodi haben und Wirkungen produzieren: Die Disziplinierung vollzieht sich entlang eines binären Codes mit dem Ziel der (absoluten) Normierung. Ihr Effekt ist also eine Subjektivierung des/r Einzelnen, die weitestmöglich der gesetzten Norm entspricht. Die Regulierung erfolgt hingegen entlang eines graduellen Rasters mit dem Ziel der (relativen) Normalisierung. Ihr Effekt ist also eine Totalisierung, erstens in dem Sinne, dass Macht- und Wissensstrukturen zentralisiert und auf eine größere Ebene (z.B. einen Nationalstaat) übertragen werden; und zweitens in dem Sinne, dass das Bevölkerungsganze weitestmöglich der gesetzten Norm entspricht.28
3. Das Gouvernementalitäts-Konzept: Regieren über Sicherheitsdispositive
Zusammenfassend: Die neue, produktive Macht richtet sich auf das ganze Leben in seiner Gesamtheit, in all seinen vermeintlich unpolitischen Äußerungen. Entstanden im historischen Kontext der Universalisierung des Prinzips der arbeitsteiligen Produktion, der gleichzeitigen Akkumulation von Menschen und Kapital und der Ausdifferenzierung der Gesellschaft will sie die Handlungen der Menschen im Sinne einer maximalen Produktion von Gütern und Individuen koordinieren. Dabei bedient sie sich unterschiedlicher Strategien, die sich einmal auf den „Körper-Menschen” richten (Diziplinierung) und einmal auf den „Gattungs-Menschen” (Regulierung) (MF 1976:280). Beide Strategien werden häufig und gerne als Gesetze kodifiziert: „Gesetze als Taktiken”. Die Disziplinierung stellt dabei sicher, dass der individuelle Körper und die individiuellen Fähigkeiten in ein Maximum an ‹Humankapital› transformiert werden. Die Regulierung erweitert diese Zielvorgabe auf die Gesamtheit der biologischen Prozesse einer Bevölkerung. Beide Strategien sind „zwei Seiten einer einzigen politischen Rationalität” (Lemke 1997:137, vgl. MF 1976c:235), nämlich einer politischen Rationalität der Ökonomie. Alle drei, Recht, Disziplinierung und Regulierung haben also ihre Funktionen, sind aufs Engste miteinander verwoben und bilden ein „komplexe(s) Gefüge”, wobei die Regulierung mithilfe von Sicherheitsdispositiven zunehmend an Bedeutung gewinnt, hegemonial wird (MF 1978e:19-23, 1978c:655).
Für dieses Dreieck der produktiven Macht („ souverainet é -discipline-gestion gouvernementale ” - Recht, Disziplinierung und Regulierung, bzw. „gouvernementale Führung” ) mit der Regulierung als „Dominante” (MF 1978e:22-23) prägt Foucault den Ausdruck „Gouvernementalität” („ gouvernementalit é”). Gouvernementalität bezeichnet für Foucault also erstens jene
„komplexe Form der Macht (...) die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat” (MF 1978:64, vgl. 1978c:654-655),
und zweitens den Prozess, in dem sich seit dem 16. Jahrhundert bis heute der Schwerpunkt der Machttechnologien von dem ersten Element des Dreieckes über das zweite hin zum dritten verschoben habe (ebd.). Der Neologismus kann als semantische Kombination von gouvernement und mentalit é interpretiert werden (vgl. Lemke 1997:146, Bröckling/Krasmann/Lemke 2004:8, Bröckling 2004b). Somit schlösse sich entweder die Assoziation an, dass es bei der heutigen Form der Machtausübung wesentlich um die Einflussnahme auf das Denken der Menschen geht (‹ gouverner la mentalit é›) oder aber es würde sich allgemeiner um den Hinweis handeln, dass hier eine neue Mentalität, eine neue Rationalität des Regierens vorliegt (‹ mentalit é du gouvernernement ›).
Beide Interpretationen sind im Lichte der bisherigen Ausführungen sinnvoll.29 In jedem Fall bezieht sich das Konzept der Gouvernementalität auf die „Lenkung und Leitung von Individuen und Kollektiven” (Lemke 2007:13) und fungiert somit in Foucaults Analyse auch als „Bindeglied zwischen der ‹Genealogie des modernen Staates› und der ‹Genealogie des modernen Subjekts›” (Lemke 1997:Vorwort). Es erlaubt, „Subjektivierung und Staatsformierung (...) unter einer einheitlichen analytischen Perspektive” zu untersuchen (Lemke 1997:151).
4. Die Erfindung der Bio-Macht
Offensichtlich, so legt es die Foucaultsche Analyse nahe, sind also in diesem Prozess, in dem eine restriktive zunehmend durch eine produktive Form der Macht abgelöst worden ist, die intimen familiären und freundschaftlichen Beziehungen, der Konsum, die Gesundheit, der Sex, „die alltäglichsten Dinge des Lebens, die Art zu essen, sich zu ernähren, die Beziehungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, die Art zu lieben” (MF 1973:135) - kurz: das ‹Private› und Alltägliche - im höchsten Maße politisch geworden. Das naturwüchsige, das biologische, das „nackte” Leben (Agamben 2002) des Menschen als Individuum und der Menschen als Gattung rückt in den Mittelpunkt der modernen Politik, während „Politik im klassischen Sinn (...) gemeinsames Handeln und Entscheiden [ist], eben das, was über das ‹nur› Kreatürliche und Körperliche hinausgeht” (Lemke 2007:10). Heute aber werde das Körperliche und Kreatürliche sowohl zunehmend politisch wichtig als auch formbar; zu beobachten sei „der Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle”. Foucault prägt daher für diese neue Art von Politik den Begriff der „Biopolitik” (MF 1976:280, 1976c:170).30
„Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendiges Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.” (MF 1976c, 171.)
Die solcherart erfolgte „Vereinnahmung des Lebens durch die Macht” ist laut Foucault nicht nur „eines der grundlegenden Phänomene des 19. Jahrhunderts” (MF 1976:276), sondern mehr noch, „die biologische Modernitätsschwelle” überhaupt (MF 1976c:170).
Die entscheidende, folgenschwere Neuerung der Biopolitik liegt dabei nur indirekt in der Tatsache, dass die Modellierung des Fühlens, Denkens und Handelns der Menschen - und zwar omnes et singulatim (MF 1979b) - zur zentralen Aufgabe der Politik wird. Entscheidend ist die fundamentale Neuordnung der Mittel-Zweck-Relation, welche im Kontext der Bio-Macht zwischen dem biologischen Leben der Menschen und der Legitimität (und damit der Existenzgrundlage) von Macht entsteht: Für die monarchische Souveränitätsmacht, welche nach dem Grundsatz „leben lassen und sterben machen” verfuhr, war die Bevölkerung ihres Territoriums lediglich ein Ausdruck ihrer Macht (MF 1978:61). Ihre Legitimität - id est: die Akzeptanz ihrer Herrschaft durch das Volk - erhielt der König hingegen aus der von der Bevölkerung gänzlich autonomen Quelle einer angenommenen göttlichen Ordnung. Deshalb konnten sich ihre Zielsetzungen auch auf Objekte jenseits der Bevölkerung erstrecken: ein prachtvolles, repräsentatives höfisches Leben, die Verteidigung und Ausweitung des eigenen Machtbereichs etc.
Die modernen westlichen (säkularisierten, liberalen, demokratischen, kapitalistischen, pluralistischen) Gesellschaften bedürfen hingegen einer neuen Legitimationsquelle von Macht, deren Grundlage im Kontext der politischen Institutionen das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht ist. Die auf diese Weise inaugurierte Selbstbezüglichkeit der Legitimität der politischen Institutionen - Herrscher und Beherrschte sind idealiter identisch - verlangt natürlich nach ihrer Entsprechung in den Zielsetzungen der politischen Institutionen: „Das Los der Bevölkerung zu verbessern, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre Gesundheit zu mehren” wird nun zum „letzte[n] Ziel der Regierung” (ebd.:61).31
5. Foucaults Analyse des (Neo)Liberalismus
„Der Liberalismus ist offenkundig weder eine Ideologie noch ein Ideal. Er ist eine sehr komplexe Form des Regierens und der ‹Regierungsrationalität›.” (MF 1980:46)
5.1 Klassischer Liberalismus: Veridiktion des Marktes und Laissez-faire
Liberalismus und Biopolitik gehören für Foucault eng zusammen. Der Liberalismus sei der größere geschichtliche Kontext, er bilde den „allgemeine(n) Rahmen” (MF 1979:43) in dem sich die Biopolitik entwickelt habe. Er sei „die neue gouvernementale Vernunft im Ausgang vom 18. Jahrhundert” (ebd.:44); eine Vernunft, die - und hier liegt abgesehen von der zeitlichen Überschneidung ihres Auftretens die erste wichtige Verbindung zum Konzept der Bio-Macht - sich stets an den Axiomen, Begriffen, Methoden und Aussagen, kurz: an der Rationalität der politischen Ökonomie orientiere (ebd.:30).
Handlungsmaxime und Credo des klassischen Liberalismus kulminierten im Prinzip des Laissez-faire, welches den Regierten ein größeres Maß an wirtschaftlicher Freiheit erstreiten wolle, auf dass sie in der Lage seien, mehr Reichtum zu generieren. Das liberale Prinzip sei somit die „Selbstbegrenzung der gouvernementalen Vernunft” (ebd.:40), die Selbstbegrenzung staatlicher Interventionen durch einen von der Politischen Ökonomie vorgegebenen Rahmen.32
Allerdings möchte Foucault diesen Prozess - entsprechend seiner induktiven Forschungsmethode - natürlich nicht so verstanden wissen,
„daß sich auf der einen Seite ein wissenschaftlicher und theoretischer Diskurs gebildet hätte, der die politische Ökonomie gewesen wäre, und daß dann die Regierenden auf der anderen Seite (...) von dieser politischen Ökonomie verpflichtet gewesen wären, sie aufgrund irgendeines Drucks dieser oder jener gesellschaftlichen Gruppe zu berücksichtigen” (ebd.:56-57).
Vielmehr habe sich diese Rationalität, habe sich dieser Diskurstypus, den wir ‹politische Ökonomie› nennen, sukzessiv, ausgehend von der Institution der ganz konkreten Märkte in den Städten entwickelt: Der städtische Markt habe schon seit langem „einen bevorzugten Gegenstand der Intervention, der Regelung durch die Regierung” dargestellt, im Mittelalter allerdings konstituiert als ein „Ort der Rechtsprechung” und der „Gerechtigkeit”, insofern seine Regulierung dazu gedient habe, „den Bedürfnissen der Händler” und den „Möglichkeiten der Konsumenten” gleichermaßen gerecht zu werden und auf diese Weise „Verteilungsgerechtigkeit” herzustellen (ebd.:52-54). Demgegenüber sei der Markt seit „der Mitte des 18. Jahrhunderts” zunehmend als etwas gesehen worden,
„das ‹natürlichen› Mechanismen gehorchte und gehorchen sollte, d. h. spontanen Mechanismen, (...) so spontan, daß, wenn man sie modifizieren wollte, man sie nur verschlechtern und verderben könnte.” (ebd.:54)
Denn eine Regierung wisse nie genug über die mannigfaltigen Motivationen, welche den Produktions- und Kaufentscheidungen der Marktteilnehmer_Innen zugrunde liegen, „so daß sie Gefahr läuft, stets zuviel zu regieren” (ebd.:36).
Überließe man hingegen das Marktgeschehen diesen spontanen, ‹natürlichen› Mechanismen, so die Auffassung der Physiokraten im späten 18. Jahrhundert, werde das Ergebnis der ‹natürliche›, der ‹angemessene›, der ‹normale›, der ‹richtige› Preis sein. (ebd.:54 u. 78). Auf diese Weise habe „der Markt sich zu einem Ort der Veridiktion konstituiert”; ein Ort, an dem das ‹freie›, ‹unregulierte› Spiel von Angebot und Nachfrage die ökonomische Wahrheit des ‹richtigen› Preises hervorbringe (ebd.:57).
„Die Möglichkeit der Begrenzung [von staatlichem Regierungshandeln, S.A.] und die Frage nach der Wahrheit, diese beiden Dinge werden in die gouvernementale Vernunft über den Umweg der politischen Ökonomie eingeführt.” (ebd.:35)
Diese beiden Merkmale sowie die zunehmende Positionierung „Europas als unbegrenzte wirtschaftliche Entwicklungsregion gegenüber einem Weltmarkt” markieren für Foucault den klassischen Liberalismus (ebd.:94).
Der Liberalismus trage also seinen Namen insofern zurecht, als sein Fundament die Anerkennung und Achtung einer Freiheit sei; allerdings handele es sich dabei im Grundsatz um die Freiheit des Marktes; eher um die „Spontaneität, die innere und intrinsische Mechanik der Wirtschaftsprozesse (...) als [um, S.A.] eine juridische Freiheit, die als solche den Individuen zuerkannt wird” (ebd.:95). Auf dieser Ebene liege eine grundlegende Weichenstellung bezüglich der Legitimierung und Begrenzung von Regierungshandeln:
Innerhalb des frühen Liberalismus gebe es, beispielsweise bei Rousseau, eine „juridisch- deduktive(n)”, Strategie zur Begrenzung der Regierungsmacht, welche darin bestehe, den Menschen „axiomatisch” bestimmte Freiheiten zuzuschlagen, um sodann aus diesen Freiheiten die notwendige Begrenzung des Regierungshandelns abzuleiten (ebd.:65-66). Demgegenüber setzte sich aber zunehmend eine zweite liberale Strömung durch, in Foucaults Worten der „induktive und residuelle Weg”.33 Diese zweite Strömung, bei der die Parallelen zum Konzept der Bio-Macht wiederum auf der Hand liegen, sei der „Utilitarismus”, der - nicht „als Philosophie oder als Ideologie”, sondern als „Regierungstechnik” - die Frage nach der Nützlichkeit, also nach der bestmöglichen Befriedigung der Interessen der Regierten in den Mittelpunkt stelle (ebd.:68).34 „Induktiv-residuell” sei die utilitaristische Regierungsrationalität deshalb, weil sie von dem Regierungshandeln selbst ausgehe und dieses nur in dem Maße beschränke, wie im jeweiligen Kontext eine Intervention nicht geeignet erscheine, die ökonomischen Interessen der Regierten zu befördern (ebd.:66-68). Die staatliche Regierung begrenze ihr Handeln somit „nicht aufgrund des Respekts vor der Freiheit der Individuen (...), sondern einfach durch die Gewißheit der Wirtschaftsanalyse, die sie zu achten weiß” (ebd.:94- 95).
5.2 Neoliberalismus I: Ordoliberalismus
In derselben Vorlesungsreihe (MF 1979) vergleicht Foucault den klassischen Liberalismus mit den dominanten neoliberalen Strömungen des 20. Jahrhunderts: mit dem deutschen, dem Freiburger Ordoliberalismus und mit dem Neoliberalismus amerikanischer Prägung aus Chicago. Mit Blick auf den Ordoliberalismus arbeitet er heraus, wie einerseits das Prinzip der gouvernementalen Selbstbegrenzung in Form der „Veridiktion des Marktes” eine erhebliche Intensivierung erfahren habe: Bar jeder historischen, juridischen oder moralischen Legitimität habe nämlich das besetzte, geteilte und mit Schuld beladene Nachkriegsdeutschland für die Neugründung der BRD des Prinzips des freien Marktes als ihrer allerersten Grundlage bedurft:
„Der Staat gewinnt sein Gesetz wieder, gewinnt sein juridisches Gesetz und seine wirkliche Grundlage in der Existenz und der Praxis dieser wirtschaftlichen Freiheit. (...) Wir haben also eine Genese (...) des Staats im Ausgang von der Institution der Wirtschaft.” ( ebd.:124-126)
Andererseits habe das Prinzip der gouvernementalen Selbstbegrenzung, neben diesem neuerlichen Bedeutungsgewinn, eine zweite entscheidende Verschiebung erfahren, nämlich die Abkehr vom Prinzip des Laissez-faire. Denn aus dem Postulat nach freiem Marktgeschehen ein Laissez-faire seitens der Staatsregierung abzuleiten, dies empfänden die Ordoliberalen als eine „naturalistische Naivität”, da sie bemerkt hätten, dass dieser freie Markt „keineswegs eine Naturgegebenheit” sei, sondern vielmehr „ein Ziel, das folglich eine äußerst aktive Politik verlangt” (ebd.:172-174, vgl. z.B. Röpke 1944:230-231). „Gerade die Freiheit des Marktes erfordert also eine äußerst wachsame und aktive Wirtschaftspolitik.” (Röpke 1948:365) Der Ordoliberalismus „ist also ein intervenierender Liberalismus” (MF 1979:190, vgl. z.B. Röpke 1948:245ff). Die gouvernementale Selbstbegrenzung bestehe nicht mehr wie zu Zeiten des Laissez-faire darin, bestimmte Sphären und Dinge zu definieren, welche nicht Objekt von Regierungsintervention werden dürften, sondern darin, dass - ganz egal um welche Dinge es geht - die Intervention ausschließlich in marktkonformer Weise erfolgen dürfe (MF 1979:190).35
Drittens habe der Ordoliberalismus eine Entwicklung aufgegriffen und forciert, welche sich bereits seit dem „Ende des 19. Jahrhunderts” abgezeichnet habe, nämlich die zunehmend vorherrschende Auffassung, dass „das Wesen des Marktes” nicht im Tausch, sondern im Wettbewerb bestehe, „d.h. nicht in der Äquivalenz, sondern im Gegenteil in der Ungleichheit” (ebd.:171). Ausgangspunkt des Neoliberalismus sei somit nicht mehr die „Theorie des Nutzens auf der Grundlage der Problematik der Bedürfnisse”, nicht mehr der homo oeconomicus im klassischen Sinne als „einer der beiden Partner im Tauschprozeß” (ebd.:314) sondern „der Mensch des Unternehmens und der Produktion” (ebd.:208) Nunmehr gelte: „Der homo oeconomicus ist ein Unternehmer, und zwar ein Unternehmer seiner selbst” (ebd.:314, erste Hervorheb. im Original, zweite von mir, S.A.).36
Das Ergebnis dieser drei Verschiebungen, dieser dreifachen Aufwertung oder Radikalisierung des Marktprinzips sei eine Politik, die überall versuche, die Rahmenbedingungen für die Anwendung des ökonomischen Modells zu schaffen, eine Politik, der es darum gehe
„das ökonomische Modell im großen Maßstab zur Anwendung zu bringen, das Modell von Angebot und Nachfrage, das Modell von Investition-Kosten-Gewinn, um daraus ein Modell für die sozialen Beziehungen zu machen, ein Modell der Existenz selbst, eine Form der Beziehung des Individuums zu sich selbst, zur Zeit, zu seiner Umgebung, zur Zukunft, zur Gruppe, zur Familie.” (ebd.:334)
Eine Politik also, die auf „eine Verallgemeinerung der Unternehmensform innerhalb des sozialen Körpers oder Gewebes” hinauslaufe. Allerdings kennzeichne den Ordoliberalismus eine „Ambiguität”, insofern er sich zugleich auch um die „Wiederherstellung einer ganzen Reihe moralischer und kultureller Werte” sorge, „die man ‹warme› Werte nennen könnte, und die sich geradezu antithetisch zum ‹kalten› Mechanismus des Wettbewerbs verhalten.” (ebd.) Der von Foucault als „Ambiguität” qualifizierte parallele Rekurs der Ordoliberalen auf den freien Markt und auf außer-marktwirtschaftliche Werte ist unbestritten - die unterstellte „Verallgemeinerung der Unternehmensform innerhalb des sozialen Körpers oder Gewebes” bleibt meiner Auffassung nach hingegen den amerikanischen Neoliberalen vorbehalten.37
5.3 Neoliberalismus II: Chicagoer Schule
Was der Neoliberalismus Chicagoer Prägung fordert und verwirklicht, ist laut Foucaults Analyse die endgültige „Umkehrung des Verhältnisses des Sozialen zum Wirtschaftlichen” (MF 1979:332), die ,„absolute Verallgemeinerung (...) der Form des Marktes” (ebd.:336), welche zwei Ausprägungen habe:
Erstens werde das „ökonomische Raster” von Interesse, Wettbewerb und dem freien Spiel der Marktkräfte zum Prinzip erhoben, um überhaupt jedwede „soziale Prozesse zu verstehen” (ebd.:340, vgl. auch 310, 369). Auf dieser Ebene mache es sich ganz allgemein „die Untersuchung und Analyse der Art und Weise, wie knappe Ressourcen auf konkurrierende Zwecke verteilt werden” zur Aufgabe (ebd.:309); es handele sich somit um den „Versuch (...), ein traditionellerweise nicht-ökonomisches Sozialverhalten in ökonomischen Begriffen zu interpretieren” (ebd.:340). Foucault erläutert dies anhand der Humankapitaltheorie, welche auf die Chicagoer Ökonomen Theodore Schultz und Gary Becker zurückgeht.38
Die Humankapitaltheorie wende sich gegen jene Analyse der klassischen politischen Ökonomie eines Ricardo oder Marx, welche die Arbeit „all ihrer qualitativen Variablen entledigt”, indem sie nur auf die abstrahierte Größe der geleisteten Arbeitsstunden Bezug nehme (ebd.:306-308). Demgegenüber betrachte die Humankapitaltheorie das Einkommen, das jemand erzielt, weniger als Entlohnung für ein bestimmtes Arbeitsquantum, denn als Rendite auf ein bestimmtes Kapital; auf das Humankapital nämlich, über das dieser jemand verfüge (ebd.:311-312). Diese auf den ersten Blick vielleicht marginale Verschiebung hat wichtige Implikationen für das Vordringen der ökonomischen Analyse auf nichtökonomisches Gebiet: Schul- und Berufsbildung, aber auch „die verbrachte Zeit, die aufgewendete Sorgfalt, auch das Bildungsniveau der Eltern (...) die Gesamtheit der kulturellen Reize, die das Kind empfängt” ebenso wie die Sorge um die Erhaltung der Gesundheit und anderes mehr erscheinen in diesem Lichte als „Investitionen”, die geeignet sind, das eigene Humankapital oder das der Kinder zu erhöhen und auf diese Weise höhere „Renditen” zu erzielen (ebd.:319-320).39 Was sich im Rahmen der Humankapitaltheorie vollziehe, sei somit zunächst einmal eine Verschiebung des Erkenntnisinteresses hin zum Individuum: Man wolle nunmehr herausfinden, „wie der Arbeiter die Ressourcen einsetzt, über die er verfügt. (...) Was bedeutet die Arbeit für den Arbeitenden?” Mit dieser Art von Betrachtungsweise erscheine somit der arbeitende Mensch „zum ersten Mal (...) in der ökonomischen Analyse” nicht als Objekt, sondern als „aktives Wirtschaftssubjekt” (ebd.:311). Mit dem Attribut ‹Wirtschafts-› ist zugleich die neue Beschränkung markiert, die der neue Standpunkt notwendig impliziert: „Man geht auf die Seite des Subjekts nur insofern über (...) Man faßt das Subjekt nur insofern auf, als es ein homo oeconomicus ist”, bzw. insofern es sich als solches geriert, denn, auch daran erinnert Foucault sofort, der Standortwechsel impliziert (zumindest kurzfristig40 ), „keineswegs daß jedes Individuum, jedes Subjekt ein ökonomischer Mensch ist” (ebd.:349).
Zweitens, das zweite Phänomen, in dem sich die Verallgemeinerung der Form des Marktes manifestiere, sei, dass das „ökonomische Raster” nunmehr als „ständige politische Kritik des politischen Handelns und des Regierungshandelns” diene (ebd.::340). „Es geht darum, jede Handlung der öffentlichen Gewalt in Begriffen des Spiels von Angebot und Nachfrage (...) zu überprüfen.” Der Markt werde somit zu einer „Art von ständigem ökonomischen Tribunal gegenüber der Regierung” (ebd.:341-342). Auch in diesem Fall handelt es sich also um eine Aufwertung der ökonomischen Rationalität, genauer: um eine Radikalisierung der ökonomisch begründeten Begrenzung von staatlichem Regierungshandeln, welche ihr im Grundsatz bereits der klassische Liberalismus zugedacht hatte. Diese Radikalisierung folgt natürlich aus dem Anspruch der Chicagoer Schule, jedwedes menschliche Verhalten in ökonomischen Kategorien erklären zu können; zugleich scheint sie mir parallel und in nochmalig erhöhter Intensität zu jener anderen zu verlaufen, welche ich zuvor im Kapitel über den Ordoliberalismus beschrieben habe und welche darin bestand, dass der ökonomische Diskurs das staatliche Regierungshandeln nicht mehr in dem Sinne begrenzte, dass er einen bestimmten Bereich von ihm auszunehmen suchte (nämlich den Markt, die Wirtschaftsaktivität im engeren Sinne), sondern in dem Sinne, dass er nur noch ökonomische Interventionsformen erlauben wollte, diese dafür aber umso vehementer auf alle Gesellschaftsbereiche angewendet wissen wollte.
5.4 Die Aporie (Neo-)Liberaler Souveränität
Bisher ist deutlich geworden, wie sehr der Liberalismus ebenso wie das, was Foucault die BioMacht nennt, auf ökonomischen Diskursen fußt. Die Verwandtschaft der beiden Phänomene lässt sich außerdem, eng damit verbunden, herausarbeiten, indem man den Fokus auf das Problem der staatlichen Souveränität verlegt:
Moderne Regierungen, der angenommen göttlichen Ordnung als Legitimationsquelle verlustig gegangen, sehen sich ständig der prüfenden Frage nach ihrem „Nutzwert” ausgesetzt (vgl. Kap. C 4). Mit der Säkularisierung der Regierungslegitimität, vollziehe sich zugleich ihre liberalökonomische Beschränkung, welche bereits in Adam Smiths Vorstellung von der „unsichtbaren Hand” und der daraus abgeleiteten Forderung nach einer Politik des Laissez-faire angelegt sei. Denn das unregulierte Spiel von Angebot und Nachfrage werde nicht nur den ‹richtigen› Preis hervorbringen, sondern zugleich auch den größtmöglichen Erfolg für das Wohlergehen jeder/s Einzelnen und also den größten Nutzwert.
„Gott sei dank kümmern sich die Leute nur um ihre Interessen. (...) Damit (...) das größte Wohl für die größte Zahl erreicht wird, ist es nicht nur möglich, sondern absolut notwendig, daß jeder Akteur der Gesamtheit gegenüber blind ist. (...) Das kollektive Wohl darf selbst nicht anvisiert werden (...), weil es wenigstens innerhalb einer ökonomischen Strategie nicht berechnet werden kann.” (MF 1979:383-384)
Niemand, weder ein/e ökonomische/r noch ein/e politische/r Akteur_In könne oder solle daher versuchen, ein Kollektivwohl zu befördern.41 Was sich hier vollziehe, sei somit eine tiefgreifende „Herabsetzung des politischen Souveräns” auf der Grundlage der ihm unterstellten umfassenden Unwissenheit gegenüber den ökonomischen Prozessen (ebd.:388-390). Zentralwirtschaftlich agierende Regierungen würden versuchen, diesen Angriff, der in der Behauptung der „Unmöglichkeit eines ökonomischen Souveräns” bestehe, grundsätzlich abzuwehren. Liberalen Regierungen hingegen stünden, schematisch gesprochen, drei Möglichkeiten offen, ihre Herabsetzung durch den homo oeconomicus zu überleben:
Entweder sie gäben der Forderung nach dem Laissez-faire nach und begnügten sich ganz einfach mit einer Souveränität, die sich künftig - „gewissermaßen geographisch” begrenzt - eben nicht mehr auf das Marktgeschehen erstrecken könne (ebd.:401). Die zweite Möglichkeit, vertreten von den Physiokraten des 18. Jahrhunderts, bestehe darin, zwar formal „die ganze Handlungssphäre der Gouvernementalität aufrechtzuerhalten, aber das Wesen der Regierungsaktivität selbst grundlegend zu verändern” (ebd.:401-402), insofern ihr nicht mehr wirkliche Entscheidungsgewalt zustehen sollte, sondern indem sie gewissermaßen dem Markt hinterherlaufen und sich ihm gegenüber „wie ein Geometer gegenüber geometrischen Gegenständen verhalten” sollte (ebd.).
Beide Auswege kommen offensichtlich einer umfassenden Selbstentmachtung des politischen Souveräns gleich _ umso mehr als die ökonomischen Beziehungen im Laufe der Industrialisierung für immer mehr Menschen immer grundlegendere Bedeutung gewinnen. Wie diesem Dilemma entkommen?
„Wie soll man es anstellen, daß der Souverän auf keinen seiner Handlungsbereiche verzichtet oder daß der Souverän sich in einen Geometer der Wirtschaft verwandelt?” (ebd.:403).
Die Antwort hierauf - und damit der dritte liberale Ausweg - besteht laut Foucault darin, sich einen neuen „Bezugsrahmen, ein neues Bezugsgebiet, eine neue Wirklichkeit”, ein neues Interventionsfeld und ein neues Begrenzungsprinzip zu erschaffen. Diese Ausprägung liberaler Regierungskunst identifiziert Foucault als „die bürgerliche Gesellschaft” (ebd.:405); das neue Bezugs- und Interventionsfeld, das sie sich erschließe, sei ein Feld
„von sozialen Beziehungen, von Bindungen zwischen Individuen (...), die über die reine ökonomische Bindung hinaus kollektive und politische Einheiten bilden, ohne daß es sich deshalb um juristische Bindungen handelt.” (ebd.:422)
Dieses Feld konstituiere sich aus
„eine(r) ganzen Reihe von Interessen, die man ‹uneigennützige Interessen› nennen könnte. (...) der Instinkt, das Gefühl, die Sympathie, Regungen des Wohlwollens der Individuen füreinander, das Mitgefühl, aber auch die Abneigung gegenüber den anderen” (ebd.:413).
Mit anderen Worten (und hier liegt der zweite markante Berührungspunkt zwischen Liberalismus und Biopolitik): Die einzige Möglichkeit der produktiven Macht, ihre Souveränität zu behaupten besteht darin, sich ein neues Interventionsfeld zu erschließen, welches das vormals ‹Private› ist.
Was die Frage betrifft, welcher Art der Begrenzungsmechanismus einer Regierungskunst in der bürgerlichen Gesellschaft sein wird, so verweist Foucault lediglich darauf, dass er sich, ganz so wie der Liberalismus im allgemeinen, „an der Besonderheit der Wirtschaftsprozesse ausrichtet” (ebd.:407). Nach dem, was ich bisher über die Wirkungsweisen der Biopolitik referiert habe, ließe sich hinzufügen: In der bürgerlichen Gesellschaft werden all jene staatlichen Interventionen möglich und geboten sein, die geeignet erscheinen, das Los der Bevölkerung zu verbessern und jene werden zu unterlassen sein, die in diesem Sinne kontraproduktiv oder unnütz erscheinen. Ich möchte aber auf die Souveränitätsproblematik aus Perspektive der Biopolitik hier nicht weiter eingehen, sondern darauf später in verschiedenen Kontexten zurückkommen (Kapitel E 1.3 und 2.4; Kapitel F 2.4).
5.5 Das Paradox des liberalen Paternalismus: Die Produktionskosten der Freiheit und die utilitaristischen Interventionen
Ich habe schon referiert, wie sich der Liberalismus auf die Instanz des klassischen homo oeconomicus beruft, wie die Idee von einem homo oeconomicus als Ausgangspunkt des liberalen Diskurses und der liberalen Regierungstechnologien fungiert: der homo oeconomicus gedacht als ein Mensch, der seine Entscheidungen rational (gemäß des ökonomischen Kalküls von der Allokation knapper Ressourcen zu alternativen Zielen) und souverän in Freiheit trifft (vgl. Kapitel C 5.1).
Mit der Abkehr vom Laissez-faire -Prinzip und dem Aufkommen des intervenierenden Neoliberalismus kommt mit zunehmender Vehemenz das fundamentale Spannungsfeld liberaler Politik zum Vorschein, nämlich jenes zwischen Sicherheit und Freiheit. Denn wenn die Freiheit des Marktes keine Naturgegebenheit ist, sondern von der Politik geschützt und zuallererst einmal produziert werden muss, so eröffnet dies den Raum und die Legitimation für „eine gewaltige Gesetzgebung, für eine gewaltige Menge an Regierungsinterventionen” (MF 1979:99). Nur durch „die gewaltige Ausweitung von Verfahren der Kontrolle, der Beschränkung, des Zwangs” könne die Freiheit des Marktes, welche die Freiheit des homo oeconomicus ist, geschützt werden: „ein Mehr an Freiheit durch ein Mehr an Kontrolle und Intervention”, dies ist das Paradox und die grundlegende Ambivalenz des Liberalismus (ebd.:102-103).
Diese Ambivalenz steigert sich noch einmal, wie mir scheint, dadurch, dass der Weg des utilitaristisch-biopolitischen Liberalismus eingeschlagen wird: Wenn die Interessen der Regierten im Mittelpunkt stehen, wenn es die Lebensführung jeder/s Einzelnen ist, welche Souveränität stiftet, Regierungsinterventionen ermöglicht und begrenzt (ebd.:73), wenn es das Endziel allen Regierungshandeln ist, „das Los der Bevölkerung zu verbessern”, dann wird klar, dass sich dieser Liberalismus nicht nur um die Freiheit des Marktgeschehens im engeren Sinne, sondern darüber hinaus auch um das Wohlergehen jeder/s Einzelnen sorgen muss: Sicherheit nicht nur vor Beschränkung oder Verzerrung des Wettbewerbs, sondern auch vor „persönliche(m) Unglück”, vor „Alter” und „Krankheit, vor allem, „was jemandem in seinem Leben zustoßen kann” (ebd.:100). „Sicherheitsstrategien” sind deshalb nicht weniger als „die Kehrseite und die Bedingung des Liberalismus” (ebd.:100).
Was sich hier erkennen lässt, ist die Grundlegung der europäischen Wohlfahrtsstaatlichkeit im Ausgang des klassisch-liberalen Laissez-faire- Regimes. Wenn Foucault hinzufügt, dass es
„die Devise des Liberalismus ist, ‹gefährlich zu leben› (...), daß die Individuen (...) fortwährend darauf konditioniert werden, ihre Situation, ihr Leben, ihre Gegenwart, ihre Zukunft, usw. als Träger von Gefahren zu empfinden” und dass „die Aufstachelung der Angst vor der Gefahr (...) das psychologische und innere kulturelle Korrelat des Liberalismus ist” (ebd.:101-102),
so kommt darin offensichtlich seine Sorge zum Ausdruck, dass eine überbordende (Wohlfahrts-)Staatlichkeit sich auf diesem Wege ausbreiten, ihren Interventionsspielraum vervielfachen, die Individuen bevormunden, sie umfassend regieren könnte.
Kapitel D Schwelle: Kritik warum, Freiheit wozu?
Foucault und andere postmoderne Denker_Innen41 können konsequenterweise aufgrund ihrer radikal anti-essenzialistischen Auffassung von ‹dem Menschen› kaum eine wertende / normative Position einnehmen, von der aus sie irgendwelche Lebensumstände als weniger wünschenswert oder gar als ‹unmenschlich› kritisieren könnten.
Nancy Fraser hat bereits 1981 auf die Foucault eigentümliche „Ausklammerung des Normativen” und der „Legitimitätsproblematik” von Machtausübung hingewiesen (Fraser 1994:36-37).42 Einerseits, so Fraser weiter, liegt genau hierin die analytische Stärke seines Ansatzes, weil es ihm so gelingt Macht jenseits der Kategorien von Konsens und Zwang zu denken, also beispielsweise die ‹Freiwilligkeit› von Selbstführungstechniken zu hinterfragen. Andererseits impliziere dies, dass er nicht zwischen „legitimer” und „illegitimer” Machtausübung (ebd.:36), zwischen einer wünschenswerten und einer weniger wünschenswerten Ausgestaltung der Gesellschaft unterscheiden könne, dass er die Unterschiede zwischen „gewaltvermittelter und konsensueller Vergesellschaftung” vollkommen einebne (Rehmann 2004:165) und somit einen nihilistischen „Kulturrelativismus”43 vertrete (Fraser 1994:36). Mit Blick auf die Verwirklichung individueller Freiheit in verschiedenen Gesellschaften sagt Foucault beispielsweise:
„Das Ausmaß an Freiheit zwischen einem System und einem anderen zu messen hat, glaube ich, faktisch nicht viel Sinn. Und man erkennt nicht, welche Art von Beweis, welche Art von Messung oder Maß man anwenden könnte.” (MF 1979:96)
In der Tat würde ein solches Messen, Vergleichen und schließlich Bewerten von verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen voraussetzen, dass man a) die infrage kommenden Parameter bestimmt (z.B. ‹Freiheit›), sie b) definiert (z.B. als ‹Ausmaß, in dem ein Individuum von dem durchschnittlichen, erwarteten, erwünschten Verhalten sanktionslos abweichen kann›) und c) konkrete Indikatoren festlegt (z.B. ‹Mit welchen Sanktionen muss eine Frau rechnen, die wissentlich ein behindertes Kind zur Welt bringt? Was ist als ‹Sanktion› zu betrachten, was als ‹behindertes Kind› und was nicht?›).
Ein solches Unterfangen würde, wollte man es ernsthaft verfolgen, zweifellos zahlreiche praktische Schwierigkeiten im konkreten Prozess des Messens und Vergleichens mit sich bringen. Vor allem würden aber die getroffenen Vorentscheidungen - (a), b) und c) - implizieren, dass man sich zuvor auf bestimmte Dinge, Verhaltensweisen und Lebensumstände einigt, die ‹dem Menschen› angemessener sind als andere. Genau dieses lehnt Foucault in teils scharfer Polemik gegen jede Form von Anthropologie ab (z.B. MF 1966:410-412)43.
Dies ist nicht nur vor dem theoretischen Hintergrund des nominalistischen Foucaultschen Blicks auf geschichtliche Wahrheiten und die Konstitution von Subjekten verständlich und konsequent, sondern scheint auch im Kontext der faschistischen und ‹kommunistischen› Totalitarismen des 20. Jahrhunderts insofern ein Gebot der postmodernen Stunde zu sein, als gerade diese Gesellschaften stets auf einer ganz genauen Vorstellung davon gründeten, ‹was der Mensch ist und wie er sein soll›. Andererseits führt diese radikal anti-essenzialistische Position in letzter Konsequenz dazu, dass man kaum noch eine Begründung dafür finden kann, warum man das Leben in einem faschistischen oder ‹kommunistischen› Totalitarismus - ja gar: das Leben eines jüdischen „Muselmanns” und „ homo sacer ” in den Vernichtungslagern von Auschwitz45 - als weniger ‹frei› oder ‹menschenwürdig› bezeichnen sollte, als das einer/s Mittelklassebürger_In im heutigen Deutschland.
Freilich hat auch Foucault diese absurde, in seinem theoretischen Ansatz tendenziell angelegte Konsequenz nicht gezogen. Sein eigenes politisches Engagement ist ein Ausdruck von Kritik an bestimmten Lebensumständen (z.B. denen von Gefangenen) und gibt einen seltenen Einblick in seine Vorstellungen davon, unter welchen Bedingungen ein Mensch seiner Meinung nach nicht leben müssen sollte.46 In einem Interview antwortet er auf die Frage, wie er seine eigene Rolle sehe, denn auch mit geradezu aufklärerischem Impetus. Er habe sich vorgenommen,
„den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind als sie meinen; dass sie Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind, und dass man diese sogenannte Evidenz kritisieren und zerstören kann. Etwas in den Köpfen der Menschen zu verändern - das ist die Aufgabe des Intelektuellen.” (MF 1982:960)
In einem Vortrag zum Thema „Was ist Kritik?” stellt er sich implizit selbst in aufklärerische Tradition, wenn er (mit Rekurs auf Kant) erklärt, „Kritik” sei
„die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit.” (MF 1978b:15)
„Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird - daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?” (MF 1978b:12).
Kritik ist demnach für Foucault, so seine prägnanteste Formulierung, „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden” (MF 1978b:12). Foucaults Auffassung von Kritik ist also wesenhaft negativ: ebenso „restriktiv” wie der Machtbegriff, den er in seinen Analysen verabschiedet. Mit diesem restriktiven Selbstverständnis und einem solcherart kritischen Interesse an den Wechselwirkungsverhältnissen zwischen diskursiven Wahrheiten und Machteffekten führen die Gouvernementalitätsstudien Foucaults Neoliberalismuskritik weiter.
In Kapitel F möchte ich die Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) aus Foucaultscher Perspektive bewerten. Dies kann und soll zunächst aus der beschriebenen negativen Perspektive von Kritik erfolgen: ‹Inwieweit könnte ein BGE dazu beitragen, „nicht dermaßen”, nicht so wie heute, nicht so neoliberal regiert zu werden?›.
Nun ist aber das BGE auch Teil zeitgenössischer Debatten der praktischen Politik; es stellt eine Form konkreter, konstruktiver Kritik dar; es ist ein positiver Gegenvorschlag zu dem aktuell bestehenden Prinzip von (Sozial)Staatlichkeit. Um das BGE vor diesem Hintergrund bewerten zu können, wäre es wünschenswert, auch über eine positive Bestimmung der Kritik, über eine wie auch immer geartete Zielvorstellung zu verfügen.
Eine solche hat Foucault selbst nie explizit geliefert. Jedoch lässt sich - aus seinen Standpunkten, seiner Methode, seinen affektiven Bekundungen, seiner Sicht auf die Konstitution der Subjekte, auf die Rolle die die anderen und die Gesellschaft dabei spielen - eine vage, offene, eigentümlich negativ-positive Zielrichtung von Kritik (re)konstruieren:
Für Foucault besteht die Methode der Kritik darin, aufzuzeigen, dass die zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Geschichte gültigen Wahrheiten, Gesetze, Sozialisationsformen, etc. nichts anderes sind als relativ willkürliche, „ab einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext geschichtlich ausgebildete Formen”, die man folglich verändern kann (MF 1984f:855). Als positive Fluchtpunkte des Foucaultschen Wunsches, nicht einer bestimmten Herrschaft unterworfen, „nicht dermaßen regiert zu werden”, ergeben sich damit - wenn auch nicht ausdrücklich - Autonomie bei der Subjektkonstitution und Freiheit47 zur Veränderung.
„Das Problem ist (...), sich die Rechtsregeln, die Führungstechniken und auch die Moral zu geben, das ethos, die Sorge um sich, die es gestatten, innerhalb der Machtspiele mit dem Minimum an Herrschaft zu spielen. (...) Ich meine, man muss diese Probleme in Form von Rechtsregeln, vernünftigen Regierungstechniken und des ethos, der Praxis des Selbst und der Freiheit fassen.” (MF 1984b:899, Hervorheb. von mir, S.A.)
„Ich denke (...), dass das Subjekt durch Praktiken der Unterwerfung oder, auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, konstituiert wird, wie in der Antike.” (MF 1984d:906, Hervorheb. von mir, S.A.)
Autonomie könnte folglich als die Möglichkeit gefasst werden, in relativer Unabhängigkeit von den aktuell gültigen Wahrheiten, Gesetzen, Sozialisationsformen, etc. zu leben; als die Möglichkeit, sich innerhalb von Machtbeziehungen zu konstituieren, welche von Herrschaftseffekten weitestgehend befreit sind. Freiheit wäre dann die Verlängerung und Konsequenz einer autonomen Subjektkonstituierung, nämlich die Möglichkeit, die aktuell gültigen Wahrheiten, Gesetze, Sozialisationsformen zu verändern.
Ausgehend von der relativistischen Grundausrichtung des Foucaultschen Ansatzes, welche - im Gegensatz zu liberalen Analysen (vgl. Pizzorno 1992) - darin besteht, das Problem des Willens jenseits der Kategorien von ‹Freiheit› und ‹Zwang› zu thematisieren, ergäbe sich somit eine vorsichtig-positive Zielvorgabe von Kritik, nämlich die, Autonomie und Freiheit zu fördern. Dies ist möglich, weil die Definition von Autonomie und Freiheit selbst vage, ergebnisoffen und in dem Sinne auch ‹negativ› bleibt, als sie stets auf die Möglichkeit der Veränderung des Bestehenden rekurriert: „Individuals or movements, it seems, can be free only ‹against›.” (Pizzorno 1992:208, vgl. Krasmann 1999:113)
Für die Bewertung des BGE als eine konstruktive Alternative in Kapitel F ergibt sich damit in direktem Anschluss an die Erste eine zweite leitende Frage: ‹Inwieweit wäre ein BGE geeignet, Autonomie und Freiheit zu befördern?› Denkt man den Bezug von Autonomie und Freiheit auf die Veränderung des Bestehenden, auf die Offenheit, Vielfältigkeit und Reversibilität der aktuellen Machtbeziehungen mit, so könnte man alternativ auch fragen:
‹Inwiefern wäre ein BGE geeignet, weniger einseitig 48 regiert zu werden? Inwiefern könnte es dazu beitragen, in einem multiplen und beweglichen Feld von Machtbeziehungen unterschiedlicher Rationalitäten regiert zu werden?›
Kapitel E Der Januskopf der Bio-Macht: Gouvernementalitätsstudien über ambivalente Praktiken in der neoliberalen Demokratie
1. Quellen der Beunruhigung
Zunächst einmal ist es, wenn wir Foucaults Analyse folgen wollen, zu begrüßen, dass sich im Gleichschritt mit der Vervielfachung der Produktivkräfte in den vergangen Jahrhunderten die vorherrschende politische Technologie von einer restriktiven, abschöpfenden Kraft hin zu einer produktiven, Wert steigernden Kraft gewandelt hat. Niemand, der - wie auch ich - einem anthropozentrischen Weltbild verhaftet ist, könnte dieses per se schlecht finden. Selbst die Formel, nach der es das Ziel aller Politik sein sollte, „das Los der Bevölkerung zu verbessern” ist in ihrer Allgemeinheit wohl noch unstrittig.49 Insofern könnte der Siegeszug der Biopolitik gefeiert werden. Dennoch ist bei näherem Hinsehen die neoliberale Bio-Macht, ist die ihr inhärente Rationalität äußerst ambivalent und problematisch, was die Gouvernementalitätsstudien, die ich im folgenden vorstellen werde, deutlich herausstellen.
1.1 Die Hegemonie der ökonomischen Rationalität
Zum einen ist die Bio-Macht problematisch, weil ihr eine ausschließlich materielle und objekthafte Vorstellung von dem inhärent ist, was es denn bedürfe, um „das Los der Bevölkerung zu verbessern”: nämlich „ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre Gesundheit zu mehren”. Dies ist eine Zielvorgabe, die tatsächlich mit ausschließlich ökonomischen Denkweisen und Verfahren erreichbar sein könnte. Die Herrschaft einer einzigen, absolut gesetzten ökonomischen Rationalität steht aber einer autonomen Subjektivierung im Modus von freien, multiplen, reversiblen Machtbeziehungen im Wege.
1.2 Die harmonistische Fiktion gleichgerichteter Interessen
In der Formel von dem „Los der Bevölkerung” erscheinen die Menschen als ein monolithischer Block gleichgerichteter Interessen. Dass dies mit der Lebenswirklichkeit, zumal in einer modernen, ausdifferenzierten, pluralistischen Gesellschaft nichts zu tun hat, ist unmittelbar evident. Die Interessen ebenso wie die Machtmittel, über die die Einzelnen verfügen, sind ganz im Gegenteil höchst verschieden und widerstreiten nicht selten. Jene der eingangs konstatierten Verwerfungen, die sich unter die Kategorie ‹große soziale Ungleichheit und starke Exklusion› subsummieren lassen, sind geeignet, genau dieses zu illustrieren.
Es steht also zu befürchten, dass unterschiedliche Interessen und Machtpositionen von neoliberal-biopolitischen Diskursen verdeckt und legitimiert werden. Entlang dieser Befürchtung sind die drei kommenden Teilkapitel aufgebaut (Kapitel E 2.1, 2.2 und 2.3), die die Zurückweisung kollektiver und die Zuweisung individueller Verantwortlichkeit in drei Stufen oder ‹Kreisen› thematisieren.
1.3 Untiefen neoliberaler Souveränität
Aus der ausschließlichen Bewertung und Führung von Menschen nach ökonomischen Maßstäben resultiert unmittelbar eine Reihe von Fragen, die - bar jeder innerhalb einer moralischen Rationalität zu fundierenden political correctness - so sensible Bereiche wie Gendiagnostik, Eugenik, Euthanasie und Rassismus betreffen: Müssen nicht chronisch Kranke konsequenterweise getötet werden, wenn ihr Weiterleben die Gesellschaft über die Maßen ökonomisch belastet und wenn keine Aussicht auf eine Veränderung dieses Zustandes besteht? Müssen sie nicht wenigstens sterilisiert werden, um auszuschließen, dass sie Krankheiten oder nachteilige Erbanlagen weitergeben und so einen dauerhaft negativen Einfluss auf das Funktionieren der „Produktionsmaschine” Bevölkerung nehmen? Müssen nicht aus ähnlichen Erwägungen Föten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit behindert zur Welt kommen werden, abgetrieben werden? Ist es nicht gar geboten, mithilfe aller zur Verfügung stehenden Mittel dafür zu sorgen, dass nur noch genetisch ‹optimierte› Babys geboren werden? Müssen nicht ebenso Angehörige ‹minderwertiger› Gruppen oder ‹Rassen› oder Individuen mit (nach welchen Kriterien auch immer bestimmten) ‹anormalen› oder ‹degenerierten› Genen sterilisiert, vertrieben oder getötet werden?
Zum einen haben die hier aufgeworfenen Fragen - so ungeheuerlich sie klingen und sind - längst tiefgreifenden Eingang in unsere Gesellschaften gefunden. Zum anderen stellen sie nur die ‹Spitze des Eisberges› dar; es sind zugespitzte Varianten eines allgemeineren Problems, bei dem es um die Exklusion von Menschen aufgrund von ökonomischem Prinzipien und mithilfe von ökonomischen Führungsmethoden geht.
Die Zuspitzung des Problems auf Fragen von Leben und Tod gibt derweil den Blick auf die Aporien neoliberaler Souveränität frei. Derartige Fragen sind geeignet, den inneren Zwiespalt der Biopolitik, welcher in der gleichzeitigen Förderung und Infragestellung des menschlichen Lebens besteht, von einem Standpunkt aus zu erklären, der auf die Legitimation von staatlicher Machtausübung gegenüber den Regierten fokussiert.
Das Problem der Souveränität stellt sich für die Bio-Macht mit veränderten Vorzeichen, jedoch mit neuer Schärfe, „akuter denn je” (MF 1978:62-63). Erstens ganz allgemein: Wie kann eine liberale Regierungsrationalität, die auf der Freiheit der Individuen fußt, sich irgendwelche Interventionsspielräume, Zugriffsrechte auf die Freiheit und das Leben erhalten? Zweitens im Besonderen: Wie kann eine utilitaristisch-biopolitische Regierung, deren ausdrückliches Ziel es ist, „das Los der Bevölkerung zu verbessern, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre Gesundheit zu mehren”, souverän sein? Id est: Wie kann sie Handlungen auch in solchen Fällen stimulieren oder unterbinden, in denen es nicht ausreicht, dass sie „verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert”? Wie kann sie es rechtfertigen, dass sie Handlungen „im Grenzfall erzwingt oder verhindert”? (MF 1982:286) Wie kann sie - in letzter Konsequenz - den Tod eines Einzelnen verlangen und erwirken? Foucault verwendet in diesem Kontext wiederum einen weitgefassten Begriff, einen Todesbegriff nämlich, der nicht nur „den direkten Mord” umfasst,
„sondern auch alle Formen des indirekten Mordes: jemanden der Gefahr des Todes ausliefern, für bestimmte Leute das Todesrisiko oder ganz einfach den politischen Tod, die Vertreibung, Abschiebung usw. erhöhen.” (MF 1976:294)
Wie kann also, so wiederum die allgemeinere Formulierung der Problematik, eine biopolitische Regierung die Exklusion bestimmter (Arten, Formen, Ausprägungen, Funktionen von) Leben vornehmen und legitimieren? Ich werde auf dieses Problem in Kapitel E 2.4 eingehen.
2. Ambivalente Praktiken: Demokratisierung von Macht oder Intensivierung von Herrschaft?
2.1 Erster Kreis - die Fragmentierung des Raumes: Communities statt Kommune und Nationalstaat.
Ein zentrales Charakteristikum der vorherrschenden zeitgenössischen Machttechnologien, welches die Gouvernementalitätsstudien in den verschiedensten Bereichen unisono herausarbeiten, besteht in der zunehmenden Delegierung von Regierungsmacht an die Regierten selber.
Foucault hat hier den Blick geschärft und die prinzipielle Bewegungsrichtung aufgezeigt: Er hat herausgestellt wie im Übergang von der juridisch-feudalen zur disziplinär-industriellen Gesellschaft ständig neue Personenkreise für die Regierung ihrer Mitmenschen zuständig wurden.50
Dieser Prozess vollzieht sich, so die Vertreter_Innen der Gouvernementalitätsstudien, heute in neuen Formen, mit größerer Ausweitung und Intensität: Beispielsweise würden - insbesondere im englischsprachigen Raum, dort im Rahmen eines Diskurses um „ community ” - zunehmend vormals staatliche Aufgaben von communities, also von Gruppen gleichgerichteter Interessen übernommen. Nikolas Rose nennt als Beispiele das Engagement in Gemeindezentren zur Gestaltung des eigenen Stadtteils aber auch die Substitution einer kollektiven Sicherheit, welche vormals von einer „einheitliche(n) und von der Gesellschaft bezahlte(n) Polizei” gewährleistet wurde, durch private Sicherheitsdienste für ausgewählte Wohn- und Shoppinganlagen (Rose 2004:78, 85, vgl. auch Schmidt-Semisch 2004:182-187). Einerseits handelt es sich bei der Stärkung von communities um eine Art ‹Demokratisierung von unten› in Opposition zu einem als übergreifend und paternalistisch empfundenen Fürsorgestaat (Bröckling 2004b:129-130). Es handelt sich um „ Empowerment ” in dem Sinne, dass den Einzelnen mehr Freiheiten, mehr Verantwortung und mehr Pflichten in der Gestaltung ihres Nahbereiches zukommen. Im Gegensatz zum föderalen Subsidiaritätsgrundsatz der BRD impliziert diese von Rose als „Fragmentierung des Raumes” beklagte Entwicklung allerdings, dass zeitgleich mit der Delegierung der (legislativen, exekutiven, judikativen) Gewalten von einer umfassenden Ebene (dem Nationalstaat) auf eine partikulare Ebene (die community) auch die (finanzielle oder anderweitige) Solidarität, welcher es für die kollektive Ausübung der Gewalten bedarf und die Kontrollmechanismen, welche gegebenfalls zur Wahrung der Solidarität nötig erscheinen, auf die partikulare Ebene übertragen werden (vgl. Rose 2004:78-99). Ein ähnlich gelagertes Problem thematisiert Ulrich Bröckling im Rahmen seiner Untersuchung über die zunehmende Verbreitung von Mediationsverfahren. Ein wichtiges Anwendungsgebiet von Mediationsverfahren besteht in der außergerichtlichen Beilegung von Streitfällen (Bröckling 2004b:134-135). Ebenso wie bei der Stärkung der community- Ebene handelt es sich hier um einen Ansatz, der sich nur auf die unmittelbar Betroffenen (plus eine/n von ihnen selbst bestimmte/n Mediator_In) bezieht und die staatlichen Institutionen außen vor lässt. Unter diesem Blickwinkel wird Mediation teilweise „als Wegbereiterin einer Graswurzel-Demokratie” aufgefasst, die helfen soll, „politische Apathie [zu] überwinden” (Bröckling 2004b:135).
Andererseits werden beide Phänomene von ihren Befürworter_Innen nicht nur in der Rhetorik einer möglichen Demokratisierung von unten thematisiert, sondern zugleich unter dem Hinweis auf finanzielle Nöte und ökonomische Vorteile der neuen, partikularen Verfahren, was eine umfassende ‹Verschlankung› staatlicher Strukturen nahelege (Rose 2004:72, 91; Bröckling 2004b:134). Hinter dieser doppelten Begründung steckt offenbar der „liberale Traum von der Identität des Nützlichen und des Guten” (Bröckling 2004b:139), der alte Smithsche Gedanke, eine „unsichtbare Hand” werde ‹es schon richten›.
Zweifel gegenüber dieser Hoffnung sind angebracht: Zunächst einmal werden legislative, exekutive und judikative Aufgaben (Gestaltung des öffentlichen Raumes, Gewährleistung öffentlicher Sicherheit, Beilegung von Streitfällen) ihrer (mindestens formell51 ) demokratischen Regulierung innerhalb staatlicher Institutionen entzogen. Dass eine demokratische Vorgehensweise und die Verteidigung demokratisch bestimmter normativer Konzepte (wie etwa dem der Menschenwürde, der Rechtsgleichheit, etc.) in den neuen, partikularen, informelleren Institutionen oberstes Gebot bleiben, ist zwar theoretisch möglich aber nicht eben wahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist - gemäß dem liberalen Traum von der Identität zwischen dem Nützlichen und dem Guten - eine Ausrichtung der Entscheidungsfindungsprozesse an ökonomischen Rationalitäten. Bröckling arbeitet genau dieses heraus: Er weist daraufhin, dass das den meisten Mediationsverfahren zugrundeliegende „Harvard-Konzept” die Konfliktparteien ausschließlich als „interessengesteuerte und nutzenmaximierende Rational- Choice -Akteure”, als homines oeconomici also, begreift, und es sich hier somit letzlich, so Bröckling, um den Versuch handelt, „alle sozialen Beziehungen im Rückgriff auf ökonomische Kalküle zu pazifizieren” (Bröckling 2004b:138-139).
Problematisch ist weiterhin, dass die Mediationsverfahren (durch ihr „neutrales” Setting und Vokabular, durch das auf Konsens und die Herstellung von „ Win-win- Situationen” zielende Verfahren sowie durch den „allparteilichen” Mediator) die Möglichkeit „egalitärer Partizipation” suggerieren und damit bestehende Machtasymmetrien der Konflikt- oder Verhandlungspartner zwar nicht leugnen aber doch verdecken (Bröckling 2004b:130-131).
2.2 Zweiter Kreis - die Fragmentierung der Gruppe: Der Unternehmer seiner selbst
Das „Regieren durch Community” und die Anwendung von Mediationsverfahren stellen nicht nur Mechanismen dar, die den Raum von kollektiver Verantwortlichkeit von einer größeren auf eine kleinere Gemeinschaft übertragen; nicht nur Mechanismen, die „das Soziale” als „eine Ordnung kollektiver Verantwortung und Pflicht” durch eine „Vielzahl heterogener und einander überlagernder Netzwerke sozialer Anteilnahme und persönlichen Einsatzes” ersetzen (Rose 2004:83). In ihnen ist zugleich der nächste Schritt, der ‹Zweite Kreis› angelegt, der darin besteht, kollektive Verantwortlichkeit insgesamt entweder abzulehnen oder gleich ganz zu bestreiten. An die Stelle der kollektiven tritt der Verweis auf eine allumfassende individuelle Verantwortlichkeit (vgl. auch Ewald 1991 und 1993).
Wer beispielsweise zu einem privilegierten „Netzwerk sozialer Anteilnahme” dazugehören will, muss sich dafür zunächst einmal persönlich qualifizieren, indem er sein „Handeln nach Maßgabe einer ‹Investition› in die eigene Person” gestaltet und sich so als ‹lohnendes› Mitglied präsentiert (Rose 2004:94-95). Was in der Roseschen Analyse anklingt, ist offenbar der Rekurs auf die Humankapitaltheorie und auf das, was Foucault als Leitbild des Neoliberalismus herausgearbeitet hat, nämlich die Fassung des Menschen als homo oeconomicus und die Fassung des homo oeconomicus als ein „Unternehmer seiner selbst”.
Den Vertreter_Innen der Gouvernementalitätsstudien gelingt es, die implizite oder explizite axiomatische Geltung dieses Menschenbildes in verschiedenen aktuellen Praktiken und Diskursen herauszuarbeiten und sodann die mannigfachen und weitreichenden Konsequenzen der Implementierung desselben zu thematisieren.
2.2.1 Persönlichkeitsentwicklung, Sinngebung und das neoliberale Gebot des Selbstseins
Ulrich Bröckling (2004), untersucht das „ Top Quality Management” (TQM), ein mittels Deutscher Industrienorm (DIN) institutionalisiertes Verfahren zur Optimierung von Unternehmenserfolg, dessen Grundlage darin besteht, die Prinzipen von marktwirtschaftlichem Wettbewerb auch auf die internen Betriebsabläufe zu übertragen (Bröckling 2004:135-138):
„Jede Abteilung, jeder einzelne Mitarbeiter sind demnach als Kunde der vorgelagerten und als Lieferant der nachgelagerten Phase in der Wertschöpfungskette anzusehen. (...) Aus Lohnempfängern sollen ‹Intrapreneure› werden, die Verantwortung übernehmen, Engagement zeigen und ihre Arbeitsplätze (...) selbständig optimieren.” (ebd.:138-139)
Dafür, so die weitere Überlegung des TQM laut Bröckling, brauche es „ein Höchstmaß an Motivation”. Aus diesem Grunde erschienen „Mitarbeiter- und Kundenorientierung” dann als „zwei Seiten einer Medaille” (ebd.:140-141):
„Müssen die Produkte und Dienstleistungen den Ansprüchen der externen Abnehmer entsprechen, so die Arbeitsbedingungen den Wünschen der Mitarbeiter.” (ebd.:140)
Folglich müsse ein/e erfolgsorientierte/r Arbeitgeber_In seinen/ihren Arbeitnehmer_Innen „nicht nur Geld, sondern auch ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl, nicht nur Selbstbestätigung, sondern auch eine ‹Mission›” anzubieten haben (ebd.:141); der „Arbeitsplatz (...) als ein Ort persönlicher Entwicklung”, wie Rose es in seinem Kontext formuliert (Rose 2004:93). Was auf den ersten Blick wie das lange eingeforderte Ende fremdbestimmter Arbeit erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als äußerst ambivalent. Bröcklings Kritik geht im Wesentlichen in zwei Richtungen:
- Erstens sei die vermeintlich geförderte umfassende Selbstbestimmung, die Festigung sozialer Bindungen und die Sinngebung - wegen der Ausweitung des marktwirtschaftlichen52 Prinzips auf die sozialen Beziehungen von Mitarbeiter_Innen auch innerhalb eines Betriebes - eben nur innerhalb von ebensolchen marktwirtschaftlichen Grenzen, nur in Konformität mit betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien möglich (vgl. Bröckling 2004:142,154 und Bröckling et al. 2004:30).
- Zweitens werde in dem Prozess der „diskursive(n) Verwandlung von Vorgesetzten und Untergebenen in interne Kunden und Lieferanten” - ähnlich wie beim Phänomen der Mediation - „eine Win-win- Situation gleich gerichteter Interessen” suggeriert und die zweifellos bestehende „Asymmetrie innerbetrieblicher Machtrelationen” verdeckt. Der anleitende Qualitätsmanager figuriere dabei paternalistisch „als ‹guter Hirte›”, der wisse, „was die ihm Anvertrauten brauchen” (Bröckling 2004:141-142).
Kommen wir zunächst näher auf den ersten Punkt zu sprechen, der mir sehr zentral zu sein scheint - den zweiten Punkt werde ich im nächsten Teilkapitel (Kap. E 2.2.2) genauer besprechen.
Persönlichkeitsmerkmale, sogenannte soft skills wie „Selbstverantwortung, Kreativität, Eigeninitiative, Durchsetzungsvermögen und Teamfähigkeit” (Bröckling 2004:161), „Selbstreflexion, Selbstgestaltung (...), Optimismus” und „Flexibilität” (Duttweiler 2004:164) werden in der post-fordistischen, neoliberalen Arbeitswelt zweifellos immer wichtiger und von Arbeitgeber_Innen immer häufiger explizit gefordert. Nun werden aber, so die These der Gouvernementalitätsstudien, diese Fähigkeiten nicht nur, was sich von selbst versteht, in den Dienst eines marktwirtschaftlichen Handelns gestellt, sondern, sie werden zuallererst einmal innerhalb einer marktwirtschaftlichen Rationalität, anhand von marktwirtschaftlichen Zielsetzungen und in marktwirtschaftlichen Begriffen entwickelt. Mit Foucault können wir sagen: Individuen werden in der modernen Arbeitswelt durch Fremdführungstechniken dazu angeregt, sich mit den eigenen Selbstführungstechniken zu konditionieren und zwar, „in der Form und nach dem Vorbild der Ökonomie”.
Bröckling (2004) zeichnet in einer kritischen Lektüre der „umfangreiche(n) Ratgeberliteratur zum Persönlichkeits - Coaching und Selbstmanagement” (ebd.:135) nach, wie weit die Übertragung der marktwirtschaftlichen Unternehmensform auf das Selbst getrieben und gefordert wird: Der Unternehmer seiner selbst wird beispielsweise angehalten, seine „DATA” kritisch zu evaluieren53, seine „Stärken und Schwächen wie ‹Soll› und ‹Haben›” in ein imaginäres „‹inneres Konto›” einzulisten54, um auf diese Weise „seine Ressourcen zu erkennen, zu nutzen und auszubauen” und so am Markt zu bestehen (Bröckling 2004:154). Am Ende der Übung stehe die Kreation einer unverwechselbaren „Marke Ich”55, die ob ihrer Einzigartigkeit Nischen besetzen und Erfolg haben könne (ebd.:157). Ein neoliberales „Gebot zum Selbstsein” also (Rose 1989, 1998), ein Selbstsein freilich, das sich nur als homo oeconomicus realisieren kann.
Dabei werden Selbstreflexion und Persönlichkeitsentwicklung in marktwirtschaftlichen Bahnen nicht nur als Garanten für beruflichen Erfolg und Wohlstand, sondern auch ganz allgemein für „Zufriedenheit” ausgegeben (Bröckling 2004:154-156). So gesehen geht Stefanie Duttweiler (2004) einen logischen Schritt weiter, wenn sie den Blick auf das „Genre ‹Glücksratgeber›” ausweitet. In Ratgebern dieser Art werde den Leser_Innen nahegelegt, mittels einer Vielzahl konkret vorgeschriebener Praktiken - mit Foucault können wir wieder von Selbstführungstechniken sprechen - „sich und die eigene Lebensführung zu steigern und zu verbessern” (Duttweiler 2004:152). Somit werde „nun auch für das persönliche Glück” die Geltung eines „ökonomische(n) Modell(s)” eingefordert: „permanente Steigerung, unendliche Akkumulation und kreative Abschöpfung jeder sich bietenden Gelegenheit” (ebd.:163). Die Festschreibung von Persönlichkeitsentwicklung, sozial-emotionaler Bindung und Sinngebung insgesamt auf marktwirtschaftliches Terrain wäre also die erste Konsequenz einer umfassenden Implementierung des neoliberalen Menschenbildes. Eng damit verbunden sind weitere Implikationen: insbesondere eine veränderte Auffassung von individueller Verantwortung gegenüber dem erfreulichen oder weniger erfreulichen Verlauf des eigenen Lebens.
2.2.2 Individualisierung von Verantwortung, Privatisierung von Risiken: die Apologie sozialer Ungleichheit
Bröcklings zweiter Kritikpunkt - die Suggestion „gleich gerichteter Interessen” (Bröckling 2004:142), „egalitärer Partizipation” (ebd.:130) und die Verdeckung der de facto bestehenden „Asymmetrie” von „Machtrelationen” - zielt darauf ab, dass die Unternehmerin ihrer selbst, da sie ja mündig und eigenverantwortlich handelt, auch allein mit den Schicksalsschlägen - und allgemeiner: - mit allen Situationen fertig werden muss, in die sie in unserer zeitgenössischen, ausdifferenzierten, globalisierten, kapitalistischen Arbeitsgesellschaft geraten kann (vgl. Lemke 2007:55). Unternehmer_Innen übernehmen die volle Verantwortung für ihre Unternehmen; die Unternehmerin ihrer selbst soll das gleiche für die „Marke Ich” tun. Gelingt dieser Versuch, die Verantwortlichkeit für persönliche Schicksalschläge im Allgemeinen und die Verteilungswirkungen der kapitalistischen Marktwirtschaft im Speziellen ganz in den Bereich des Individuums zu verschieben, so stellt dieses zugleich eine Apologie unbegrenzter sozialer Ungleichheit dar.
Wie dieser Versuch unternommen wird, weisen Bröckling und Duttweiler u.a. an der zurzeit äußerst populären Management- und Glücksratgeberliteratur nach. Hier werde Erfolg zur „Einstellungssache”, zu einer ausschließlichen Frage des Willens stilisiert: Man müsse ihn wollen, man müsse an sich glauben und man müsse an sich arbeiten, dann werde er sich auch einstellen. Für die Modellierung des Willens werden permanente Selbstevaluation, positive thinking und weitergehende Formen von Autosuggestionstechniken, wie etwa „Neurolinguistisches Programmieren” als Selbstführungstechniken empfohlen (Bröckling 2004:153-159, Duttweiler 2004:159-160). Stellt sich der erhoffte Erfolg nicht ein, so bedeutet dies im Umkehrschluss den Beleg für ein „persönliches Versagen”. „An seinem Unglück ist jeder selbst schuld.”(Bröckling 2004:156) „Empowerment und Demütigung gehen Hand in Hand.” (Bröckling 2004:162).
Henning Schmidt-Semisch (2004) weist die neoliberale Tendenz (zurück) zum Prinzip der uneingeschränkten Eigenverantwortlichkeit auf einem Gebiet nach, wo per definitionem eigentlich ein Raum kollektiver Risiken und Verantwortung besteht, nämlich in Versicherungsgemeinschaften. Er arbeitet zunächst den traditionellen Antagonismus zwischen der Funktionsweise von privaten und staatlichen Versicherungsgemeinschaften heraus.56
Am Beispiel der Krankenversicherung zeigt er dann die zunehmende Hegemonie des privaten gegenüber dem staatlichen Versicherungsprinzip auf - eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahren noch deutlich verschärft hat: Die Kürzung, Budgetierung und Pauschalisierung von Kassenleistungen, ihre partielle Auslagerung und Umwandlung in „freiwillige Zusatzleistungen” lassen einen ‹mündigen› „Patienten-Konsumenten” (ebd.:173) entstehen, der - ganz Unternehmer - sein eigenes Risikopotenzial selber einschätzt und sodann über den gewünschten Umfang der Investition in sein Kapital ‹Gesundheit› entscheidet. Die Rhetorik bei der Umsetzung dieser Verschiebungen ist dabei „‹emanzipatorisch› und euphemistisch zugleich” und in der gleichen Weise ambivalent wie bei den communities und der Mediation: „Sie verwandelt den Spar zwang in ein vermeintliches Gesundheits angebot und Leistungskürzungen in Wahlfreiheit und Selbstbestimmung.” (ebd., Hervorh. im Original)
Auch werde zunehmend die gruppenspezifische Berechnung des Risikopotentials für ‹gefährdete Personenkreise› postuliert: Einerseits in Form von Sonderbeiträgen (für „Raucher, Trinker, Übergewichtige oder Drachenflieger” und andere ‹Unvernünftige›), andererseits in Form von ‹freiwilligen›, umfassenden Präventionsmaßnahmen. Beides eröffne neue, engmaschigere Kontrollmöglichkeiten durch die Aktivierung von Selbstführungstechnologien, denn wer nicht zusätzlich zahlen kann oder will, muss eben aufhören zu rauchen, regelmäßig beim Zahnarzt erscheinen und sich noch anderweitig in der erwünschten Weise verhalten (ebd.:173-175). Mit Foucault können wir sagen, dass hier im Gesundheitssystem neue Sicherheitsdispositive errichtet werden: Als Fremdführungstechniken können (nicht nur aber insbesondere) die neuen staatlichen Regeln und Gesetze identifiziert werden, welche den Individuen die Wahlfreiheit zwischen bestimmten Alternativen aufoktroyieren und auf diese Weise ihre Selbstführungstechniken aktivieren und ausrichten, welche sodann im Regelfall dafür sorgen, dass sich die Individuen selbst in die gewünschte Richtung führen, dorthin nämlich, wo Kosten minimiert, die Gesundheit und das Los der Bevölkerung hingegen maximiert werden können.57 Das „Recht des Patienten auf Information” schlägt dabei zunehmend in eine „Pflicht der Informiertheit” um (ebd.:173). „Wer krank wird, muss nachweisen, dass er seine Krankheit nicht selbst verschuldet hat.”58 Der gleiche Prozess einer Durchsetzung der versicherungsmathematischen gegenüber der sozialen Gerechtigkeit, (und damit einhergehend die Inaugurierung von neuen umfassenden Sicherheitsdispositiven), ist in Deutschland zweifellos mit der Umsetzung der „Agenda 2010" und ihrem (wieder einmal) emanzipatorisch-euphemistischem Leitprinzip „Fördern und Fordern” verbunden. In diesem Kontext ist es die Arbeitslosigkeit, für die die Ursachen zunehmend auf seiten der Einzelnen gesucht und als Folge „ihrer [der Arbeitslosen, S.A.] psychischen Verfassung, ihrer Neigung und Motivation betrachtet” werden, wie Rose in seinem Kontext bereits 1996 diagnostiziert (Rose 2004:93).
2.3 Dritter Kreis - die Fragmentierung des Körpers: Die Verantwortlichkeit der Gene
Kommen wir noch einmal auf den Gesundheitsbereich zurück. Die Verlagerung von Verantwortung auf den Einzelnen ist, wie Schmidt-Semisch betont, ganz wesentlich an einen Zuwachs der (theoretisch) verfügbaren Informationen über ‹risikoreiches› oder ‹gesundheitsschädigendes› Verhalten gekoppelt (also z.B. über die Gefahren des Rauchens oder fettreicher Ernährung). Denn dieses Wissen vergrößert den Spielraum für „Entscheidungs- und Gefahrenabwendungsmöglichkeiten” (Schmidt-Semisch 2004:185).
Lemke (2004) konstatiert denselben Mechanismus, die Installation eines analog gelagerten „Dispositiv(s) der Sicherheit” (ebd.:242) auf dem Gebiet der Molekularmedizin, welche seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms mit einer Fülle neuer Informationen und Techniken aufwartet. Er thematisiert insbesondere die Pränataldiagnostik, die (mittels statistisch korrelierter ‹Risikofaktoren›) Aussagen über (wahrscheinliche, zukünftige) Krankheiten des Ungeborenen macht und mit der Option der Abtreibung aufwartet. So werde jede Schwangerschaft zu einer „Schwangerschaft auf Probe” degradiert (ebd.:248). Die Neigung werdender Mütter, ihr Ungeborenes unter dem Einfluss des ‹Sicherheitsdispositivs Pränataldiagnostik› einem derartigen „genetischen Konjunktiv” zu unterstellen, sei bereits heute hoch (ebd.:248). Darüber hinaus werde bereits über rechtliche Sanktionen diskutiert (ebd.:255- 256) und auch aus einer Perspektive versicherungsmathematischer Gerechtigkeit erscheint es leicht denkbar, dass eine Mutter, die die Anwendung der Diagnose ablehnt oder die gar trotz eines ‹positiven› Diagnoseergebnisses ein schwer krankes Kind zur Welt bringt, mit versicherungstechnischen, sprich finanziellen Sanktionen rechnen muss.
„Das Recht auf Gesundheit realisiert sich als Pflicht zur Information. (...) Nach der Aufklärung über die Geheimnisse des genetischen Codes gibt es keine Unmündigkeit mehr, die nicht selbstverschuldet wäre. Die Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmung hat daher nichts mit (...) prinzipieller Ergebnisoffenheit zu tun. Vielmehr ist das Selbstbestimmungspostulat an gesellschaftliche Normen und materiale Zielbestimmungen rückgekoppelt, die (...) einen bestimmten Gebrauch der Freiheit sicherstellen.” (ebd.:252-253)
Als Anwendungsfelder für Gentests thematisiert Lemke außerdem die Selektion potentieller Versicherungs- und Arbeitsplatznehmer_Innen (ebd.:246-247).
In allen drei Fällen wird die Verantwortlichkeit auf eine noch kleinere Ebene delegiert, wir können von einem ‹dritten Kreis› sprechen: Verantwortlich für die Entscheidung über Aufnahme/Nichtaufnahme (in eine Versicherung), Einstellung/Nichteinstellung (in ein Arbeitsverhältnis) und schließlich über Leben/Nichtleben ist nicht länger das Verhalten oder die Fähigkeit eines Individuums, sondern die Konfiguration einzelner Gene.
Insofern werdende Eltern Geld für ‹freiwillige› Zusatzuntersuchungen ihres Ungeborenen bezahlen, um im Falle eines ‹positiven› Ergebnisses mit Abtreibung zu reagieren oder insofern sie die sich ausweitenden Möglichkeiten von künstlicher Befruchtung und Präimplantationsdiagnostik mit dem Ziel nutzen, vorab Einfluss auf die genetische Ausstattung ihres Nachwuchses zu nehmen (vgl. ebd.:248-249), ist die Verbindung zum ‹zweiten Kreis› hergestellt: Die Eltern handeln dann als ‹Familienunternehmer_Innen›, die gewissermaßen präventiv in das Humankapital ihrer Kinder investieren.
In den Fällen, in denen Gentests Erwachsene von Lebenschancen und materiellen Vorteilen ausschließen, offenbart das neoliberale Projekt der Atomisierung von Verantwortlichkeit seine Perfidität mit besonderer Klarheit. Denn da es „für die meisten gendiagnostizierten Krankheiten keine Therapiemöglichkeiten gibt” (ebd.::246), ist hier eigentlich die Nicht-Verantwortlichkeit des Individuums besonders evident; trotzdem dürften neoliberale Fremd- und Selbstführungstechniken das Individuum eher davon überzeugen, dass es ‹jetzt erst recht› und ‹umso mehr› verpflichtet ist, sich anzustrengen, gesund zu leben und sein Manko irgendwie wettzumachen - und nicht etwa davon, dass es ein (ethisch und somit außerhalb der neoliberalen Rationalität fundiertes) Anrecht auf kollektive Unterstützung hätte.
2.4 Perspektivwechsel - die Fragmentierung der Bevölkerung: Neoliberale Souveränität durch ökonomischen Rassismus.
Bisher habe ich mit Rekurs auf die Gouvernementalitätsstudien die neoliberalen Regierunsgtechniken aus der Perspektive der Individuen analysiert. Jetzt möchte ich den Blick auf die staatliche Ausübung von Herrschaft und Macht, mithin auf die staatliche Souveränität in Zeiten der Biomacht richten.
Die Pränataldiagnostik hat offenbar den Anspruch, „Lebenswertes von Lebensunwertem” zu scheiden (Lemke 2004:228). Wie kommt es, dass dies weithin akzeptiert wird? Wie kann die Medizin, bzw. die Politik, welche das Vorgehen gesetzlich absichert, ihr Handeln legitimieren? In Foucaults Worten: „Wie kann diese Macht, die wesentlich die Hervorbringung von Leben zum Ziel hat, sterben lassen?” (MF 1976:294) Im Gegensatz zur althergebrachten, restriktiven Königsmacht kann sie dies offensichtlich nicht bewerkstelligen, indem sie auf einen Fundus von gottgegebenen oder vertraglich übertragenen Rechten verweist, indem sie also einen juridischen Legitimierungsversuch betreibt. Die Legitimierung kann ihr nur gelingen, wenn sie innerhalb der ihr eigenen Rationalität verbleibt; id est wenn es ihr gelingt ihr Handeln utilitaristisch zu begründen; wenn es ihr gelingt zu erklären, warum eine - diese oder jene Lebensformen ausgrenzende - Handlung im Interesse des Los der Bevölkerung notwendig ist (MF 1979:32-33, 73-74). An genau dieser Stelle kommt, so analysiert Foucault, „der Rassismus ins Spiel.” (MF 1976:294): Ihm sei die historische Funktion zugekommen,
„in diesem Bereich des Lebens, den die Macht in Beschlag genommen hat, eine Zäsur einzuführen: die Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muß (...) Die Unterscheidung von Rassen, die Hierarchie von Rassen (...) stellt eine Art und Weise dar, das biologische Feld, das die Macht besetzt, zu fragmentieren; eine Art und Weise im Innern der Bevölkerung Gruppen gegeneinander auszuspielen” (ebd.:295).
Auf diese Weise gelinge es der produktiven Macht, das souveräne Recht über Leben und Tod zu behaupten und somit die Fähigkeit, bestimmte Handlungen im Zweifelsfall auch zu erzwingen oder zu unterbinden. Daher sei Rassismus ein Prinzip, das in allen modernen Staaten Anwendung finde (ebd.:302). Nur er könne die Notwendigkeit des Tötens innerhalb einer Rationalität erklären, bei der es „im wesentlichen darum geht, das Leben aufzuwerten, seine Dauer zu verlängern, seine Möglichkeiten zu vervielfachen. (ebd.:294): „Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch Rassismus.” (ebd.:297). Dies gelinge der ‹Denkfigur Rassismus› durch den biopolitisch-utilitaristischen Rekurs auf das Konstrukt der Entität ‹Bevölkerung›, gedacht als ein einziger lebender Organismus:
„Der Tod des Anderen, der Tod der bösen Rasse, der niederen (oder degenerierten oder anormalen) Rasse wird das Leben im allgemeinen gesünder machen; gesünder und reiner.” „Je mehr anormale Individuen vernichtet werden, desto besser werde ich - nicht als Individuum, sondern als Gattung - leben, stark sein, kraftvoll sein und gedeihen.” (ebd.:296)
Eben diese Funktion, die Souveränität der Biopolitik durch eine Fragmentierung der Bevölkerung zu bewahren, werde heute, so die These Lemkes, von dem „ökonomische(n) Prinzip und de(m) Begriff der Selbstbestimmung” erfüllt (Lemke 2004:256).
Das Problem der Fragmentierung und der damit verbundenen Logik von Inklusion und Exklusion ist auch in den übrigen hier besprochenen Gouvernementalitätsstudien ein zentrales Thema. In den Diskursen um Mündigkeit und Eigenverantwortlichkeit geht es immer auch darum, dass „eine neue Trennlinie gezogen [wird, S.A] zwischen jenen, die man für verständige Bürger hält, und jenen, denen man diese Eigenschaft abspricht” (Rose 2004:89); zwischen jenen, die willens und in der Lage sind, „ihr Handeln nach Maßgabe einer ‹Investition› in die eigene Person und ihre Familie [zu, S.A.] kalkulieren” (ebd.::94-95) - immer basierend auf „Entscheidungsfreiheit, Autonomie und Konsum” (ebd.::99) - und jenen, die das nicht sind. Was als offenkundige Exklusion bei bestimmten Personenkreisen beginnt59, wird schnell zu einem Massenphänomen: die „neue Unterschicht”, das, „abgehängte Prekariat”. Die Abstiegsangst der Mittelschicht, genau als solches zu enden, sorgt in diesem Prozess zusätzlich dafür, dass sich die breite Masse der Bevölkerung gemäß dem neoliberalen Leitbild führt, führen lässt und verhält (vgl. Schmidt-Semisch 2004:189). Große soziale Ungleichheit und Armut sind innerhalb der neoliberalen Rationalität keineswegs Nebeneffekte oder akzeptable ‹Koleteralschäden› der Marktwirtschaft, sondern wichtige Regierungstechniken, wichtige Formen „des Einwirkens auf das rationale Verhalten der Einzelnen” im Sinne einer „Sanktionierung von fehlerhaftem oder nichtrationalen Verhalten” - kurz: „Regieren über Armut” (Gertenbach 2007:138) mit der ‹Zielvorgabe homo oeconomicus ›.
3. Die Essenz neoliberaler Regierungstechniken: Intensives Regieren über verengte und hergestellte Freiheit
Wie die Beispiele gezeigt haben, handelt es sich vom Impetus her bei den neoliberalen Praktiken um eine radikalisierte Reanimation klassisch-liberaler Positionen, insofern sie alle auf eine vehemente Verantwortungszuschreibung an das Subjekt hinauslaufen oder, anders herum formuliert, auf die Verneinung kollektiver Verantwortlichkeit (vgl. Gertenbach 2007:136).
Wie dies genau vonstatten geht, welches also die Merkmale der bevorzugten Regierungstechniken sind (egal ob es sich hierbei um Herrschafts- oder Machttechniken, um Selbst- oder Fremdführungstechniken handelt), ist bisher nur mittelbar anhand der Beispiele thematisiert worden und soll nun noch einmal genauer gefasst werden. Die Beschreibung der Wirkungsweisen neoliberaler Regierungstechniken durch die Gouvernementalitätsstudien wird Antworten auf meine Ausgangsfrage liefern: ‹Woran liegt es, dass in einem (formell) freien und demokratisch regierten Land wie der BRD Tatbestände, welche zweifellos von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung als Missstände identifiziert werden, nicht behoben sondern ‹freiwillig› reproduziert und verstärkt werden?› Im Anschluss an diese Antworten kann dann versucht werden, das Konzept eines BGE darauf hin zu befragen, inwieweit es geeignet wäre, an dem in der Frage impliziert kritisierten Zustand etwas zu ändern.
Grundlegendes Merkmal jeder liberalen Politik ist es, auf das zweckrationale Verhalten und das Selbstorganisationspotential der unmittelbar von Vorgängen Betroffenen zu setzen. Der klassische Liberalismus betrachtet dabei den homo oeconomicus und seine Interessen als nicht weiter zurückführbare (und damit auch nicht beeinflussbare, nicht regierbare) Instanz, welche das Regierungshandeln gewissermaßen räumlich begrenzt. Der Neoliberalismus geht hier den entscheidenden Schritt weiter, indem er dieses Prinzip des Laissez-faire gegen einen vehementen Interventionismus eintauscht, welcher aus der Sorge um das optimale Funktionieren des freien Marktes entspringt. Gertenbach (2007) spricht treffend davon, dass der Markt nach neoliberaler Überzeugung „kultiviert” werden muss.60
Bei dieser Kultivierung beschränken sich die (staatlichen und anderweitigen) Regierungen keineswegs auf eine eng gefasste ökonomische Sphäre (etwa Zollpolitik, freier Zutritt zum Markt, Kartellrecht usw.). Vielmehr machen sie sich eine „Ausweitung ökonomischer Formen auf das Soziale”, die „Universalisierung des Wettbewerbs und die Erfindung marktförmiger Handlungssysteme für Individuen, Gruppen und Institutionen” zur Aufgabe (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004:16). Unter diesem Blickwinkel können sowohl die massiven Privatisierungen von Staatsunternehmen in den letzten zwanzig Jahren gesehen werden als auch die hier besprochene Privatisierung von Risikovorsorge (Schmidt-Semisch) und von vormals hoheitlichen Aufgaben (Rose) und die Erfindung gänzlich neuer Betätigungsfelder rund um die Gendiagnostik (Lemke). Was die Individuen betrifft, so erheben die neoliberalen Regierunsgtechniken ebenfalls einen umfassenden Gestaltungsanspruch, denn da es ohne Marktteilnehmer_Innen keinen Markt gibt, müssen die Individuen als solche konditioniert werden.61 Auch die Individuen müssen also „kultiviert” werden; der Unternehmer seiner selbst, auf den alle neoliberale Politik zielt und über den sie sich zugleich legitimiert, muss zuvorderst hergestellt werden (vgl. Gertenbach 2007:171).
Diese Analyse hat bereits Foucault im Grundsatz geleistet, ausgehend von den Schriften neoliberaler Vordenker_Innen. Jedoch deutet Foucault die Tragweite der neoliberalen Schlussfolgerung nur an, wenn er darauf hinweist, dass die Tatsache, dass die Individuen nur insoweit regierbar werden, wie sie sich als homines oeconomici konditionieren und verhalten, „keineswegs” per se - also ohne eine entsprechende Konditionierung - „bedeutet (...), daß jedes Individuum, jedes Subjekt ein homo oeconomicus ist” (MF 1979:349). Die Vertreter_Innen der Gouvernementalitätsstudien hingegen arbeiten die Tragweite der Konsequenz deutlich heraus: Selbstorganisation in communities, Mediationsverfahren, Ausrichtung an TQM-Maßstäben oder Glücksratgebern, Autosuggestion, private Risikovorsorge - all das sind Verhaltensweisen, die, insofern sie regelmäßig praktiziert werden, auf eine Modifizierung der Persönlichkeit hinauslaufen; auf eine Modellierung des Verhältnisses der Individuen zu sich selbst und zu anderen, und zwar mit der „Fluchtlinie” des „Unternehmers seiner selbst” des neoliberalen homo oeconomicus (Gertenbach 2007).
Damit ist ein weiteres zentrales Merkmal neoliberaler Regierungsrationalität angesprochen: Die anvisierte Persönlichkeitsmodellierung kann nur durch die intensive Inanspruchnahme von Selbstführungstechniken realisiert werden; sie erfordert stets die aktive, ‹freiwillige›, aus ‹rationaler Erwägung resultierende› Anwendung durch die Individuen selbst. Deshalb ist neoliberales Regieren ganz besonders und genuin eine „Führung der Führungen” und ein Regieren über Sicherheitsdispositive.
Insofern die Analysen gezeigt haben, dass der Horizont bei den Persönlichkeitsmodellierungen stets die Unternehmerin ihrer selbst ist und sich die Instruktionen nach dem Vorbild und in der Form der Ökonomie entfalten, kann es mit der ‹Freiwilligkeit› - und mit der ‹Freiheit›, auf welche die ‹Freiwilligkeit› rekurriert - nicht weit her sein.
Vielmehr handelt es sich um eine Freiheit, die sich nur innerhalb eines marktwirtschaftlich vordefinierten Rahmens bewegen kann; um ein „Selbstbestimmungspostulat”, das „an gesellschaftliche Normen und materiale Zielbestimmungen rückgekoppelt [ist], die (...) einen bestimmten Gebrauch der Freiheit sicherstellen” (Lemke 2004:253), die also „‹freiwillige Zwänge›” produzieren. Die hier proklamierte Freiheit ist also mehr „‹regulatives Ideal›” (Greco 2004:265) und „Technologie” einer neoliberalen Regierungsrationalität (Osborne 2004:41) denn ein umfassendes und von Zweck-Mittel-Überlegungen unabhängiges Gut. Susanne Krasmann (1999:117) fasst die Gemengelage pointiert zusammen, wenn sie sagt, es wandele sich „das liberale Prinzip des Regierens über Freiheit zum neoliberal geprägten Regieren durch Manipulation”.
Die manipulierte Produktion von Freiheit und Selbstorganisation - zugleich unverzichtbare Grundlage und erster Effekt neoliberalen Regierens - ist dabei in allen besprochenen Fällen mit einem spezifischen Wissen verbunden: Sie funktioniert „über die Mobilisierung von Entscheidungsoptionen und -zumutungen” (Lemke 2004:256). Das Wissen in den verschiedenen Diskursen expandiert permanent und stellt immer neue Bereiche des menschlichen Lebens als ‹beherrschbar›, ‹regierbar› und somit ‹verantwortbar› dar.62 Gleichzeitig gibt es in keinem dieser Bereiche eine feststehende Norm, die man erfüllen könnte, um sich sodann zufrieden zurückzulehnen: Man lebt nie ‹gesund genug›, „‹Empowered› ist man nie genug” (Bröckling 2004:141), die genetische Ausstattung des eigenen Nachwuchses ist nie ‹optimal genug› (vgl. Lemke 2004:238) und glücklich ist man daher schon erst recht nie genug. Auf diese Weise eröffnet das neoliberale Macht-Wissen-Regime einen prinzipiell unendlichen Interventionsraum, beschränkt nur durch die ihm eigene Rationalität marktwirtschaftlichen Verhaltens.
Die wichtigsten Wirkungen, die die neoliberalen Regierungstechniken entfalten, sind die Vereinseitigung der Subjekte als homines oeconomici, die gesellschaftlich-moralische Apologie sozialer Ungleichheit und die Exklusion von Menschen entlang ökonomischen Kriterien. Somit decken sich die Wirkungen der neoliberalen Regierungstechniken mit den eingangs konstatierten Verwerfungen, welche sich gut in zwei - freilich eng miteinander verknüpfte - Oberkategorien fassen lassen:
- Erstens: ‹große soziale Ungleichheit und starke Exklusion› (wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit, Privatisierung von Vermögen sowie Sozialisierung von Schulden, Abstiegsangst der Mittelschicht, Prekarisierung von Lebenssituationen, Exklusion).
- Zweitens ‹wettbewerbliche und konsumorientierte Vereinseitigung des Verhältnis des Individuums zu sich selbst und zu anderen› (Leistungsdruck, Konsumzwang Abnahme sozialer Bindungen, Ellenbogengesellschaft, Exklusion).
Im Lichte der bisherigen Untersuchungen können die eingangs konstatierten Verwerfungen deshalb als ‹neoliberal› qualifiziert werden.
Kapitel F Das Konzept eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) vor dem Hintergrund von neoliberaler Gouvernementalität und Biopolitik
1. Einführung in das Konzept eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE)
1.1 Grundlegendes zum Grundeinkommen
Die Idee eines BGE besteht darin, Arbeit und monetäres (Basis-)Einkommen konsequenter als bisher zu trennen, darin nämlich,
„allen Bürgern eine Basisleistung auszuzahlen, die an keinerlei weitere Bedingungen geknüpft und mit jeder Form eines zusätzlichen Einkommens kumulierbar ist.” (Vanderborght/Van Parijs 2005:11)
Das BGE bricht somit mit fundamentalen Grundsätzen bisheriger (Wohlfahrts-)Staatlichkeit, welche in der Regel vorsehen,...
a) staatliche Geldleistungen nur im Gegenzug zu zuvor individuell eingezahlten Beiträgen zu gewähren (z.B. Krankenkassenleistungen), wobei die Höhe der gewährten Leistungen in manchen Fällen von der Höhe der entrichteten Beiträge abhängt (z.B. Arbeitslosengeld I (ALG I), Rente) und die Gewährung der Leistungen nur zeitlich beschränkt und nur unter bestimmten Bedingungen erfolgt (Krankheit, Arbeitslosigkeit und -bereitschaft, hohes Lebensalter).
b) ansonsten staatliche Geldleistungen nur zu gewähren, wenn und solange nachweislich eine individuelle Bedürftigkeit vorliegt, wobei die Gewährung der Leistung dann an zahlreiche weitere Bedingungen und Auflagen geknüpft ist (z.B. ALG II plus Pflichtbeiträge für Krankenkassenleistungen und eine Sockelrente, Sozialhilfe).
c) die staatlichen Geldleistungen zurückzufahren, sobald ein anderweitiges Einkommen erzielt wird (bei ALG I nur insofern es sich um Einkommen aus Arbeit handelt; bei ALG II hingegen bei jedwedem Einkommen).
Freilich gibt es auch heute schon zahlreiche staatliche Geldleistungen, die nicht oder nur sehr bedingt diesen fundamentalen Grundsätzen entsprechen.63
1.2 Das BGE in der Diskussion: liberale und libertäre Positionen
Die Forderung nach einer Entkopplung von Arbeit und materieller Grundausstattung für alle Bürger_Innen ist keineswegs neu, sondern reicht ideengeschichtlich mindestens bis ins frühe 16. Jahrhundert zurück.64 In den 1980er Jahren erlebte die Debatte in Deutschland und anderen europäischen Ländern einen vorläufigen Höhepunkt, wobei die Protagonist_Innen vornehmlich aus akademischen, linken und ökologisch bewegten Kreisen kamen (Vanderborght/Van Parijs 2005:31-35; Opielka 2007:6-7).65
Nach zunächst abflauendem Interesse in den 1990er Jahren, hat sich die Debatte seit 2003 sehr verbreitet66, so dass die Forderung nach einem BGE heute in einer breiteren Öffentlichkeit von (fast) allen politischen Parteien, von unterschiedlichsten Persönlichkeiten und Interessengruppen diskutiert wird.67
Der Hintergrund für diese diskursive ‹Hochkonjunktur›68 ist mindestens implizit die ‹Krise› des bisherigen Sozialstaats, die Entwicklungen bei Demographie und Arbeitslosigkeit, die im heutigen System überproportionale steuerliche Belastung des ‹Faktors Arbeit›, die sich fortschreitend globalisierende Wirtschaft, die Erosion des Normalarbeitsverhältnis, die zunehmende Diskontinuität von Erwerbsbiographien sowie die Antwort der rot-grünen Bundesregierung auf all diese Phänomene, welche „Agenda 2010", „Hartz IV”, „Fordern und Fördern”, „ workfare statt welfare” lautete.69
BGE-Befürworter_Innen und -Kritiker_Innen kommen heute aus allen politischen Lagern und Parteien, was zunächst einmal daran liegt, dass es gewaltige Unterschiede bei den Vorstellungen über die konkrete Ausgestaltung eines BGE gibt. Marktliberale ebenso wie kapitalismuskritische BGE-Befürworter_Innen kombinieren in ihren jeweiligen Positionen (neo)liberale / marktwirtschaftliche und egalitäre / anti-marktwirtschaftliche Elemente, freilich mit deutlich unterschiedlichen Schwerpunkten und Absichten.
Aktuelle Debatten kreisen vor allem darum, welche Auswirkungen ein BGE auf Angebot und Nachfrage von Arbeit und somit auf die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben würde; darum, wie hoch ein zukünftiges BGE bemessen sein soll und wie es finanziert werden kann, insbesondere auch darum, in welchem Umfang aktuelle Sozialstaatsleistungen durch ein BGE ersetzt werden sollen; darum, ob ein BGE geeignet wäre, Inklusion, soziale Gerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit zu befördern; darum, ob es geeignet wäre, die Solidarität zwischen den Bürger_Innen, die Transparenz und Zugänglichkeit staatlicher Geldleistungen zu erhöhen; darum, ob es grundsätzlich auf Akzeptanz bei den Bürger_Innen stoßen würde; darum, ob es geeignet wäre Bürokratie abzubauen und eine würdigere Behandlung von Leistungsempfänger_Innen sicherzustellen; sowie um Übergangsschwierigkeiten und Möglichkeiten einer modularen und sukzessiven Implementierung im Falle eines Systemwechsels.70
Für einen ordnenden und prägnanten Überblick über die unterschiedlichen Positionen und mannigfaltigen Details der Debatte möchte ich hier eine hilfreiche Unterscheidung von Matthias Zeeb (2007:6)71 aufgreifen. Er identifiziert in den konkreten Vorschlägen, Motivationen und Argumentationsstrukturen der Befürworter_Innen - bei aller Diversität- zwei grundlegende, sich widerstreitende Positionen:
1. Den „libertären” Befürworter_Innen geht es darum, mithilfe des BGE das gesellschaftliche Zusammenleben so zu regeln, dass die Ausrichtung menschlichen Verhaltens an Erwerbsarbeit überwunden, mindestens aber relativiert wird (vgl. Zeeb 2007:6). Dafür - und um zugleich die eingangs erwähnten Verwerfungen zu überwinden - ist es aus der libertären Perspektive nötig, einen Raum der materiellen Sicherheit, des Zusammenlebens, der Betätigung, Sinnfindung und Anerkennung zu schaffen, der unabhängig von einer Einkommen erzielenden Arbeit besteht.
Daher müsse man Erwerbsarbeit und Erwerbsarbeitsbereitschaft von einer materiellen Grundversorgung entkoppeln. Libertäre begründen die Möglichkeit und Notwendigkeit dieser Maßnahme vor allem mit der aktuell entwürdigenden Behandlung Bedürftiger, mit der Unmöglichkeit und Unnötigkeit, unter den aktuellen Gegebenheiten für jede_n eine Erwerbsarbeit zu finden (z.B. Werner 2007:17-23, 63-73), mit der Unproduktivität erzwungener und der Produktivität freiwilliger Tätigkeit, mit der Verschiebung der Nachfrage nach Arbeit (weg von Waren produzierenden und hin zu Dienst am Mitmenschen vollbringenden Tätigkeiten) (z.B. ebd.:38-42, 80-90), sowie mit dem Hinweis auf die gewaltigen Produktivitätsfortschritte menschlicher Arbeit in den letzten zweihundert Jahren, welche - die richtige gesellschaftliche Organisation vorausgesetzt - geeignet seien, die Menschen vom Zwang zur Arbeit zu befreien (z.B. ebd.:30-55).72
2. Demgegenüber betrachten die „liberalen” Befürworter_Innen das BGE vor allem als ein probates Mittel, die ‹Krise des Sozialstaats› durch eine Ausweitung des Marktprinzips zu überwinden und den Staatshaushalt zu sanieren (z.B. Hohenleitner/Straubhaar 2007:24-25), indem das BGE dazu genutzt wird, aktuelle (Sozial)Staatsstrukturen zu ersetzen, Arbeitsverhältisse weiter zu flexibilisieren (z.B. Dietz/Walwei 2007:38) und das Fürsorgeprinzip in den Bereich der Eigenverantwortung zu delegieren (vgl. Zeeb 2007:6).
Auch sie argumentieren mit der aktuell entwürdigenden Behandlung Bedürftiger (z.B. Althaus 2006:726), mit der Unmöglichkeit, unter den aktuellen Gegebenheiten für jede_n eine Erwerbsarbeit zu finden sowie mit der Unproduktivität erzwungener und der Produktivität freiwilliger Tätigkeit (z.B. Hohenleitner/Straubhaar 2007:14).
Allerdings handelt es sich - insofern das BGE niedrig genug angesetzt und zugleich andere öffentliche Infrastruktur (Renten- und Gesundheitssystem, aber auch Bildung, Verkehr, Sicherheit usw.) privatisiert wird - keinesfalls um eine Befreiung vom Zwang zur Arbeit, sondern vielmehr um dessen Intensivierung und Verlagerung (weg von den staatlichen Institutionen, hin zu den Einzelnen und ihrem sozialen Nahfeld).
2. Bewertung des libertären BGE vor dem Hintergrund von neoliberaler Gouvernementalität und Biopolitik
2.1 Vorüberlegungen
Das liberale BGE-Projekt kann mit Leichtigkeit als eine neue Spielart neoliberaler Regierungstechniken identifiziert werden: Es zielt darauf ab, das Marktprinzip auszuweiten, kollektive Verantwortlichkeiten zu minimieren, neue Sicherheitsdispositive zu errichten und sich mittels neuer „Entscheidungszumutungen” (Lemke 2004:256) verstärkt der Selbstführungstechniken der Einzelnen zu bedienen, um sie als homines oeconomici zu konditionieren und in Richtung auf eine maximale Wertschöpfung zu führen. Das „liberale” BGE in der Begrifflichkeit von Matthias Zeeb, ist also eigentlich ein „neoliberales” - ich werde es im folgenden auch so bezeichnen. Ein neoliberales BGE scheidet offensichtlich als Mittel, „nicht dermaßen regiert zu werden” von vornherein aus, so dass ich mich mit den Argumenten für oder wider ein solches nicht weiter beschäftigen werde.
Konzentrieren wir uns also im folgenden auf das libertäre BGE: ein BGE, dessen Effekt tatsächlich die Befreiung vom Arbeitszwang implementiert, weil es (auch nach Berücksichtigung der Mietkosten und ggf. zu erhöhender Konsumsteuern) noch etwas über dem sogenannten ‹soziokulturellem Existenzminimum› von Hartz IV liegt und die aktuell bestehenden öffentlichen Leistungen und Infrastrukturen im Regelfall nicht ersetzt sondern ergänzt.73 Bei der Bewertung des libertären BGE werde ich mich an den beiden Leitfragen orientieren, die ich in Kapitel D erarbeitet habe:
- Erstens: Inwieweit könnte ein libertäres BGE dazu beitragen, nicht dermaßen, nicht so intensiv wie heute, nicht so einseitig neoliberal regiert zu werden?
- Zweitens: Inwieweit wäre ein BGE geeignet, Autonomie und Freiheit zu befördern und insofern eine wünschenswerte, eine ‹bessere› Alternative?
Ich werde diese Bewertung aus zwei sich spiegelbildlich gegenüber liegenden Perspektiven unternehmen: aus der Perspektive des einzelnen Subjekts und aus der Perspektive staatlicher Souveränität. Dies entspricht der spezifischen Kraft des Gouvernementalitätsansatzes, mithilfe des „Scharnier” der Regierungstechniken „Subjektivierung und Staatsformierung (...) unter einer einheitlichen analytischen Perspektive” zu untersuchen (Lemke 1997:151).
Die Gouvernementalitätsstudien legen nahe, dass die Exklusion von Menschen aus der Gemeinschaft entlang marktwirtschaftlicher Kriterien nicht nur hingenommen wird, sondern unerlässlich und erwünscht ist. Dies ist zum einen deshalb plausibel, weil es der Exklusion als Drohung und Sanktionsmittel bedarf, um die Selbstführungstechniken der Individuen so zu lenken, dass diese sich in die gewünschte Richtung bewegen („Regieren über Armut”). Das bedeutet zum anderen, dass die Exklusion von Menschen entlang marktwirtschaftlicher Kriterien eine wichtige Funktion für das Aufrechterhalten staatlicher Souveränität hat, welche vormals die Exklusion entlang rassistischer Kriterien übernahm (Lemke 2004:256). Dies ist deshalb plausibel, weil die Menschen innerhalb der neoliberalen Regierungsrationalität eben nur solange berechenbar - id est: regierbar - sind und dem Zugriff der staatlichen Souveränität unterstehen, wie sie sich als zweckrationale homines oeconomici verhalten.
Da umfassende, nicht überwindbare Exklusion den Grundsätzen von Freiheit und Autonomie entgegensteht, muss insbesondere dort, wo es um die Frage nach der ‹besseren Alternative› geht, das Augenmerk nicht nur auf Autonomie und Freiheit, sondern auch und speziell auf die Exklusionsproblematik gerichtet werden.
2.2 Autonomie und Freiheit des Subjekts: Das libertäre BGE und die Konditionierung zum homo oeconomicus
Für ein Leben in materieller Sicherheit und für die Möglichkeit, an einer (begrenzten) Zahl von kostenpflichtigen gesellschaftlichen Aktivitäten teilzuhaben wäre im Falle der Realisierung eines libertären BGEs die Selbstkonstitution entlang marktwirtschaftlicher Prinzipien nicht länger erforderlich: Es entfiele der Zwang, sich als homo oeconomicus zu konditionieren und zu verhalten, und zugleich würde sich deshalb auch das Ausmaß und Intensität reduzieren, in dem der/die eine die anderen in diesem Sinne führen kann, und zwar
...zum einen ‹quantitativ›: Wer keiner Erwerbsarbeit nachgeht, entzieht sich weitgehend der marktwirtschaftlichen Konditionierung.
...zum anderen ‹qualitativ›: Wer einer Erwerbsarbeit nachgeht, wird in die Lage versetzt, die Konditionierung nur begrenzt zuzulassen, weil der etwaig drohende Verlust der Erwerbsarbeit wesentlich leichter zu verkraften ist, weil, mit anderen Worten, die Entscheidungszumutungen deutlich gemildert wären.
Die Notwendigkeit, sich als homo oeconomicus zu konditionieren und zu konstituieren, würde auch deshalb und in dem Maße verblassen, wie Tätigkeiten ohne Erwerbseinkommen (z.B. Reproduktions- und Familienarbeit, ehrenamtliches Engagement, Sport, Musik, Literatur, Kunst, Bildung, usw. kurz: die Sorge um sich selbst und um andere) aufgewertet würden und sich zu gleichwertige(re)n Orten von Selbstverwirklichung, sozialer Einbindung, Anerkennung durch andere, Erwerb von gesellschaftlichem Status und umfassender Sinnfindung entwickeln könnten; Orte in denen sich eine ihren spezifischen Gegenständen gemäße Rationalität entwickeln könnte, eine Rationalität, die eben nicht zweckrational ist, sondern in der die vollbrachte Tätigkeit in der Regel einen Zweck an sich darstellt.
Die soeben skizzierte tendenzielle Ablösung der Arbeits- durch eine Kulturgesellschaft könnte freilich einen neuen Zwang inaugurieren, dergestalt etwa, dass das Gebot des „Sorge dich um dich selbst” so wie in der griechischen Antike zu einem „fundamentale(n) Imperativ” (MF 1984b:880) erhoben wird und jeder und jede permanent daran arbeiten muss, seiner und ihrer „Existenz die schönste und vollendetste Form [zu, S.A.] geben” (MF 1984:315). So hofft beispielsweise Gorz (2000:109) darauf, dass sich in einer zukünftigen „Kulturgesellschaft” das „Streben jedes Einzelnen nach Vortrefflichkeit” zum „gemeinsame(n) Ziel aller” entwickeln werde, dass es fortan für jede_n darum gehen werde, „sich fortlaufend im Wettstreit und im Zusammenspiel mit den anderen neu zu definieren und zu überbieten”.
Doch scheint mir diese Gefahr aus zwei Gründen relativ gering, bzw. - im Vergleich zu der heutigen Ausgangssituation - vorzugswürdig zu sein:
- Erstens handelt es sich eben nur um eine tendenzielle Ablösung der Arbeits- durch eine Kulturgesellschaft: Anders als beispielsweise in der griechischen Antike würde Erwerbsarbeit auch nach der Einführung des libertären BGE keineswegs gering geschätzt werden, sondern würde weiterhin ein wichtiger (mutmaßlich der wichtigste) Ort von Selbstverwirklichung, sozialer Einbindung, Anerkennung etc. bleiben. Anders als in unserer heutigen Gesellschaft würde aber auch Bildung (oder Sport oder Kunst, etc.), welche nicht auf eine ökonomische Verwertung zielt, geschätzt und anerkannt werden. Die Wirkung eines libertären BGE wäre gerade nicht die Absolutsetzung einer Rationalität, sondern die Ermöglichung von multiplen.
- Betrachten wir zweitens den ‹Testfall› für Freiheit par excellence, den Fall nämlich, in dem von dem ‹normalen›, gesellschaftlich erwarteten und erwünschten Verhalten abgewichen wird. Wenn jemand die Sorge um sich vernachlässigt (denken wir beispielsweise an eine dauerhafte Fixierung auf exzessiven Fernseh- und Alkoholkonsum), so drohen ihm in der libertären BGE- Gesellschaft - anders als heute - keinerlei materielle Sanktionen und staatlicherseits auch keinerlei Gängelungen oder moralische Herabsetzungen. In seinem eigenen Nahfeld (Verwandte, Freund_Innen, Nachbar_Innen, etc.) ist dies freilich nicht auszuschließen, so dass deren Fremdführungstechniken die Selbstführungstechniken des/der Devianten lenken könnten, auf dass er/sie sich zurück in gesellschaftlich erwünschte Bahnen bewege. Doch bietet ihm/ihr die libertäre BGE-Gesellschaft die Möglichkeit, a) Selbstverwirklichung, Anerkennung etc. auf verschiedenste Weise in unterschiedlichen Domänen mit je eigenen Rationalitäten zu erlangen und b) sich sozialer Kontrolle weitgehend zu entziehen, weil (anders als in vorstaatlichen Gesellschaften, in denen sich die soziale Kontrolle vornehmlich im Nahfeld vollzieht) das Auskommen unabhängig von dem Nahfeld gesichert ist. Dies bedeutet freilich, fehlende Anerkennung, Einbindung etc. im Gegenzug für den gewählten Lebensstil in Kauf zu nehmen. Unter diesen Bedingungen Kritik an der Konsequenz b) zu üben oder eine vollkommen egalitäre Distribution des materiellen Reichtums zu fordern, ist m. E. nicht haltbar: Dies würde auf die spiegelbildliche Reproduktion der - ebenfalls unhaltbaren - neoliberalen Prämisse, wonach es keine gemeinschaftliche Verantwortlichkeit gibt, hinauslaufen, darauf nämlich, dass es keine individuelle Verantwortlichkeit gibt.
Foucault hat sich zum Thema Grundeinkommen nicht explizit geäußert. Jedoch bespricht er das (originär) dezidiert neoliberale Konzept einer negativen Einkommenssteuer74, welche - insofern sie bedingungslos und individuell gewährt wird - große Ähnlichkeit mit bestimmten BGE- Modellen hat:
Bei einem BGE, das ganz oder überwiegend über Einnahmen aus der Einkommenssteuer finanziert wird, werden nämlich diejenigen, die ein Einkommen oberhalb eines bestimmten Betrags erzielen („ break even point ”), zu Nettofinanzierern für das BGE derjenigen Mitbürger_Innen, die über kein oder nur ein geringes Einkommen verfügen. In diesem Fall wirkt das BGE im Prinzip so wie die Steuergutschrift im Konzept der negativen Einkommenssteuer (vgl. Vanderborght/Van Parijs 2005:42-53). Die negative Einkommenssteuer Chicagoer Prägung, die Foucault bespricht, entspringt dem Wunsch, Konsum aus kollektiv / staatlich bereitgestellten Infrastrukturen (Gesundheit, Verkehr, etc.) durch staatliche Geldleistungen zu ersetzen (MF 1979:284). Ein BGE, das eine negative Einkommenssteuer mit dieser Stoßrichtung implementieren würde, wäre also kein libertäres, sondern ein neoliberales. Foucault bezeichnet denn auch die negative Einkommenssteuer als „Radikalisierung jener allgemeinen Themen, von denen ich im Zusammenhang mit dem Ordoliberalismus gesprochen habe” (ebd.:290).
Ein Tatbestand, den Foucault im Kontext der negativen Einkommenssteuer anspricht, hätte jedoch auch im Falle einer libertären Realisierung weiter Gültigkeit: Oberhalb des break even point solle gewissermaßen weiterhin „jeder für sich oder für seine Familie selbst ein Unternehmen sein” (ebd.:288). Dies ist richtig.75 In der tendenziellen Kulturgesellschaft eines libertären BGE wäre dieses aber nicht zu kritisieren, sondern könnte ganz im Gegenteil als ein Mechanismus begrüßt werden, der das Absolutsetzen einer anderern - nämlich diesmal einer ‹kulturellen› - Rationalität entgegen wirkt. Andererseits setzt dies voraus, dass es tatsächlich eine einheitliche, spezifisch ‹kulturelle› Rationalität gibt, die in den unterschiedlichsten Domänen der Sorge um sich und um andere (Freundschaft, Nachbarschaftshilfe, Sport, Bildung, Religion, etc.) erst noch nachzuweisen wäre.
2.3 Die Exklusionsproblematik aus der Perspektive der von Exklusion Betroffenen
Foucault kritisiert insbesondere, dass die negative Einkommenssteuer „eine neue Verzerrung zwischen den Armen und den anderen, den Unterstützten und den Nicht-Unterstützten” inaugurieren könnte (MF 1979:285). Somit würden die überwunden geglaubten, stigmatisierenden Kategorien von Armut und Armen wiederbelebt (ebd.:288), es entstünde ein neuer „Bodensatz (...) einer Schwellenbevölkerung”, „eine ständige Reserve der Handarbeit, (...) die man aber auch auf ihren unterstützten Status verweisen kann, wenn man will” (ebd.:289).
Ein BGE hätte demgegenüber den psychologischen Vorteil, dass es vorab und an jede_n ausgezahlt würde und nicht nur - wie bei der negativen Einkommenssteuer - nach erfolgter Steuerprüfung an diejenigen, denen bescheinigt wird, ‹zu wenig› geleistet zu haben. (vgl. Vanderborght/Van Parijs 2005:53). So könnte die stigmatisierende Wirkung deutlich reduziert werden, zumal im Vergleich zu dem heutigen System von ALG II und Sozialhilfe. Ein libertäres BGE hätte zudem den Effekt, dass es die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen und Vermögen tendenziell schließen würde, so dass die ‹Armen› ohne eigenes Erwerbseinkommen materiell sehr viel besser mit den ‹Reichen› mit Erwerbseinkommen mithalten könnten. In diesem Szenario von „Bodensatz” oder „Schwellenbevölkerung” zu sprechen, ist wenig überzeugend: Die BGE-Empfänger_Innen ohne eigenes Erwerbseinkommen würden eben keine „Reserve der Handarbeit” darstellen, weil sie, wie ich im vorangegangenen Kapitel beschrieben habe, weder vom Staat noch von ihrem Nahfeld, weder mit materiellen Sanktionen noch mit moralischen Herabsetzungen oder Verpflichtungen, effektiv dazu gebracht werden können, sich in gesellschaftlich erwünschten Bahnen zu bewegen, also sich beispielsweise für „Handarbeit” (in der neoliberalen BGE-Gesellschaft) oder für die umfassende „Sorge um sich” (in der libertären BGE-Gesellschaft) zur Verfügung zu stellen.76
Foucault hat einen weiteren Einwand gegen die negative Einkommenssteuer:
„Am Ende läßt man den Menschen die Möglichkeit, zu arbeiten, wenn sie wollen oder nicht. Man hält sich vor allem die Möglichkeit offen, sie nicht zur Arbeit zu zwingen, wenn man kein Interesse daran hat, sie arbeiten zu lassen. Man garantiert ihnen einfach die Möglichkeit einer bestimmten Existenz an einer bestimmten Schwelle, und auf diese Weise kann diese neoliberale Politik funktionieren.” (MF 1979:290)
Hier schwingt eine Kritik mit, die auch in der aktuellen BGE-Diskussion (insbesondere von gewerkschaftlicher und kirchlicher aber auch von grüner Seite) häufig erhoben wird: Das BGE wirke als „Stillegungsprämie”:
„Für Menschen mit geringer Qualifikation, mangelnden Sprachkenntnissen oder gesundheitlichen Problemen kann ein bedingungsloses Grundeinkommen zur Stillegungsprämie werden, die ihre soziale Deprivation noch verfestigt.” (Fücks 2007:10, ähnlich: Bütikofer 2007:26, Zeeb 2007:7-8)
M. E. ist diese Kritik - mindestens im Fall des libertären BGE - wenig überzeugend.
- Erstens ein ‹technisches› Gegenargument: Das BGE ist, egal ob neoliberal oder libertär, mit jeder Art zusätzlichem Einkommen kumulierbar. Im Gegenzug ist freilich zumeist eine Besteuerung ab dem ersten verdienten Euro, also die Streichung aktuell bestehender Steuerfreibeträge vorgesehen. Dennoch bedeutet dies im Endeffekt eine Transferentzugsrate, die weit unter den heute bei ALG II üblichen 90% liegt. Der finanzielle Anreiz, eine zeitlich stark begrenzte und/oder schlecht entlohnte Arbeit anzunehmen, ist deshalb für jemanden, der ein BGE empfängt, größer als für jemanden, der ALG II empfängt.77 Das BGE verbessert deshalb - im Vergleich zum heutigen System - die Zugangsmöglichkeiten zu Erwerbsarbeit insbesondere für „Menschen mit geringer Qualifikation, mangelnden Sprachkenntnissen oder gesundheitlichen Problemen”.78
- Zweitens ein grundsätzlicheres Gegenargument: Die Rede von der „Stilllegungsprämie” und davon, dass die „kritische Situation am Arbeitsmarkt (...) auf Kosten bereits heute marginalisierter Gruppen durch deren dauerhafte Ausgrenzung entspannt” werde (Zeeb 2007:7- 8), gründet tief in der gegenwärtigen (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft, in der tatsächlich der Arbeitsplatz nicht nur die materielle Lebensgrundlage generiert, sondern zugleich auch der hegemoniale Ort für Selbstverwirklichung, soziale Einbindung, Anerkennung durch andere, Erwerb von gesellschaftlichem Status und umfassende Sinnfindung ist. In dem Maße, wie das libertäre BGE die tendenzielle Transformation hin zu einer Kulturgesellschaft einleiten würde, würde sich diese Hegemonie relativieren. Aus diesem Grunde ist, wer in der libertären BGE- Gesellschaft keiner Erwerbsarbeit nachgeht, keineswegs „stillgelegt”, „marginalisiert” oder einer „Deprivation” unterworfen.
Was noch zu tun bleibt, ist die Notwendigkeit, die ‹Bedingungslosigkeit› des ‹Bedingungslosen Grundeinkommens› kritisch zu hinterfragen. In der eingangs gewählten Definition des BGE („allen Bürgern eine Basisleistung auszuzahlen”) ist bereits offenkundig, dass der Anspruch auf BGE nur für Menschen mit einem bestimmten rechtlichen Status gelten soll: Vorgesehen sind mindestens zwei Jahre Wohnsitz in Deutschland beim CDU-BGE, dem „Solidarischen Bürgergeld” von Dieter Althaus; ein mindestens fünfjähriger, dauerhafter, legaler Aufenthalt in Deutschland beim Konzept der „Grünen Grundsicherung”; der Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft beim Grundeinkommen des Hamburgischen Weltwirtschftsinstitut (HWWI); das BGE der Linkspartei soll „jedem Menschen ab 16 Jahren” zukommen und bei dem BGE- Konzept von Götz Werner, dem Chef der Drogeriemarktkette ‹dm›, lautet die Bezugsgruppe „jeder, für den die Gemeinschaft sich verantwortlich fühlt”, bzw. „die ganze Welt - das wäre der Idealfall”.79 In den Konzepten von CDU, Grünen, Linkspartei und Götz Werner ist zudem geplant, jüngeren Berechtigten (insbesondere Kindern) ein reduziertes BGE auszuzahlen (Zeeb 2007:14-15). Das Prinzip der Exklusion entlang ökonomischen Kriterien würde also durch eine Exklusion von formalen, rechtlichen Kriterien ersetzt, wobei wahrscheinlich ist, dass diese rechtlichen Kriterien gemäß den in den jeweiligen Gesellschaften geltenden Leitbildern gesetzt werden würden.80 Unbeantwortet bleibt außerdem die Frage, wie geistig Behinderte und Demente über ihr BGE verfügen könnten.
Die Problematik der Bezugsgröße bedeutet zum einen auf praktischer Ebene große Umsetzungsprobleme.81 Zum anderen eröffnet sie auf der Ebene der potenziellen Exklusionswirkungen, die ich hier thematisieren möchte, einen letztlich nicht aufzulösenden Konflikt (es sei denn man hofft auf den Götzschen „Idealfall” der „ganzen Welt”):
Würde Deutschland zu einer libertären BGE-Gesellschaft werden, so wären diejenigen Personen, die zwar in Deutschland leben aber (noch) nicht über den verlangten rechtlichen Status verfügen, aus mindestens zwei Gründen von potentiell starken Exklusionswirkungen betroffen:
- erstens weil sie per se nicht die Wahl haben, sich in denselben, vielfältigeren Sozialisationsmodi zu bewegen wie ihre Mitbürger_Innen.
- zweitens weil es - insofern es zutrifft, dass eine der zahlreichen Wirkungen des libertären BGE eine tendenzielle Absenkung des Nettolohnniveaus wäre, da dieser nicht mehr alleine den Lebensunterhalt sichern müsste (vgl. Butterwegge 2007:27; Hohenleitner/Straubhaar 2007b:32; Werner 2007: 100-103) - ohne BGE in der BGE-Gesellschaft umso schwieriger werden dürfte gänzlich ‹aus eigener Kraft› einen materiell autonomen Zustand zu erreichen.
Andererseits könnten beide Effekte gemildert werden, insofern es zutrifft, dass eine zentrale Wirkung des libertären BGE darin bestehen würde, dass zunehmend Orte und Möglichkeiten für Selbstverwirklichung, soziale Einbindung, Anerkennung etc. geschaffen werden würden, zu deren Zutritt keine oder nur sehr geringe Geldmittel nötig wären.
Betrachtet man die Exklusionsproblematik quantitativ, so wären natürlich weniger restriktive Anforderungen wünschenswert, also beispielsweise lieber zwei Jahre Wohnsitz in Deutschland als die deutsche Staatsbürgerschaft als Bedingung. Qualitativ gesehen würde hingegen die Stellung der Exkludierten umso prekärer je geringer ihre Zahl ist. Nur unter der zunehmend utopischen Annahme, das libertäre BGE auf einen Schlag für alle Menschen einführen zu können, die momentan (legal und illegal) in der EU leben, wäre das Exklusionsproblem innerhalb der europäischen Grenzen weitgehend gelöst. Dies würde aber zugleich eine „Aufwertung von Staatsgrenzen”, - genauer: die der EU-Außengrenzen - implizieren, welche die „rassistische Logik von innen und außen reproduziert” und den Zusammenhang zwischen dem Reichtum der Industrienationen und der Armut der Entwicklungsländer ignoriert (Bentrup 2007:141-142).
An diesem Punkt werden m. E. sowohl die Grenzen als auch die Grenzenlosigkeit einer solchen Kritik an der ‹Bedingungslosigkeit› des BGE aus der Exklusionsperspektive der Betroffenen deutlich: Denkt man sie mit aller Konsequenz zu Ende, so müsste man jedwede (sozialen, ökologischen, moralischen...) Standards kritisieren, welche sich eine abgeschlossene Gemeinschaft (z.B. ein Nationalstaat) zur Verbesserung der Lebensumstände seiner Mitglieder gibt, wobei sich die Kritik offensichtlich nicht gegen die gesetzten Standards, sondern gegen den Grundsatz der Abgeschlossenheit richtet. Das am Horizont aufscheinende Ziel einer ‹Weltgesellschaft› ohne Grenzen mag vielleicht aus vielfältigen ethischen und gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen wünschenswert sein. Doch ist, selbst wenn dies entschieden sein sollte, keineswegs ausgemacht, ob der Weg dorthin über eine Schwächung der Standards in den aktuell bestehenden Nationalstaaten führen kann, soll oder muss.
Menschen, denen die Gesellschaft nicht zutraut, dass sie in der Lage sind, über ihr eigenes Leben autonom zu entscheiden und über ihr BGE selbst zu verfügen (Kinder, geistig Behinderte, Demente), haben heute aus vielfältigen Gründen und mit vielfältigen Formen von Exklusion zu kämpfen. Für diese Personen ist es besonders schwierig, sich die Möglichkeit zu einer Selbstkonstitution im Modus der Macht zu erstreiten. Ein libertäres BGE würde diese Situation zwar nicht gänzlich auflösen, könnte jedoch zu einer gewissen Entspannung beitragen, insofern der Status dieser Menschen nicht länger der eines/einer Hilfebedürftigen wäre, sondern der eines/r BGE-Bezieher_In. Auch die Entstehung und Aufwertung von Orten und Rationalitäten von Selbstverwirklichung, Anerkennung etc. abseits der Erwerbsarbeit dürfte gerade diesen Personenkreisen besonders zu gute kommen.
2.4 Die Exklusionsproblematik aus der Perspektive der staatlichen Souveränität
Foucault zufolge hat der klassische Liberalismus den politischen Souverän herabgesetzt und so eine schwerwiegende „Krise der Regierung” ausgelöst: Wenn es am besten für alle ist, dass jeder ausschließlich sein eigenes Interesse verfolgt und wenn ohnehin niemand das Über- Individuelle erfassen kann, wozu braucht es dann überhaupt noch eine Regierung?
Die klassisch-liberale Regierungsrationalität hat dieses Problem gelöst, indem sie sich als Biopolitik konstituiert hat; id est: indem sie ‹die Gesellschaft› als einen neuen, von ‹dem Staat› autonomen Interventionsraum entdeckt hat, der es ihr erlaubt, das vormals Private nach Maßgabe und Vorbild des homo oeconomicus zu regieren. Die neoliberale Regierungsrationalität, so legen es die Analysen Foucaults und der Gouvernementalitätsstudien nahe, setzt dieses Schema fort und radikalisiert es. Vor diesem Hintergrund tun sich neue Probleme und Fragestellungen auf:
Wenn wir davon ausgehen, dass das libertäre BGE ein wirksames Mittel ist, um dazu beizutragen, „nicht dermaßen”, nicht so neoliberal, nicht so einseitig festgelegt auf die Konditionierung zum homo oeconomicus regiert zu werden, so impliziert dieses eine neue Krise der Regierung; einer Regierung, der abermals ihre zentrale Betätigung, ihre Legitimitation und ihre Souveränität entzogen wird; einer Regierung, der abermals vorgehalten wird, ungeeignet zu sein, einen zunehmend wichtigen Bereich der Lebenssphären der Menschen (nämlich diesmal die Sorge um Sich und um andere) überblicken und gestalten zu können.
Diese neuerliche Krise der Regierung würde mit Sicherheit nicht das Ende ‹des Staates› oder jedweder Regierung von Gemeinschaft einläuten; vielmehr würden sich diese Strukturen wie schon so oft in der Geschichte wohl als höchst wandelbar erweisen und sich neue Betätigungsfelder und Zielsetzungen suchen.82
Offensichtlich ist, dass der Staat auch in der libertären BGE-Gesellschaft ein Wohlfahrtsstaat bleiben würde, der Sicherheitsstrategien für seine Bürger_Innen entwickelt, sie auf diese Weise zugleich schützt, kontrolliert und lenkt. Hingegen ist offen und kaum abzuschätzen, welche Bereiche die staatliche Regierung mit welchen Zielsetzungen und welchen Methoden - neben der Organisation des BGE - zukünftig noch besetzen könnte. Denn wenn es zutreffend ist, dass das libertäre BGE starke transformative Wirkungen auf die Subjektkonstitution und das gesellschaftliche Zusammenleben hat, so eröffnet dies prinzipiell die Möglichkeit (und vielleicht die Notwendigkeit) für neue, heute kaum vorhersehbare Interventionsformen- und Motivationen.83
Foucault beschreibt das soeben skizzierte Phänomen im Kontext der Transformationen, welche die staatlichen Regierungstechniken ebenso wie das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu anderen im Zeichen der Aufklärung erfahren haben: „Hinter der Einführung eines ausdrücklichen, kodifizierten und formell egalitären rechtlichen Rahmens” habe sich die „Entwicklung und Verallgemeinerung der Disziplinaranlagen” als deren „dunkle Kehrseite” versteckt:
„Wenn es das repräsentative Regime formell ermöglicht, dass der Wille aller, direkt oder indirekt, mit oder ohne Vermittlung, die fundamentale Instanz der Souveränität bildet, so garantieren doch die Disziplinen im Unterbau die Unterwerfung der Kräfte und der Körper. Die wirklichen und körperlichen Disziplinen bildeten die Basis und das Untergeschoss zu den formellen und rechtlichen Freiheiten. (...) Die ‹Aufklärung›, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden.” (MF 1975:284-285)
Dieses Phänomen, wonach ein Mehr an Freiheit nur mit einem gleichzeitigen Mehr an Unterwerfung (id est: an Nicht-Freiheit) erkauft werden kann, hat Giorgio Agamben aufgegriffen und in seinem eigenwilligen Werk zum Prinzip erhoben:
Agambens These lautet, dass der „souveräne Bann” - id est: die totale Zugriffsmöglichkeit auf das Leben der Menschen im Ausnahmefall; id est: der Ausschluss eines „nackten” Menschenlebens („ zo é”) aus der Gemeinschaft („ polis ”); kurz: das Prinzip der Exklusion - „die originäre politische Beziehung” (Agamben 2002:190) sei, ohne die keine Souveränität, keine Politik, kein Staat funktionieren könne. Das biologische, das „nackte Leben” des Menschen wäre demnach schon immer „das erste Fundament der politischen Macht” (Agamben 2002:98).
„Die Foucaultsche These [von der Neuartigkeit der Biomacht, S.A.] muß mithin berichtigt oder wenigstens ergänzt werden: Was die moderne Politik auszeichnet, ist nicht so sehr die an sich uralte Einschließung der zoé in die polis noch einfach die Tatsache, dass das Leben als solches zu einem vorrangigen Gegenstand der Berechnung und Voraussicht der staatlichen Macht wurde; entscheidend ist vielmehr, dass das nackte Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt” (Agamben 2002:19),
sodass jenes, welches früher den Ausnahmezustand gekennzeichnet habe, nun immer mehr zur Regel werde. Die antiken Gesellschaften hätten das nackte Leben prinzipiell außerhalb der polis, nämlich im oikos, im Raum des Privaten, des Wirtschaftens und des Unpolitischen angesiedelt. Nur vermittels begrenzter Institutionen hätten sie in Ausnahmefällen, an den Rändern der polis Vogelfreie , „ homines sacri ”, produziert, die - auf ihr nacktes Leben zurückgeworfen, der straflosen Tötung preisgegeben und dem Privileg einer Opferung beraubt - aus der politischen und religiösen Gemeinschaft exkludiert und eben vermittels dieser Exklusion in den Bereich der politischen Machtausübung einbezogen worden seien (Agamben 2002:97-122).
Demgegenüber zeichnen sich nach Agamben moderne Gesellschaften dadurch aus, dass die Grenze zwischen nacktem und (im klassischen Sinne) politischem Leben nunmehr
„durch das Innere jedes menschlichen Lebens und jedes Bürgers geht. Das nackte Leben ist nicht mehr an einem besonderen Ort oder in einer definierten Kategorie eingegrenzt, sondern bewohnt den biologischen Körper jedes Lebewesens.” (Agamben 2002:148)84
Diese Argumentation hat u.a. die folgende Diagnose zur Konsequenz:
„Die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, bahnen jedesmal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament.” (Agamben 2002:129)
Ist Agambens Argumentation im Sinne eines Nullsummenspiels zutreffend, so ist freilich auch für den Fall nichts gewonnen, dass ein libertäres BGE tatsächlich die von mir prognostizierten Wirkungen entfaltet: Was den Individuen auf der einen Seite als ein ‹Mehr› an Freiheit zugute kommen würde, müssten sie an anderer Stelle durch eine umso tiefere „Unterwerfung” (Foucault), bzw. „Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung” (Agamben) bezahlen.
3. Ergebnisse
- Erstens: Bei dem BGE steckt der ‹Teufel› im Detail: Je nach konkreter Ausprägung können sich ganz unterschiedliche Wirkungen ergeben. Dabei würde einerseits jedes BGE, egal ob libertär oder neoliberal, einen deutlichen Bruch mit der bisherigen deutschen, auf Bismarck zurückgehenden Tradition von Sozialstaatlichkeit markieren. Andererseits ist die traditionelle Kopplung von sozialer Absicherung an ein Erwerbsarbeitsverhältnis schon heute durch zahlreiche Einzelmaßnahmen relativiert. So gesehen könnte ein BGE auch als konsequente Weiterentwicklung angesehen werden, die das Sozialstaatsystem an die veränderten Gegebenheiten der Arbeits- und Lebenswelten der Bürger_Innen anpasst.
- Zweitens: Im Falle einer libertären Ausgestaltung des BGE wird / werden ...
a) der gesellschaftsweite Solidaritätsanspruch erhöht. Als Begründung hierfür kann im Ausgang der hier erarbeiteten Perspektive - neben den bereits heute in der Debatte verbreiteten Argumenten - vor allem auf folgendes hingewiesen werden: Die Zuweisung von materiellem Reichtum an die Individuen durch die Marktmechanismen kann mit gleichem Recht als eine ‹Umverteilung› bezeichnet werden, wie die Zuweisung durch ein BGE: Beides, der neoliberale Wettbewerbsmarkt und das libertäre BGE sind komplexe, im höchsten Maße „kultivierte” von Menschen geschaffene Institutionen, die (aufgrund unterschiedlicher Interessen und Prämissen) bestimmte Verhaltensweisen mehr und andere weniger „fördern und fordern”. Die Marktwirtschaft gründet auf einem gemeinschaftlichen Raum und kann nur in der kollektiven Verflechtung der Individuen entstehen (vgl. Lemke 2004b:67-68). Das neoliberale Projekt einer umfassenden Verneinung von kollektiver Verantwortlichkeit ist deshalb zurückzuweisen.
b) neoliberale Regierungstechniken relativiert. Aus der Perspektive der Subjekte ist dies zu begrüßen, wenn man der (normativen) Prämisse zustimmt, dass es wünschenswert ist, wenn sich Menschen innerhalb von vielfältigen Rationalitäten und im freiheitlichen Modus der Macht konstituieren können. Der eingangs beklagten ‹wettbewerblichen und konsumorientierten Vereinseitigung des Verhältnisses des Individuums zu sich selbst und zu anderen› (Leistungsdruck, Konsumzwang Abnahme sozialer Bindungen, Ellenbogengesellschaft, Exklusion) könnte somit entgegen gewirkt werden. Auf die Frage, ob sich in der tendenziellen Kulturgesellschaft des libertären BGE eine spezifisch kulturelle Rationalität als ebenso hegemonial herausstellen würde wie es heute die neoliberale ist, lautet die Antwort eher nein als ja. Allerdings sind die Effekte eines libertären BGE auf die Entstehung von neuen Rationalitäten noch schwerer vorauszusagen, als jene auf die aktuell hegemoniale neoliberale Rationalität.
c) bestehende Exklusionsprobleme aus der Perspektive der Subjekte nur teilweise überwunden. Exklusion als Massenphänomen („abgehängtes Prekariat”) könnte wirkungsvoll bekämpft werden. Auch für weitere, traditionell von Exklusion betroffene Personenkreise (Kinder, geistig Behinderte und Demente) könnte sich die Problematik mildern. Für alle diese Personen könnte sich somit auch der zweite eingangs beklagte Komplex gesellschaftlicher Verwerfungen (wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit, Privatisierung von Vermögen sowie Sozialisierung von Schulden, Abstiegsangst der Mittelschicht, Prekarisierung von Lebenssituationen) entschärfen. Für andere (Personen ohne den geforderten rechtlichen Status) könnte sich die Exklusionsproblematik hingegen eher noch verschärfen.
Fundamentalkritik, welche das BGE aus grundsätzlicher Gegnerschaft gegen das Prinzip der Abgeschlossenheit von Nationalstaaten ablehnt und somit Fragen von Exklusion, Freiheit und Gerechtigkeit im weltweiten Maßstab thematisiert, ist nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen: Wenn eine geschlossene Gemeinschaft für ihre Mitglieder Standards setzt, die auch außerhalb der Gemeinschaft gewünscht werden, so intensiviert dies die Exklusionsproblematik. Allerdings ist auch solche Kritik kritisch zu sehen, weil zum einen der von ihr geforderte Weg (Auflösung oder Nicht-Weiterentwicklung von Standards in den aktuell bestehenden Nationalstaaten) nicht unbedingt zielführend ist und weil sie zum anderen selbst tut, was sie umgekehrt kritisiert, nämlich das Wohlergehen der Menschen in den Industrienationen gegen das der Menschen in den Entwicklungsländern auszuspielen.
d) das grundsätzliche Spannungsfeld politischer Vergemeinschaftung - jenes zwischen Souveränität und Exklusion, zwischen Sicherheit und Freiheit - nicht aufgelöst. Der Einwand von Foucault und Agamben (und wir können diese Linie ohne weiteres bis auf Thomas Hobbes zurückverfolgen) ist Ernst zu nehmen: Das Zusammenleben von Menschen in einer Gemeinschaft bietet nicht nur ein eventuelles Mehr an Sicherheit, Reichtum, Zufriedenheit, etc., sondern impliziert zuallererst, dass Alle ihre (fiktive, naturrechtliche) Freiheit, alles zu tun, einschränken. Allerdings wird es m. E. der hochkomplexen Realität nicht gerecht, dieses Problem, so wie Foucault und Agamben dies mindestens tendenziell tun, als eine Art Nullsummenspiel zu betrachten, bei dem kein ‹Mehr› oder ‹Weniger› an Freiheit möglich ist (vgl. Kapitel D „Schwelle” und siehe auch nächstes Kapitel).
Kapitel G Schluss: Rückblick und Ausblick
Der Foucaultsche Blick auf die Moderne gibt wichtige Impulse und Denkanstöße, um die ‹Freiwilligkeit› von menschlichem Handeln in den modernen Demokratien zu hinterfragen; um verfeinerte, subtilere, indirektere Regierungstechniken als jene vom Typ ‹Befehl und Gehorsam› aufzudecken; um die Frage nach den Machtasymmetrien, Interessen und normativen Prämissen hinter der Fassade von allumfassender Freiwilligkeit und Selbstbestimmung neu zu stellen; um eine scheinbare Deregulierung als eine andere und intensivere Regulierung der Märkte und vor allem der Menschen, welche zuvorderst als Marktteilnehmer_Innen erscheinen, aufzudecken. Doch sollten wir uns an dieser Stelle „die nietzeanische Einsicht in den Perspektivismus aller Diskurse” (Rehmann 2004:102) zu eigen machen; eine Einsicht, die auch Foucault ganz und gar mitvollzogen hat: „Es gibt keinen neutralen Diskurs, keinen ohne Imperativ” (MF 1978e:16). Und genauso wenig gibt es einen Diskurs, der eine universelle Wahrheit verkünden könnte: Innerhalb von anderen (zeitlichen, örtlichen, kulturellen, moralischen etc.) Kontexten und Perspektiven gibt es andere Diskurse und andere Wahrheiten (vgl. Veyne 2003:37). Diese Feststellung gilt selbstverständlich auch für den Foucaultschen Diskurs (und für die Auseinandersetzung mit ihm, die ich im Rahmen dieser Arbeit vollziehe). Andere Theoriebildungen mit anderen methodologischen Vorentscheidungen, Forschungsschwerpunkten und Erkenntnisinteressen werden bei der Analyse der zeitgenössischen Machtbeziehungen zu anderen Ergebnissen kommen - von zukünftigen Untersuchungen unserer Zeit ganz zu schweigen.
Vor diesem Hintergrund sollte der kritische Impuls des Foucaultschen Anti-Essenzialismus zwar gewürdigt aber nicht absolut gesetzt werden: Er sollte nicht in eine Unfähigkeit zu urteilen münden und offensichtliche Missstände mit dem Verweis auf den Relativismus der Perspektiven hinnehmen. Nur unter dieser Voraussetzung kann Kritik, konstruktive Kritik zumal, fortbestehen, und nur unter dieser Voraussetzung ist es sinnvoll irgendwelche gesellschaftspolitischen Maßnahmen auf ihre positiven und negativen Effekte hin zu befragen (vgl. Kapitel D).
Das Konzept eines libertären BGE kann unter diesen Voraussetzungen summa summarum recht positiv bewertet werden:
Es ist zwar nicht der Weisheit letzter Schluss, welcher in der Lage wäre, das fundamentale Spannungsfeld politischer Vergemeinschaftung - jenes zwischen Souveränität und Exklusion, zwischen Sicherheit und Freiheit - aufzulösen; eine derartige Erwartungshaltung wäre aber auch naiv.
Doch es ist immerhin ein höchst interessanter Vorschlag, den (Sozial)Staat auf jener „Gratlinie” zu reformieren, die genau zwischen dem „Effekt des Abhängigmachens durch Integration” und jenem „des Abhängigmachens durch Marginalisierung oder Ausschließung” (MF 1983:442- 443) verläuft. Bei entsprechender Ausgestaltung hat das libertäre BGE das Potenzial, zu einer weitreichenden, positiven Veränderung der Lebensbedingungen der hier lebenden Menschen beizutragen: top-down durch eine neue Austarierung von sozialer (Un)Gleichheit, von Teilhabe- und Lebenschancen; bottom-up durch die Stärkung der Möglichkeit, dass sich Menschen hierzulande als vielseitigere und autonomere Subjekte in Freiheit konstituieren können.
Ganz zum Schluss möchte ich noch einen Blick ‹nach vorn› werfen. Der besondere Charme des libertären BGE besteht darin, dass es ein geeignetes Mittel zu sein scheint, die Vorteile wettbewerblich-kapitalistischen Wirtschaftens (hohe Produktivität, hohe Innovationskraft, hoher gesamtgesellschaftlicher Reichtum) zu bewahren, ohne eine kritikwürdige Vereinseitigung der Rationalitäten zu implementieren, innerhalb derer sich Subjektwerdung, Leben, Vergesellschaftung abspielen.
Aus dieser Perspektive wäre es interessant die Firmenphilosophien einiger (anthroposophisch inspirierter) Privatunternehmen zu untersuchen85: Es scheint so, als würde es diesen Unternehmen gelingen, marktwirtschaftlichen Erfolg zu erreichen, ohne dass sie dafür auf strenge formale Hierarchien (= Fremdführungstechniken im Modus der Herrschaft) oder eine indirekt wirkende Verabsolutierung marktwirtschaftlicher Rationalität (= Selbstführungstechniken im Modus der Herrschaft) zurückgreifen müssten.86
Insofern dies tatsächlich der Fall ist, könnten einerseits die von diesen Unternehmen verfolgten Konzepte dazu dienen, auch den Bereich der Erwerbsarbeit in einen Raum von vielfältigeren, offeneren, freieren Macht- und Subjektivierungsspielen zu transformieren. Andererseits könnte ein solcher Vorgang - in Verbindung mit der Einführung eines libertären BGEs - die Gefahr erhöhen, dass sich eine andere, vielleicht eine ‹kulturelle› Rationalität absolut setzt. Solche Fragen könnten Gegenstand einer an diese Arbeit anknüpfenden Untersuchung sein.
Literaturverzeichnis
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Hinweis: Damit die Äußerungen und Ausführungen Foucaults beim Lesen dieser Arbeit auch zeitlich eingeordnet werden können, beziehen sich die Jahreszahlen, die ich beim Zitieren verwendet habe, immer auf das Jahr des Erscheinens des (französisch- oder englischsprachigen) Originaltexts, bzw. im Falle von Interviews, Vorlesungen und Vorträgen auf das Jahr, in dem Foucault sie gehalten hat. Die zweite Jahreszahl in den folgenden Literaturangaben gibt die (meistens deutsche) Ausgabe an, auf die ich mich beim Zitieren und Verweisen konkret beziehe.
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Warum ein Grundeinkommen? Zwölf Argumente und eine Ergänzung
Ronald Blaschke, Sprecher des Netzwerkes Grundeinkommen, Dresden 2005
Ein Grundeinkommen ist ein
- allen Menschen individuell zustehendes und garantiertes,
- in existenzsichernder Höhe (Armut verhindernd, gesellschaftliche Teilnahme ermöglichend)
- ohne Bedürftigkeitsprüfung (Einkommens-/Vermögensprüfung),
- ohne Arbeitszwang und -verpflichtung bzw. Tätigkeitszwang und -verpflichtung
vom Staat ausgezahltes Grund-Einkommen. Weitere Einkommen sind anrechnungsfrei möglich (Income Mix).
Alle genannten Kriterien kennzeichnen das Grundeinkommen als ein bedingungsloses. Es gibt schlicht und ergreifend keine Bedingung für den Bezug des Grundeinkommens.
Dadurch unterscheidet sich ein Grundeinkommen von einer Grund- oder Mindestsicherung.1
Ein Grundeinkommen ist kein sozialpolitisches Projekt, was versucht, Marktdefekte zu reparieren.
Es ist ein Projekt für mehr Freiheit, Demokratie und Menschenwürde. Es weist über die bestehende Gesellschaft hinaus.
Warum ein Grundeinkommen?
1. Das Überflussargument
Noch nie waren menschliche Gesellschaften auf der Erde so reich und lebten im Überfluss - an materiellen und immateriellen Gütern. Noch nie waren menschliche Gesellschaften so sehr auf die Unterordnung all dieser Reichtümer unter zwei kapitalistische Prinzipien fixiert - das Prinzip der Mehrung von Profit und das Prinzip der Mehrung von Herrschaft über Menschen. Beide Prinzipien bewirken Unfreiheit, Armut in allen Ländern der Erde und ökologische Schäden immensen Ausmaßes. Ein Grundeinkommen will diesen Prinzipien die Macht beschränken. Manche meinen sogar, das Fundament dieser Prinzipien zerstören. Weil es den (Lohn-)Arbeit - Kapital - Zusammenhang maulwurfsgleich untergräbt. Mensch und Gesellschaften werden mit einem Grundeinkommen (partiell) von diesem Herrschafts- und Erpressungsprinzipien befreit.
2. Das Arbeitsmarkt- und Einkommensargument
Entwickelte kapitalistische Gesellschaften sind hochproduktive Gesellschaften. Das (Lohn-/Erwerbs-) Arbeitsangebot stößt hier an die Grenzen seiner profitablen Nutzbarkeit. Daran ändern auch nationale demografische Entwicklungen nichts. Permanenter Überproduktion, ständiger Vernichtung und Neuproduktion von Gütern, externer Ausweitung von Märkten stehen sinkendes Arbeitsvolumen und steigende Produktivität gegenüber. Massenarbeitslosigkeit, Abbau traditioneller sozialstaatlicher Leistungen und Niedrig(st)löhne (working poor) verfestigen und verstärken die Spaltungen der Gesellschaft, Armut und Ausgrenzung. Eine ausreichende und kontinuierliche Einkommenssicherung über (Erwerbs-/Lohn-)Arbeit wird für viele immer unmöglicher. Dem gegenüber stehen steigende leistungslose Einkommen aus Vermögen und Finanzanlagen, die den Reichtum der Gesellschaft extrem ungleich verteilen. Ein Grundeinkommen trägt allen diesen Tatsachen Rechnung und verteilt materielle Teilhabemöglichkeiten neu - nach dem Prinzip der grundlegenden Bedürfnisse aller Menschen, nicht nach dem Prinzip der Markt- bzw. Herrschaftsposition einzelner.
3. Das Argument für Arbeiter, Unternehmer und deren Organisationen
Bestimmte Globalisierungseffekte und die steigende Anzahl der für die Reichtumsproduktion Überflüssigen führen zu einem enormen Verlust der Macht der Arbeitskraftanbieter. Diese Menschen und deren Organisationen werden immer erpressbarer, weil sie außer ihrer Arbeitskraft und lohnarbeitsabhängigen , z. T. demütigenden sozialen Sicherungen nichts zum Leben und zur Teilhabe an der Gesellschaft besitzen. Ein Grundeinkommen wird die Verhandlungspositionen der Arbeitskraftanbieter hinsichtlich der Arbeitsbedingungen entscheidend verbessern und die selbstschädigende Konkurrenz um "Arbeitsplätze" minimieren. Zugleich werden die Unternehmen von motivierten und eher freiwillig Arbeitenden profitieren. Eine hohe Eigenmotivation und Engagementbereitschaft ist für die Unternehmen in einer wissens- und kreationsbasierten Gesellschaft überlebensnotwendig.
4. Das Arbeitszeitargument
Traditionelle Arbeitszeitverkürzungen führen nur in sehr geringem Maße zu Neueinstellungen, eher zu Rationalisierungseffekten und Arbeitshetze/-verdichtung. Teilzeitarbeit geht mit Prekarisierung und geringem Erwerbseinkommen einher. Ein Grundeinkommen wird bessere Arbeitsbedingungen, freiwillige Unterbrechungen und individuell gewünschte Verkürzungen der (Erwerbs-/Lohn-)Arbeit entscheidend befördern.
5. Das Integrations- und Sinnargument
Die "Krise der Arbeit" hat(te) auch immer ihre nachweislichen subjektiven Seiten: schwindende Akzeptanz von Arbeitsinhalten, schwindende Sinn-, Integrations- und Identitätsstiftung durch (Erwerbs-/Lohn-)Arbeit. Ein Grundeinkommen befördert dagegen die Multiaktivität der Menschen (Tätigkeitsgesellschaft) und den darauf basierenden Reichtum der Gesellschaft, die Aufhebung der geschlechterspezifischen "Arbeitsteilung" und mögliche Formen der Aneignung der Produktionsprozesse (Alternativökonomien, Mitbestimmung hinsichtlich Arbeitsinhalt/- bedingungen). Neue Möglichkeiten der Sinn-, Identitäts- und Integrationsstiftung werden also eröffnet.
6. Das Lohnarbeitsargument
Lohnarbeit war und ist eine Tätigkeit unter dem Diktat eines fremden Willens (Profitunterordnung, Unterordnung unter Vorgesetzten/Hierarchie) und unter dem Diktat des Zwanges aus der existenziellen Not heraus. Sozialpartnerschaftliche und wohlfahrtsstaatliche Arrangements haben diesen Charakter der Lohnarbeit verdeckt. Ein Grundeinkommen befördert die Abstreifung des Lohnarbeitscharakters vom zutiefst menschlichen Streben nach Anerkennung, nach Status und Identität, nach Wirken, Werken und einander Messen.
7. Das Argument der an Bedeutung gewinnenden "immateriellen" Produktion
Ein Grundeinkommen ist auch die gesellschaftlich notwendige Antwort auf die zunehmend wissens-, phantasie- und kreativitätsbasierte materielle Produktion und Wertschöpfung, die nicht mehr in den Kategorien individueller Arbeitszeit und Arbeitsleistung messbar ist. Einerseits bildet sich ein Individuum vornehmlich außerhalb der (Erwerbs-/Lohn-)Arbeit, im gesamten Lebensvollzug. Andererseits ist das, was als angewandte Wissenschaft (subjektives Wissen, Maschine-/Organisationssysteme) durch die Individuen im materiellen Produktionsprozess angewendet wird, Resultat eines geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses. Der zunehmende Einfluss des "Immateriellen" in der materiellen Produktion untergräbt die Zurechen- und Messbarkeit des Anteils des Einzelnen am materiellen Gesamtprodukt. Gesamtgesellschaftliche Produktion/Wertschöpfung und individuelle Arbeitszeit/Arbeitsleistung entkoppeln sich, also müssen sich auch Einkommen, d. h. individuelle Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und Leben, und individuelle Arbeit entkoppeln, also ein bedingungsloses Grundeinkommen gezahlt werden.
8. Das Argument für einen neuen Sozialstaat
Das Grundeinkommen ist die notwendige Reaktion auf lohnarbeitszentrierte, patriarchalisch geprägte Sozialsysteme, die vorzuweisende Symptome als Voraussetzung des Transferbezuges abverlangen (z. B. Krankheit, Erwerbsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit etc.) sowie Diskriminierungen und Repressionen beinhalten (Arbeitszwang, Offenlegung privater Angelegenheiten). Ein Grundeinkommen begründet einen Sozialstaat, das den Bürgerinnen und Bürgern eine menschenwürdige, eigenverantwortliche und repressionsfreie Lebensführung ermöglicht.
9. Das Demokratieargument
Voraussetzung des Einmischens aller Bürgerinnen und Bürger in die demokratische Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten (res publica) ist deren Grundabgesicherheit. Existenzängste und -nöte befördern demokratiegefährdende Enthaltsamkeit von Einmischung oder gar demokratie- und toleranzfeindliche Überzeugungen und Aktivitäten in allen Schichten der Bevölkerung. Das Grundeinkommen gewährt die Freiheit von Existenzängsten und die Freiheit zur Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten.
10. Das Bürokratieargument
Ein Grundeinkommen kann viele steuerfinanzierte Sozialtransfers in sich vereinigen und wird durch die bedingungslose Auszahlung einen enormen Abbau an staatlicher Bürokratie zur Folge haben.
11. Das Mußeargument
Das erdumspannende kapitalistische System gleicht einem in sich zunehmend beschleunigten und erhitzten System, dem Wärmetod entgegen sterbend. Entschleunigung und Abkühlung scheinen nur durch vielfältige Möglichkeiten der Muße und einhaltenden Besinnung möglich. Ein Grundeinkommen schafft Voraussetzungen für Muße und Besinnung, d. h. für eine lebensförderliche Entschleunigung und Kreativität individueller und gesellschaftlicher Prozesse.
12. Das ethische Argument
Einerseits ist in Überflussgesellschaften der Grund für das ethische (biblische und sozialistische) Argument "wer nicht arbeiten will, soll nicht essen!" - nämlich der Mangel - entfallen.
Andererseits ist den Argumenten des "Gutes (Erwerbs-/Lohn-)Arbeit" zu entgegen:
- Arbeit schafft ein Menge schlechtes.
- Wer auf das "Gut Arbeit" durch (partielle) Enthaltsamkeit verzichtet, ist in der Logik vom "Gut Arbeit" moralisch und materiell zu entschädigen, nicht zu verurteilen oder materiell zu benachteiligen.
Zusatz
Ein Bedingungsloses Grundeinkommen ist zu ergänzen durch das Recht auf Unterbrechung der Arbeit, auf kostenfreien Zugang zu öffentlichen Gütern (Mobilität, Bildung, Kultur, Gesundheitsprävention und -versorgung usw.), auf Multiaktivität inkl. der dazu notwendigen Infrastrukturen und auf Bildung, die den Bürger als Mensch und nicht nur als Arbeitsbürger zum Ziele hat.2
[...]
1 Der Ausdruck ‹Neoliberalismus› wurde - in systematischer Weise und als Selbstbezeichnung - als erstes von den Ordoliberalen um Walter Lippmann genutzt (Gertenbach 2007:64; ausführlicher: Walpen 2000:1066-1079, 2004:66-80). Gertenbach vertritt - im Gegensatz zu Walpen - die Auffassung, dass man durchaus von ‹dem Neoliberalismus› sprechen kann, insofern sich alle infrage kommenden Strömungen und Programmatiken in ihrer „Differenz zu Sozialismus auf der einen und ‹Laissez-faire-Liberalismus› auf der anderen Seite” vereinen (Gertenbach 2007:66). Die folgenden Untersuchungen werden u.a. zeigen, dass die konstatierten Verwerfungen in engem Zusammenhang mit einer neoliberalen Rationalität stehen.
2 Die spitzen ‹Anführungszeichen› verwende ich aus stilistischen Gründen, aus dem Wunsch der Distanzierung oder wenn ein/e von mir zitierte/r Dritter selbst Anführungszeichen verwendet hatte. Hingegen verwende ich die gängigen „Anführungszeichen” zur Markierung von Zitaten und Begriffen Dritter.
3 Nur ein paar wenige Zahlen zur Illustration: Im Jahr 2002 erzielte das einkommensstärkste Dezil der Deutschen 23,3 % aller Einkommen, das einkommensschwächste Dezil hingegen nur 3,2%. Innerhalb von drei Jahren (bis 2005) hat sich diese Diskrepanz weiter vergrößert: Der Anteil des untersten Dezils hat sich um 9,4% vermindert (auf jetzt 2,9 % des Gesamteinkommens). Der Anteil des obersten Dezils hat sich im gleichen Zeitraum um 6,4% erhöht (auf jetzt 24,9% des Gesamteinkommens). Der Gini-Koeffizient zur Messung der gesamtgesellschaftlichen Ungleichheit ist von 0,292 auf 0,316 angestiegen (= +7,6%) (BAZ 2008:17-19). Diese Zahlen stammen aus dem „Dritten Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung” und dürften daher eher beschönigen als übertreiben. Beispielsweise geben die Daten keine Auskunft über ein Pro-Kopf-Einkommen, sondern über das sogenannte Nettoäquivalenzeinkommen, bei dem eine zweite Person im Haushalt nur als 0,5-facher und ein Kind nur als 0,3- facher ‹Kopf› berücksichtigt wird.
4 Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) über die Pro-Kopf Verteilung von Nettovermögen unter allen über 17jährigen in Deutschland im Jahr 2002 kommt zu folgenden Ergebnissen: Das vermögensschwächste erste Dezil hat Nettoschulden und das zweite und dritte Dezil verfügen über so geringe Vermögen (weniger als 7500 €), dass die Datenerhebung zu schwierig ist und sie als ‹vermögenslos› in die Statistik eingehen. Hingegen vereint das erste Dezil 58,7% des Gesamtvermögens aller Privatpersonen auf sich, welches die Studie insgesamt auf 5,4 Billionen schätzt (ohne Sachvermögen wie Autos und andere Gebrauchsgegenstände). Die drei ersten Dezile verfügen über 90,2% des Gesamtvermögens. Der Gini-Koeffizient liegt bei beeindruckenden 0,79 (Frick/Grabka 2007:665-672).
5 Von den sechs aktuell im Bundestag vertretenen Parteien kündigt nur die - im Kontext dieser Verwerfungen neu entstandene - Linkspartei den ansonsten parteiübergreifenden Konsens der allgemeinen neoliberalen Marschrichtung auf.
6 Die Schreibweise mit großem ‹Binnen-I› lässt Identifikation durch männliche und weibliche Leser_Innen zu. Der zusätzliche Unterstrich soll daran erinnern, dass ‹weiblich› und ‹männlich› sozial konstruierte und wirkungsmächtige Kategorien sind, die all jene Identifikationsversuche seitens der Subjekte erschweren, welche von dieser binären Vorgabe abweichen wollen (vgl. Bentrup 2007:130, Herrmann 2003). Diese Schreibweise ist daher nicht nur ein Selbstzweck im Sinne von mehr Geschlechtergerechtigkeit, sondern unterstützt und illustriert zugleich die (in dieser Arbeit verfolgte) Foucaultsche Perspektive auf die Konstitution von Subjekten durch Diskurse und Machteffekte.
7 Z.B. der von Pierre Bourdieu (1998) und Anthony Giddens (1997) (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2004:19)
8 Kursiv setze ich Wörter und Ausdrücke, die ich besonders hervorheben möchte, sowie anderssprachige Ausdrücke und Passagen im Fließtext.
9 Ausdruck von Pierre Bourdieu (1998:42), Hervorheb. im Orig. Vgl. auch Bröckling/Krasmann/Lemke 2004:19.
10 „Geschichte der Denksysteme” war die Bezeichnung von Foucaults Lehrstuhl am Coll è ge de France in Paris, an dem er von 1971-1984 forschte und lehrte (Ewald/Fontana 2006:7)
11 Im Interesse der bestmöglichen Lesbarkeit dieser Arbeit zitiere ich Foucault und andere i.d.R. aus den vorliegenden deutschen Übersetzungen. Nur wo mir keine Übersetzung vorlag oder wo der Rekurs auf die Ausgangsprache aus Gründen der begrifflichen Genauigkeit geboten erscheint, zitiere ich in der Ausgangsprache.
12 Für einen genaueren Überblick mit zahlreichen Literaturhinweisen vgl. Lemke 2007:48-51.
13 nämlich des Begriffsfeldes von „Selbst- und Fremdführungstechniken”, von „Macht- und Herrschaftstechniken” (siehe Kapitel B 3)
14 Foucault hatte die betreffende Vorlesungsreihe von 1979 unter den Titel „Geburt der Biopolitik” gestellt (MF 1979), kommt jedoch auf diese „Biopolitik” kaum explizit zu sprechen, sondern analysiert stattdessen den (Neo)Liberalismus als Regierungsrationalität. Zu Beginn der achten Sitzung sieht er sich zu der Erklärung veranlasst: „Ich möchte Ihnen trotz allem versichern, dass ich zu Beginn die Absicht hatte, über Biopolitik zu sprechen (...).” (MF 1979:260) - jedoch bleibt eine solche explizite Thematisierung auch in den folgenden Sitzungen aus. Lars Gertenbach (2007:159) vermutet daher eine „Abkehr von dem Konzept und der Thematik der Biopolitik”, zumal Foucault dieses auch in späteren Arbeiten und Interviews nicht wieder aufgegriffen habe. Ich bin jedoch der Meinung, dass man an verschiedenen Stellen nachweisen kann, dass die Thematisierung des (Neo)Liberalismus zugleich die implizite Thematisierung der Biopolitik ist. Dies entspricht der Intention Foucaults, „den Liberalismus als allgemeinen Rahmen der Biopolitik zu untersuchen” (MF 1979:43).
15 Maßgeblich in Anschluss an Nietzsche; vgl. hierzu Rehmann 2004, insbesondere S. 105-132
16 Zu finden insbesondere bei Vertragstheoretikern wie Hobbes und Rousseau; Foucault zufolge darüber hinaus im „politischen Denken des 19. Jahrhunderts” überhaupt (MF 1984b:893); außerdem entwickelt Foucault diesen Ansatz speziell in Abgrenzung zu Althusser (vgl. Rehmann 2004:172).
17 Ähnlich sieht es u.a. Gertenbach (2007:19, 23): „Mit dem Begriff der Gouvernementalität erweitert Foucault das in seinen vorherigen Studien abgesteckte Feld der Macht und integriert zwei Momente, die zuvor eher unterrepräsentiert waren: die politische Ebene und das Subjekt.” „Die Regierung in ihrer Gleichzeitigkeit als Totalisierungs- und Individualisierungsinstanz ist so das wesentliche Untersuchungsobjekt der Analytik der Gouvernementalität.”
18 Dadurch werden natürlich viele Facetten, Entwicklungen und Verschiebungen in Foucaults Analysen eingeebnet. Ich wähle dennoch diesen Zugang, zum einen weil im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine umfassende Würdigung der Machtanalysen Foucaults ohnehin nicht möglich ist und auch an anderer Stelle schon geleistet wurde (z.B. Lemke 1997); zum anderen weil es eben diese Ebene ist, deren Aufnahme im Rahmen meiner Fragestellung am vielversprechendsten und für den Aufbau meiner Arbeit zielführend ist. Übrigens hätte wohl auch Foucault selbst an einem solchen, selektiven Vorgehen nichts auszusetzen: „Was ich geschrieben habe sind keine Rezepte (...). Es sind bestenfalls Werkzeuge.” (MF 1978d:25)
19 Foucault greift hier auf die Habermassche Unterscheidung zwischen „zweckrationalem” und „kommunikativem Handeln” zurück. (Habermas 1968; vgl. auch MF 1982b:968, MF 1980b:203)
20 Zu den Anleihen, die Foucault bei der Konzeption seines Machtbegriffes bei Nicos Poulantzas - und indirekt bei Karl Marx - macht: vgl. Rehmann 2004:138
21 Der Gebrauch der Begriffe ist bei Foucault (vielleicht weil es sich um mündliche Vorträge auf Englisch handelt und / oder weil sich hier Unterscheidungsebenen überlagern) a) nicht einheitlich und b) nicht trennscharf, was c) zu terminologischer Verwirrung führt und einer Systematisierung bedarf. a) Im Rahmen seiner Seminare in den USA unterscheidet er zunächst zwischen „ techniques of domination” einerseits und „ techniques or technology of the self ” andererseits (MF 1980b:203, Hervorheb. von mir, S.A.) und (vermutlich als synonyme Bezeichnungen gemeint) zwischen „ coercion-technologies ” einerseits und „ self technologies ” andererseits (MF 1980b:204). Später hingegen lautet die Unterscheidung „ technologies of power ” einerseits und „ technologies of the self ” andererseits (MF 1982f:sec.I, Hervorheb. von mir, S.A.) b) Zunächst beschreibt er die „ techniques of domination ” in einer Weise, die unter Berücksichtigung seiner Qualifizierung von „Macht” an anderen Orten (z.B. „das Handlungsfeld anderer strukturieren”, s.o.), den Schluss nahelegt, dass er eigentlich lieber von ‹ techniques of power › sprechen sollte: „ techniques of domination”, sagt er nämlich, seien jene, „ which permit one to determine the conduct of individual , to impose certain wills on them, and to submit them to certain ends or objectives” (MF 1980b:203). An anderer Stelle verwendet er die fast wortgleiche Beschreibung dann auch tatsächlich für „ technologies of power”: „ technologies of power”, sagt er, seien diejenigen, „ which determine the conduct of individuals and submit them to certain ends or domination, an objectivizing of the subject” (MF 1982f:sec.I). c) In einem der beiden amerikanischen Seminare kann der Eindruck entstehen, Foucault wolle auf so etwas wie eine Oppositionsbeziehung zwischen den techniques of domination und den techniques of the self hinaus: „ Let`s say: he has to take into account the interaction between those two types of techniques - techniques of domination and techniques of the self. ” (MF 1980b:203). Diesen Eindruck reproduziert auch Thomas Lemke: „Regierungstechnologien”, sagt er beispielsweise, „ zeichnen sich dadurch aus, dass sie Selbstführungstechniken mit Techniken zur Führung der anderen koppeln:” Zum Beleg für diese an sich korrekte Behauptung zitiert er im Anschluss die eben auf englisch genannte Textstelle Foucaults in eigener Übersetzung: „Man muss die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Technikformen - Herrschaftstechniken und Selbsttechniken - untersuchen.” (Lemke 2007:37). Lemke übersetzt also zunächst (nicht nur an dieser Stelle) die Ausdrücke technologies of power / techniques of domination trotz der eben besprochenen Widersprüchlichkeiten einheitlich mit „Herrschaftstechniken” und setzt sodann „Herrschaftstechniken” - mindestens implizit - mit den „Techniken zur Führung der anderen” gleich. Diese Gleichsetzung... - ... impliziert erstens die Vorstellung eines Oppositionsverhältnisses zwischen Herrschaftstechniken und Selbsttechniken, was an verschiedenen Stellen deutlich wird. So schreibt Lemke beispielsweise, der „Regierungsbegriff” ermögliche es, „zu untersuchen, wie Herrschaftstechniken sich mit ‹Technologien des Selbst› (...) verknüpfen.” (Lemke 2001:108-109). Als Co-Autor in einem Kapitel mit der bezeichnenden Überschrift „Selbst- und Herrschaftstechnologien” formuliert er: „Im Rahmen der Gouvernementalitätsanalyse unterscheidet Foucault zwischen Herrschafts- und Selbsttechnologien.” (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004:28). Sinnvollerweise kann aber von einem Oppositionsverhältnis nur in Bezug auf entweder a) die Kategorien von „Selbstführungstechniken” und „Fremdführungstechniken” oder in Bezug auf b) die Kategorien von „Herrschaft” und „Macht” gesprochen werden - wobei bei letzteren der Übergang sicherlich fließend ist. Dementsprechend verknüpft der Regierungsbegriff a) Selbst- und Fremdführungstechniken und b) Herrschafts- und Machtbeziehungen aber nicht, oder jedenfalls nicht notwendigerweise, so wie Lemke es nahelegt „Selbst- und Herrschaftstechnologien”. - ... suggeriert somit zweitens - wenn auch sicherlich unabsichtlich - , dass sich die Beeinflussung und Lenkung anderer stets in (statischen, verfestigten, zwingenden) Herrschaftsverhältnissen vollzieht. Eine solche Vorstellung wäre für die analytische Stärke fatal und würde auch der spezifischen Originalität des ganzen Foucaultschen Ansatzes widersprechen, welche, wie Lemke ja treffend formuliert, gerade darin besteht, „das Problem des Willens jenseits von Freiwilligkeit und Zwang” zu thematisieren (Lemke 2007:43). Die Foucaultsche Unterscheidung von techniques of the self einerseits und technologies of power/ techniques of domination andererseits eröffnet also eine (durch die unscharfen Begriffe schlecht gekennzeichnete) neue Unterscheidungsebene, die quer zu jener zwischen Macht und Herrschaft verläuft, nämlich die Unterscheidung zwischen „Selbstführungstechniken” und „Fremdführungstechniken”. (Diese Bezeichnungen finden sich auch bei Lemke 2007:43, allerdings ohne die hier unternommene Systematisierung, sondern mit den soeben problematisierten Verschiebungen.) Ich möchte deshalb vorschlagen - entgegen der unsystematischen Verwendung durch Foucault - grundsätzlich zwischen Selbst- und Fremdführungstechniken zu unterscheiden, wobei sich beide sowohl im Modus eines Macht- als auch eines Herrschaftsverhältnisses vollziehen können. Ich werde die Begriffe in diesem Sinne gebrauchen und in Kapitel E 2.2.2 den möglichen theoretischen Mehrwert einer solchen Verwendung an einem Beispiel illustrieren.
22 Diese positive bis euphorische Sicht auf die Selbsttechniken stammt aus dem Umfeld von Foucaults Untersuchung der „Sorge um sich” im antiken Athen und Rom (vgl. MF 1984, 1984c), ein Zeitalter, für das er nach eigenem Bekunden „nostalgisch(n) Gefühle” hegt (MF 1982d:962). Dort sei die Sorge um sich ein umfassender, „fundamentale(r) Imperativ” und die „wichtigste Beschäftigung der Philosophie” gewesen (MF 1984b:880,893). Darauf dass auch ein solcher fundamentaler Imperativ nicht unproblematisch ist (Kapitel F, G) und darauf, dass sich die Sorge um sich aktuell in ganz anderer Weise realisiert - nämlich in einer für unsere neoliberalen Gesellschaften spezifischen Weise - werde ich noch zurückkommen (Kapitel E).
23 Lemke (2007:39) zeichnet die Absetzbewegung nach, die Foucault gegenüber der Machtanalyse Webers vollzieht (vgl. Weber 1980).
24 Er relativiert allerdings die der Freudschen Konzeption zugrundeliegende Vorstellung einer Dichotomie von Individuum und Gesellschaft, insofern er darauf insistiert, „dass das, was wir ‹Gesellschaft› nennen, weder eine Abstraktion von Eigentümlichkeiten gesellschaftslos existierender Individuen noch ein ‹System› oder eine ‹Ganzheit› jenseits der Individuen ist, sondern vielmehr das von den Individuen gebildete Interdependenzgeflecht selbst.” (Elias 1976a:LXVII-LXVIII)
25 Vgl. zu diesen Ausführungen u.a.: MF 1976:277-286, MF 1976b:28, MF 1976c:161-170 und 232, MF 1976d:197, MF 1979:100 sowie Lemke 1997:73 und 134-135.
26 Die heute bestehenden graduellen Abstufungen widersprechen dieser Analyse nicht unbedingt: Im Bereich der Disziplin (z.B. bessere Noten...schlechtere Noten) lassen sich die Abstufungen als Weiterentwicklung eines ursprünglich binären (juridischen) Codes interpretieren, dessen sich der feudale Souverän lediglich bediente, um zwischen Gehorsam/Nicht-Gehorsam seines Untertans zu unterscheiden. Die heute zu beobachtende graduelle Ausdifferenzierung wäre also genau jene Weiterentwicklung des juridischen Prinzips, welcher es im Rahmen einer produktiven Macht bedurfte, deren Funktion nicht mehr alleine darin lag, den Gehorsam eines Untertanen zu sichern, sondern die Produktivkraft einer Mensch-Maschine in einer zunehmend komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft zu optimieren. (vgl. MF 1975:229-238). Foucault bezeichnet die Disziplin auch als „ein Subsystem des Rechts” (MF 1975:285). In analoger Argumentation können die Abstufungen auf dem Gebiet der Rechtssprechung (z.B. größere...geringere Schuldfähigkeit unter Einbeziehung der Persönlichkeit des Täters / der Täterin und der Umstände der Tat; größere...geringere Schwere der Schuld unter Einbeziehung der Tatmotive) als ein Effekt der zunehmenden Kolonisierung des Rechtssystems durch die ökonomischen Prinzipien der Disziplinar- und Sicherheitsmechanismen erklärt werden (MF 1976c:170-172) - insbesondere als ein Indiz der zunehmenden Hegemonie der Sicherheistmechanismen (vgl. nächstes Kap. „Gouvernementalität”, vgl. MF 1979:345-346).
27 Nämlich: Welche präventive Untersuchungen und Verfahren sollen zu welchem Zeitpunkt, in welchem Umfang, für welche Gruppe der Bevölkerung, zur Vermeidung welcher Risiken unter Inkaufnahme welcher Kosten angewendet werden? Welches sind die Risiken und Kosten für die Bevölkerung im Falle einer Intervention, welche im Fall von Nichtintervention?
28 Die hier verwendete Unterscheidung von „Norm”, „Normierung” und „Normalisierung” geht auf einen Vorschlag von Gertenbach (2007:150-157) zurück, die von Foucault nicht in dieser Systematik gebrauchten Termini produktiv weiterzuentwickeln.
29 Foucault-Interpret_Innen weisen jedoch darauf hin, dass Foucault den Ausdruck der gouvernementalit é eher als strukturellen Gegenbegriff zu dem der souverainet é, ausgehend von dem Adjektiv gouvernemental, entwickelt habe, denn als semantische Verknüpfung zwischen gouverner und mentalit é „Entgegen der von bestimmten deutschen Kommentatoren vorgelegten Interpretation kann das Wort ‚gouvernementalité› nicht aus der Zusammenziehung von (…) gouvernement und ‚mentalité› resultieren (…), da ‚gouvernementalité› aus ‚gouvernemental› abgeleitet ist - wie ‹musicalité› aus ‹musical› oder ‹spacialité› aus ‹spacial›. (…) Die Übersetzung des Wortes mit Regierungsmentalität […] ist folglich eine Fehldeutung.“ (Sennelart 2006:564, vgl. auch Lemke 2007:13). Gegen diese These, bzw. für die mindestens gleichwertige Angemessenheit der zuvor genannten Deutungen, spricht m. E. eine Textstelle in Foucaults Aufsatz über „ Le sujet et le pouvoir ”, in der er das ‹Gouvernementalisiert-Sein› als eine Mischung aus ‹Rationalisiert-Sein› und ‹Zentralisiert-Sein› beschreibt und damit ganz genau die unterstellte semantische Verknüpfung von ‹Denkweise/Mentalität/Rationalität› einerseits und ‹Regierungsmacht/Zentralmacht› andererseits vollzieht: „En se référant au sens cette fois restreint du mot ‹gouvernement›, on pourrait dire que les relations de pouvoir ont été progressivement gouvernementalisées, c`est-à-dire élaborées, rationalisées et centralisées dans la forme ou sous la caution des institutions étatiques.” (MF 1982c:241).
30 Foucault spricht auch von „Bio-Macht” (MF 1976c:167, 1976:280), ohne klar zwischen beiden zu unterscheiden. Ich werde ebenfall beide Begriffe verwenden, wobei ich bei „Bio-Macht” an die Rationalität dieser Machtform im Allgemeinen denke, an ihre Formen, Effekte und Modalitäten. Demgegenüber denke ich, wenn ich von „Biopolitik” spreche, zuvorderst an die Bio-Macht im Kontext staatlicher Souveränität.
31 Dies gilt selbstverständlich in gleicher Weise für Macht, die außerhalb staatlicher Institutionen ausgeübt wird.
32 Die Gründe dafür, dass es der politischen Ökonomie möglich war, diese entscheidende Stellung einzunehmen, können wiederum in den Wechselwirkungsprozessen mit den simultanen Vorgängen der Industrialisierung, der Säkularisierung und der Nationalstaatengenese gefunden werden: In dem Maße wie das Gottesgnadentum als Legitimationsquelle von Herrschaft entfiel, gewann die Sorge für das materielle Wohl der Regierten an Bedeutung. In dem Maße, wie das materielle Wohl von mehr und mehr Menschen nicht länger von (klimatisch bedingten) Ernte(-miß-)erfolgen, sondern von (mensch-gemachten) wirtschaftlichen Konjunkturzyklen abhing, wurde die erfolgreiche Gestaltung der letzteren immer bedeutsamer. Foucault deutet diese Dinge nur an, wenn er sagt, dass nunmehr „Erfolg oder Mißerfolg” „und nicht mehr Legitimität und Illegitimität” „das Kriterium des Regierungshandelns sind” (MF 1979:34) und wenn er „eine bestimmte monetäre Situation im 18. Jahrhundert (...), ein kontinuierliches wirtschaftliches und demographisches Wachstum (...), die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion” als wesentliche Bestimmungsfaktoren dieser Entwicklung ausmacht (MF 1979:57).
33 Freilich soll dies nicht so interpretiert werden, „daß es sich um zwei getrennte, einander fremde, unvereinbare, widersprüchliche Systeme handelt, die sich gegenseitig ausschließen, sondern ich meine, daß es hier zwei Verfahrensweisen gibt, die heterogen sind.” (MF 1979:70)
34 Zum Zusammenhang von Nützlichkeit, Interesse und ökonomischem Prinzip („Tausch”): „Die allgemeine Kategorie, die den Tausch und die Nützlichkeit abdeckt ist selbstverständlich das Interesse, denn das Interesse ist das Prinzip des Tauschs und das Kriterium der Nützlichkeit” (MF 1979:73)
35 Marktkonform seien dabei all jene Handlungen, in denen der Staat nicht selbst als Wirtschaftssubjekt (also als Produzent oder Konsument von Waren und Dienstleistungen) auftrete, sondern in denen er den rechtlichen Rahmen (lat.: ordo) variiere, innerhalb dessen sich das freie Marktgeschehen entfalten könne (MF 1979:190-201 u. 235- 242): „ein Minimum an wirtschaftlicher Intervention und ein Maximum an juridischer Intervention”, die Anwendung des Prinzips des Rechtsstaat auf die Wirtschaft, das sei das Prinzip des Ordoliberalismus (ebd.:235- 236, vgl. z.B. Hayek 1960).
36 Ich verwende den Begriff homo oeconomicus im Folgenden zumeist in dieser neoliberalen Konzeption, also synonym zu dem Begriff des „Unternehmer seiner selbst” - außer wenn ich explizit den ‹klassischen› Gebrauch kennzeichne.
37 Foucaults Analyse scheint hier eindeutig unzutreffend zu sein. Ihm zufolge möchten die Ordoliberalen die Wiederherstellung von Ankerpunkten durch die allumfassende Ausweitung des Unternehmensmodells auf jedwede „Form der Beziehung des Individuums zu sich selbst, zur Zeit, zu seiner Umgebung, zur Zukunft, zur Gruppe, zur Familie” erreichen: „Welche Funktion hat nun diese Verallgemeinerung der Form des ‹Unternehmens›?” fragt Foucault in der eben bereits kurz zitierten Vorlesung rhetorisch und antwortet: „Einerseits handelt es sich natürlich darum, das ökonomische Modell im großen Maßstab zur Anwendung zu bringen, das Modell von Angebot und Nachfrage, das Modell von Investition-Kosten-Gewinn, um daraus ein Modell für die sozialen Beziehungen zu machen, ein Modell der Existenz selbst, eine Form der Beziehung des Individuums zu sich selbst, zur Zeit, zu seiner Umgebung, zur Zukunft, zur Gruppe, zur Familie. Das ökonomische Modell wirklich zu vervielfachen. Und andererseits dient diese Idee der Ordoliberalen (...) zu dem, was von ihnen als Wiederherstellung einer ganzen Reihe moralischer und kultureller Werte bestimmt wird, die man ‹warme› Werte nennen könnte, und die sich geradezu antithetisch zum ‹kalten› Mechanismus des Wettbewerbs verhalten.” (MF 1979:334, Hervorh. von mir, S.A.). In den (auch von Foucault konsultierten) Texten findet sich diese Argumentation aber nicht wieder. Bei Röpke findet sich ganz im Gegenteil eine Konzeption, in der die Marktwirtschaft als eine spezielle Sphäre neben anderen erscheint, die es zu stützen, aber eben auch zu begrenzen und auszugleichen gilt: „Die Marktwirtschaft ist lediglich eine bestimmte und, wie wir sahen, schlechthin unentbehrliche Anordnung innerhalb eines engen Bereichs, wo sie unverfälscht und unaufgeweicht hingehört; auf sich allein gestellt ist sie gefährlich, ja unhaltbar, weil sie dann die Menschen auf eine durchaus unnatürliche Existenz reduzieren würde (...) Die Marktwirtschaft ist nicht alles. (...) sie muß verrotten, wenn es neben diesem Sektor nicht noch andre gibt: den Sektor der Selbstversorgung, der Staatswirtschaft, der Planung, der Hingabe und der schlichten ungeschäftlichen Menschlichkeit”, welche Röpke - aber dies nur am Rande und zur Illustration der relativen Beliebigkeit, mit der ‹das Wesen des Menschen› definiert werden kann - voller bürgerlich-konservativem Pathos mit den „ewig-menschlichen Gedanken und Empfindungen für Gerechtigkeit, Ehre, Hilfsbreitschaft, Gemeinsinn, Frieden, saubere Arbeitsverrichtung, Schönheit und Naturfrieden” assoziiert (Röpke 1944:231). Auch bei Rüstow findet sich eine solche Argumentation, welche die Rationalität der Konkurrenz auf eine Sphäre zu begrenzen und durch eine andere auszugleichen gedenkt: „Gegen die zwischenbetriebliche Konkurrenz muß die innerbetriebliche Solidarität das Gegengewicht bilden.” (Rüstow 1952:12) Foucault behauptet, die ordoliberale Sozialpolitik grenze sich von jener der „Wohlfahrtsökonomie” der „keynesianischen Ökonomen” dadurch ab, dass sie eben „nicht als Gegengewicht dienen und nicht als etwas bestimmt werden [will, S.A.], was die Wirkungen der Wirtschaftsprozesse ausgleicht”. (MF 1979:202). Röpke hingegen schreibt, es sei die Aufgabe der „Wirtschafts- und Sozialrefom”, dass sie „der Proletarisierung, Zusammenballung und Überschraubtheit und damit sowohl der eigentlichen Ursache der wilden Wirtschaftsstöße entgegenarbeitet wie ihre Folgen individuell weitgehend erträglich macht.” (Röpke 1948:363). Gertenbach (2007:56) weist darauf hin, dass Foucault generell die konservativ motivierte „doppelte Gegnerschaft” des Ordoliberalismus gegenüber planwirtschaftlichen und radikal-liberalen Positionen übergeht oder übersieht und die Gemengelage stattdessen einseitig auf den „Unterschied zwischen einer liberalen Politik und jeder beliebigen anderen Form des ökonomischen Interventionismus”(MF 1979:160) reduziert .
38 Siehe Schultz (1981) und Becker (1993) und (1996). Beckers Verständnis von Ökonomie ist sogar noch umfassender, noch weitgehender als nur die „Analyse der Art und Weise, wie knappe Ressourcen auf konkurrierende Zwecke verteilt werden”: Bei ihm kann die „Ökonomie (...) als die Wissenschaft der Systemazität von Reaktionen auf die Variablen der Umgebung charakterisiert werden”; als eine Wissenschaft, die „herausfindet, wie eine gegebene Menge von Reizen durch sogenannte Verstärkungsmechanismen Reaktionen hervorbringen kann”. (MF 1979:370). Sollte eine solche Wissenschaft tatsächlich existieren und handhabbar sein, so wäre sie natürlich die beste Regierungstechnik, die man sich nur vorstellen kann!
39 Die Rendite, die die Eltern in Hinblick auf ihre Kinder erzielen, sei eine psychisch-emotionale: „Und welchen Ertrag bekommt die Mutter, die die Investitionen gemacht hat? Nun, sagen die Neoliberalen, einen psychischen Ertrag. Er besteht in der Befriedigung, die die Mutter daraus zieht, daß sie das Kind pflegt und daß sie sieht, daß die Pflege tatsächlich erfolgreich war.” (MF 1979:337)
40 Je mehr und je länger die Menschen in einer von einer ökonomischen Rationalität durchdrungenen Gesellschaft leben, desto umfassender werden sie die (Macht-)Beziehungen zu sich selbst, zu ihren Familien und allen anderen in einer ebensolchen Rationalität ausformen. Umgekehrt gilt dies natürlich genauso: Nur eine Gesellschaft, deren „soziales Gewebe” bereits in einem hohen Maße von Beziehungen ökonomischer Rationalität durchdrungen ist, kann eine derartige Diskurs- und Analyseform wie die der Humankapitaltheorie hervorzubringen.
41 Ausgehend von genau dieser (ideologischen) Prämisse argumentiert übrigens u.a. auch der medienpräsente Präsident des Müncher Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn: „Mit etwas mehr Ungerechtigkeit lebt es sich besser. Etwas mehr Ungleichheit in der Einkommensverteilung bewirkt auch für die weniger gut dabei Wegkommenden letztlich einen höheren Lebensstandard, als wenn man ein egalitäres System schafft, wo alle das Gleiche kriegen und alle gleichermaßen arm sind. (...) Jeder Mensch in der Marktwirtschaft denkt doch zunächst einmal an sein eigenes Wohlergehen, trotzdem funktioniert die Marktwirtschaft. Sie braucht nicht den guten Menschen, sondern funktioniert mit Menschen, die ihren eigenen Vorteil maximieren wollen.” (Sinn 2007)
42 Insbesondere ist hier an Niklas Luhmann zu denken, bei dem - ebenso wie bei Foucault - ‹der Mensch› verschwindet - allerdings in Systemen statt in Machtbeziehungen und Diskursen.
43 Ähnlich: Rehmann 2004:165-173. Für einen Überblick über weitere ähnlich gelagerte Kritiken siehe Lemke 1997:13-33.
44 In einer Debatte zwischen Michel Foucault und Noam Choamsky, die 1971 im niederländischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, geht es ebenfalls um genau diese Problematik: Chomsky vertritt den Standpunkt, dass es eine „kongnitive(n) Struktur”, gewisse „angeborene(n) Organisationsprinzipien oder eine(n) instrinsischen geistigen Schematismus” gebe, welche die „menschliche(n) Natur” ausmachten (Chomsky/Foucault 1971:591), dass es also „grundlegende(n) Eigenschaften des Menschen” und daraus folgend „grundlegende(n) Bedürfnisse des Menschen wie zum Beispiel die Bedürfnisse nach Solidarität und Sympathie” gebe. Somit sei es möglich, von einem nicht- relationalen, „‹wahren› Begriff von Gerechtigkeit” zu sprechen (ebd.:628). Foucault hält dagegen, „dass die Idee der Gerechtigkeit selbst eine Idee ist, die in verschiedenen Typen von Gesellschaften erfunden und angewendet wurde als ein Instrument einer bestimmten politischen und wirtschaftlichen Macht oder als Waffe gegen diese Macht” (ebd.:627) und schließt daraus (mit klassenkämpferischem Impetus), „dass diese Begriffe der menschlichen Natur, der Gerechtigkeit, der Verwirklichung des Wesens des Menschen Vorstellungen und Begriffe sind, die in unserer Kultur, in unserem Typ von Erkenntnis, in unserer Form von Philosophie gebildet wurden, und dass folglich diese Begriffe zu unserem Klassensystem gehören und dass man, wie bedauerlich das auch sein mag, diese Begriffe nicht geltend machen kann, um einen Kampf zu beschreiben oder zu rechtfertigen, der die eigentlichen Grundlagen unserer Gesellschaft (...) umstürzen muss.” (ebd.:630)
45 siehe Levi (1990, 1991, 1991b) und Agamben (2003).
46 Im Kontext seines Engagements in der Gruppe G.I.P. (Groupes Informations sur les Prisons) kritisiert Foucault die Haftbedingungen der Gefangenen: ihre „vollkommene Rechtlosigkeit”, ihren ausgelieferten Status an Polizei und Justiz, ihre „sexuelle Unterdrückung”, ihren „Geldmangel”, der aus wirtschaftlicher Ausbeutung resultiere, körperliche Misshandlungen, „Hunger und Kälte” (MF 1971c:219-221). Darüberhinaus kritisiert er die willkürliche und unverhältnismäßige Staatsgewalt von Polizei und Justiz gegenüber politischem Engagement (MF 1971:236) (Foucault/Domenach/Vidal-Naquet 1971:212).
47 Die prinzipielle Fähigkeit zur Freiheit ist übrigens, soweit ich es überblicke, das einzige, wozu Foucault sich wiederholt bekennt und welche er ‹dem Menschen› gewissermaßen überhistorisch zuspricht: „Ich glaube fest an die menschliche Freiheit.” (Foucault1984g:854) „Ich glaube an die Freiheit der Menschen. In der gleichen Situation reagieren sie sehr unterschiedlich.” (MF 1982:965)
48 Genau dieses: die Einseitigkeit, die Absolutsetzung einer Rationalität, ist auch das, was Foucault „am Humanismus nicht behagt, (...) dass er eine bestimmte Form unserer Ethik zum Muster und Prinzip der Freiheit erklärt” und somit andere Möglichkeiten des Mensch-Seins ausschließt (MF 1982:965).
49 Problematisch wird es freilich sofort bei jeglicher Form der Konkretisierung: bei der Frage ob, in welchen Fällen, in welchem Umfang, mit welchen konkreten Verfahren und zu welchen konkreten Zwecken die für gut geheißene allgemeine Zielvorgabe die Politik zu Interventionen ermächtigt oder verpflichtet.
50 Zunächst handelt es sich um „Aufseher, Ärzte, Priester, Psychiater, Psychologen, Erzieher” (MF 1975:19), im Zuge der sich permanent weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft später auch um „Sozialarbeiter(n), Berufsberater(n), Schulpsychologen” (MF 1971b:284); „ein kleiner Vorgesetzter, ein Hausmeister (...), ein Gefängnisdirektor, ein Richter, ein Gewerkschaftsfunktionär oder der Chefredakteur einer Zeitung” (MF 1972:390) etc.
51 Es gibt Gründe für die Annahme, dass die Erringung von individuellen Freiheiten und demokratisch-egalitären Entscheidungsverfahren zwingend mit der Installation von umso subtileren und effizienter wirkenden Sicherheitsdispositiven einhergeht, welche wiederum „einen bestimmten Gebrauch der Freiheit sicherstellen” (Lemke 2004:253). In diesem Fall könnte summa summarum von ‹Freiheit›, ‹demokratischer Regulierung› oder ‹gesellschaftlichem Fortschritt› keine Rede sein. Ich werde auf dieses Problem noch einmal genauer in Kapitel F 2.4 zurückkommen.
52 Foucaults Analyse hat daran erinnert, dass eine Markt-Wirtschaft durchaus höchst unterschiedlichen Zwecken dienen und nach ganz unterschiedlichen Mechanismen funktionieren kann (vgl. Kapitel 5.1). Hier und im folgenden meine ich, wenn ich ‹Marktwirtschaft› und ‹marktwirtschaftlich› sage, die Marktwirtschaft, wie sie der Neoliberalismus auffasst, also als einen Prozess, der sich mehr über den Wettbewerb als über den Tausch definiert und der weniger eine (wie auch immer zu konkretisierende) Balance und Verteilungsgerechtigkeit als die maximale Produktion und Konsumption anvisiert.
53 DATA = „ Desires, Abilities, Temparament, Assets”. Bröckling (2004:157) zitiert aus Bridges Ratgeber zum Selbst-Management mit dem bezeichnenden Titel „Ich & Co. Wie man sich auf dem neuen Arbeitsmarkt behauptet”, (Bridges 1996:132).
54 Bröckling (2004:157) zitiert aus Wabners Management-Ratgeber (1997:53) mit dem nicht weniger aussagekräftigen Titel „Selbstmanagement. Werden Sie zum Unternehmer Ihres Lebens.”
55 Bröckling (2004:157) zitiert den Titel des Ratgebers von Seidl und Beutelmeyer (1999): „Die Marke Ich. So entwickeln Sie Ihre persönliche Erfolgsstrategie.”
56 Die Ersteren gründeten sich auf dem Prinzip der gruppenspezifischen, bzw., so weit möglich, individuellen Berechnung des Risikopotentials. Ihr Prinzip sei eine „über den Markt vermittelte”„versicherungsmathematische Gerechtigkeit”, die die Höhe der Beiträge an der Höhe des Risikopotentials ausrichte. Demgegenüber gründeten sich die Letzteren auf der Idee einer ausgleichenden „soziale(n) Gerechtigkeit”, und maßgeblich für die Bemessung der Beitragszahlungen sei folglich nicht das individuelle Risikopotential, sondern die Höhe des Einkommens (Schmidt-Semisch 2004:168-171).
57 Auch die Ärztin, die Freundin, der Nachbar oder Kollege, der auf die eine oder andere Art erfolgreich für (oder auch gegen) das in den neuen Regeln geforderte Verhalten wirbt, übt Einfluss und somit Macht oder Herrschaft aus; auch sein Handeln ist aus der Perspektive des betroffenen Individuums eine Fremdführungstechnik. Ob sich die Selbst- und Fremdführungstechniken im Modus von Herrschaft oder Macht entfalten, ist damit noch nicht entschieden: Aus der Perspektive des betroffenen Individuums können die staatlichen Regeln und Gesetze tendenziell als Herrschaftstechniken bezeichnet werden, da der/die Einzelne kaum eine Möglichkeit hat, sich in der konkreten Situation gegen (verfassungskonforme) Gesetze zu wehren und sich das Verhältnis zwischen staatlichen Strukturen und einzelnem Individuum folglich als das einer verfestigten Machtasymmetrie darstellt. Im Verhältnis zu einer Freundin oder einem Nachbar ist die Möglichkeit gegenseitiger Beeinflussung dagegen in der Regel (zumindest partiell, zumindest tendenziell) gegeben; ihre Fremdführungen vollziehen sich also im Modus der Macht. Ärztin und Kollege können nur unter Umständen Herrschaft ausüben - z.B. dann, wenn die Ärztin über einen in keiner Weise ausgleichbaren Informationsvorsprung verfügt oder wenn der Kollege etwas weiß, mit dem er das betroffene Individuum beim Chef oder bei der Steuerbehörde ‹anschwärzen› und es somit erpressen kann. Auch was die Beziehung des Individuums zu sich selbst betrifft, kann die Unterscheidung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen Sinn machen: Ist es in einer Verfasstheit, in der ein Teil seiner Persönlichkeit (z.B. der des homo oeconomicus) gegenüber anderen Teilen unumkehrbar dominant geworden ist? ( Herrschaft) oder haben andere Formen seines Selbst die Möglichkeit, in anderen Situationen ebenfalls Einfluss auszuüben? ( Macht)
58 Schmidt-Semisch (2004:174) zitiert hier aus Ullrich (1999:12).
59 Schmidt-Semisch thematisiert die Verbannung von Drogenabhängigen, Punker_Innen, Bettler_Innen, lärmenden Kindern, Raucher_Innen, Trinker_Innen, ambulanten Händler_Innen und Musikant_Innen aus dem (vermeintlich) öffentlichen Raum (Schmidt-Semisch 2004:179-181, auch 186); Rose (2004) die Exklusion aus bestimmten communities.
60 Er verwendet den Begriff offensichtlich in der lateinischen Ursprungsbedeutung des Verbs colere, das dem landwirtschaftlichen Kontext entstammt und ‹(Feldfrüchte) anbauen, (Äcker) pflegen, (Land) kultivieren› bedeutet. Die treffende Metapher, die sich anschließt, ist also die, dass der Markt, soll er Früchte tragen, ebenso intensiv umhegt, bearbeitet, transformiert werden muss wie ein Stück Wildnis, aus dem fruchtbares Ackerland werden soll.
61 Auf epistemologisch-analytischer Ebene spiegelt sich dieser Geltungsanspruch in der Theorie des Humankapitals und der Neubegründung der Ökonomie als Theorie menschlichen Verhaltens überhaupt wider (vgl. Kapitel C 5.3).
62 Im Einzelnen hier besprochen: die Zustände im eigenen Nahfeld im Rahmen der communities; das Wohlergehen in schwierigen Lebenslagen im Rahmen der privatisierten Vorsorge; die Einstellung gegenüber sich selbst im Rahmen von Autosuggestion, Glückssuche und Mediation; die Einstellung gegenüber anderen im Rahmen von TQM und Mediation; die genetische Ausstattung des eigenen Nachwuchses im Rahmen der Pränataldiagnostik.
63 Beispiele: - Kindergeld: Einer nach ihrem Alter (und nach dem achtzehnten Lebensjahr nach ihrem Ausbildungsstatus) definierten Gruppe von Bürgern (bzw. deren Eltern) wird eine ansonsten bedingungslose Leistung gewährt. - Elterngeld / Pflegegeld: Ein Beitrag, der kaum individuell zurückführbar und monetär quantifizierbar ist, nämlich die Erziehung von Kindern / die Pflege von Angehörigen, ist Basis einer staatlichen Leistung. - „Bedarfsgemeinschaften” im Kontext von ALG II / Auszubildendenförderung durch BAFÖG: Entscheidend für die Gewährung von staatlichen Leistungen ist nicht nur die individuelle Bedürftigkeit (und im Falle des BAFÖGs ein ganz bestimmter Auszubildendenstatus), sondern darüber hinaus auch die der Lebenspartner_Innen / der Eltern.
64 Thomas Morus empfiehlt in seiner „Utopia” die staatliche Einkommensgarantie 1516 als probates Mittel zur Kriminalitätsbekämpfung (Morus 1990), Johannes Ludovicus Vives erklärt sie 1526 zu einem Gebot christlicher Nächstenliebe (Vives 1973) und Thomas Paine betrachtet sie 1796 „als Entschädigung für die naturrechtlichen Ansprüche, die ihnen [den Menschen, S.A.] durch das System des Grundeigentums verloren gegangen sind”. (Thomas Paine (1796), zit. nach Vanderborght/Van Parijs 2005:21). Im 19. Jahrhundert setzt sich die Reihe der Unterstützer_Innen und Vordenker_Innen mit Thomas Spence, Charles Fourier, John Stuart Mill und Joseph Charlier fort (vgl. Vanderborght/Van Parijs 2005:21-25), im 20. Jahrhundert spricht sich u.a. Bertrand Russel (1935) dafür aus. Bei Vanderborght/Van Parijs (2005) findet sich neben einer ausführlicheren Darstellung der Geschichte des BGE auch ein brauchbarer - wenngleich zu unkritischer - Überblick über die prinzipiell möglichen Ausgestaltungsformen, Implikationen, Begründungen und Zukunftsperspektiven.
65 Siehe beispielsweise die Beiträge von Schmid (1984) und Opielka (1986).
66 Unter anderem haben sich - allein schon im deutschsprachigen Raum - zahlreiche Unterstützernetzwerke mit jeweils eigener Internetpräsenz formiert, die es sich zur Aufgabe machen, die Diskussion um das BGE zu befördern: www.grundeinkommen.de, www.grundeinkommen.info, www.buergerinitiative-grundeinkommen.de www.initiative-grundeinkommen.ch, www.forum-grundeinkommen.de, www.archiv-grundeinkommen.de, www.web.aktiongrundeinkommen.de, www.grundeinkommen-bedingungslos.de, www.gutesleben.org, www.unternimm-die-zukunft.de, www.die-linke-bag-grundeinkommen.de, www.grundeinkommen-hamburg.de, www.grundeinkommen-bonn.de, www.grundeinkommen-hannover.de, www.bgekoeln.de, www.grundeinkommen-muenchen.de, www.grundeinkommen.tv
67 Informationen über BGE-Befürworter_Innen von verschiedensten Seiten u.a. bei Ahrens 2007:49, Butterwegge 2007:25, Fücks 2007:8, Opielka 2007:6, 10, Rudzio 2007:56, 60, Wiesenthal 2007:79, Zeeb 2007:12
68 Überhaupt scheint die Verwendung von Begriffen aus der Wirtschaftswelt „Hochkonjunktur” zu haben - die „Unwörter des Jahres” von 2002 und 2004 sind nicht ohne Grund „Ich-AG” und „Humankapital”.
69 Zum Entstehungskontext der aktuellen Situation: Siehe Butterwegge 2007:25, Daams 2007:130, Emmler/Poreski 2007:131, Hohenleitner/Straubhaar 2007:11,13, Opielka 2007:5, Schnell 2007:97,99, Zeeb 2007:2. Zum Beispiel hat sich das „Netzwerk Grundeinkommen” explizit als Reaktion auf Hartz IV gegründet (Butterwegge 2007:28).
70 siehe hierzu beispielsweise die folgenden Diskussionsbeiträge: Ahrens 2007; Althaus 2006; Belwe 2007; Bentrup 2007: Bütikofer 2007; Butterwegge 2007; Castel 2007, Daams 2007: Dietz/Walwei 2007; Eichenhofer 2007; Emmler/Poreski 2007; Grözinger 2007: Hohenleitner/Straubhaar 2007; Hohenleitner/Straubhaar 2007; Hürtgen 2008, Fücks 2007; Hauser 2007; Kreutz 2007, Mädje 2007; Opielka 2007; Opielka, Michael 2007; Robeyns, Ingrid 2007; Rudzio, Kolja 2007; Schnell 2007; Schramm 2007; Siller 2007; Vobruba 2008; Wiesenthal, Helmut 2007.
71 Bei Zeeb (2007:14-17) findet sich auch ein tabellarischer Überblick über die aktuell zur Debatte stehenden konkreten BGE-Konzepte.
72 Für eine knappe Übersicht über die Argumente aus libertärer Perspektive siehe auch Blaschke 2005
73 Bestimmte Geldleistungen wie Kindergeld, Wohngeld, Sozialhilfe, BAFÖG und ALG II könnten in dem BGE aufgehen. Hingegen müssten Krankheit und Pflegebedürftigkeit unabhängig vom BGE abgesichert bleiben. Für kurzzeitige Erwerbslosigkeit und für die Erwerbslosigkeit im Alter müsste es eine Zusatzabsicherung geben, so dass das garantierte Einkommen in diesen Fällen über dem reinen BGE liegt. Andere öffentliche Infrastrukturen (Bildung, Verkehr, Sicherheit, etc.) müssten im gleichen Umfang wie heute gewährleistet bleiben.
74 Das Konzept der „negativen Einkommenssteuer” geht auf Juliet Rhys-Williams (1943) zurück und wurde von Milton Friedman (1962, 1968) aufgegriffen und populär gemacht.
75 außer im Fall von solchen Firmen, die die Kulturgesellschaft auch auf das Innere ihres Betriebes ausweiten (vgl. Kap. G)
76 Um diesen Schutz vor materiellen und moralischen Verpflichtungen auf Dauer zu gewährleisten, könnte man dem BGE den Status eines durch die Verfassung geschützten Grundrechts geben. Auch könnte man einen Mechanismus entwickeln, der die kontinuierlich notwendigen Anpassungen der BGE-Höhe an die Geldwertentwicklung regelt und somit dieses Thema allzu populistischen Agitationen wahlkämpfender Parteien entzieht - wobei diese populistischen Agitationen keineswegs nur darin bestehen könnten, die BGE-Empfänger_Innen ohne eigenes Erwerbseinkommen auf „ihren unterstützten Status zu verweisen” (Foucault), sondern auch ganz im Gegenteil darin, sich in dem Versprechen, das BGE zu erhöhen, permanent gegenseitig zu überbieten und so in langfristig nachteilige Höhen zu treiben (Vgl. Schramm 2007:145).
77 Gleichzeitig lässt das BGE in seiner libertären Ausprägung den gering Qualifizierten (ebenso wie allen anderen auch) die Möglichkeit, eine Arbeit abzulehnen, wenn diese unattraktive Arbeitsbedingungen mit schlechter Bezahlung verbindet.
78 Wenn zur Finanzierung des BGE nicht nur Einkommen aus Erwerbsarbeit, sondern auch andere Einkommensarten (wie Zinsen- und Mieterträge) und/oder erhöhte Konsumsteuern herangezogen werden, würden zudem die Lohnnebenkosten sinken, welche insbesondere bei gering qualifizierten Arbeitssuchenden ein Beschäftigungshindernis darstellen. Die fragwürdige Antwort der rot-grünen Bundesregierung auf dieses Problem war die Schaffung der sogenannten ‹400-Euro-Jobs›, auf die keine Sozialabgaben zu zahlen sind.
79 Ausgerechnet die FDP hat kurioserweise nur dem Namen nach ein BGE-Konzept vorgelegt: Ihr „Liberales Bürgergeld” soll nicht individuell sondern haushaltbezogen gewährt werden und auch dies nur nach Anrechnung etwaiger eigener Einkommen, Vermögen und Unterhaltsansprüche sowie unter der grundsätzlichen Bedingung von Arbeitsbereitschaft (Zeeb 2007:14-15).
80 Damit meine ich, dass eine neoliberale BGE-Gesellschaft die rechtlichen Kriterien tendenziell so wählen würde, dass Menschen, die über hohe berufliche Qualifikationen verfügen und die überhaupt dem Leitbild des Unternehmers seiner selbst entsprechen, eher in den Genuss des BGEs kommen würden als andere. Eine ‹totale› Kulturgesellschaft (wie etwa die antike Griechische) würde die rechtlichen Kriterien dagegen so wählen, dass Menschen mit der „schönsten und vollendetsten Form” profitieren würden.
81 Eichenhofer (2007:23-24) thematisiert die Personenfreizügigkeit in der EU, welche, insofern das BGE ausschließlich in Deutschland eingeführt und an Bedingungen unterhalb des Besitzes der deutschen Staatsbürgerschaft gebunden würde, einen hohen Zuzug von EU-Ausländer_Innen ermöglichen würde. Hauser (2007:69-70) befürchtet zudem eine verstärkte „Sogwirkung auf Zuwanderer (...) auch aus Nicht-EU-Ländern”.
82 Arnold Gehlen würde dazu sagen, dass der Staat die Institution par excellence ist und dass Institutionen langlebig und wandelbar sind: Der Staat hat einen großen „Selbstwert im Dasein” erreicht und wird, nachdem er einmal um einen wichtigen „ideativen Kern” herum gegründet wurde, in der Lage sein, sich zu wandeln und stets neue „sekundäre objektive Zweckmäßigkeiten“ in sich zu integrieren (Gehlen 1976, vgl. auch Langbein 1997). Mit Niklas Luhmann ließe sich davon sprechen, dass der Staat als komplexes „autopoietisches System” höchst „anschlussfreudig” ist und nicht nur mit dem BGE selbst, sondern auch mit weiterführenden, etwaig aus ihm resultierenden Verhaltensänderungen kreativ umgehen wird (Luhmann 1984 und 2000). Zum Zusammenhang der Theorien Gehlens und Luhmanns, zur „Geburt der Systeme aus dem Geist der Institutionen”: siehe Baier (1989).
83 Die bisher thematisierte Regierung der Subjekte hin zu einer maximalen Sorge um sich selbst ist hier a) nur die naheliegendste denkbare Vermutung zu neuen Motivationen und b) nur ein allgemeines Thema, welches vielfältige Interventionsformen in vielfältigen, vom jetzigen Standpunkt aus kaum vorhersagbaren Sicherheitsdispositiven ausbilden könnte.
84 Diese Entwicklung sei notwendig, weil nur so die Biopolitik ihre Souveränität bewahren könne; nur auf diese Weise könne der Staat den Verlust der Zugriffsmöglichkeit auf das nackte Leben an der Peripherie der Gemeinschaft dadurch kompensieren, dass er quer durch den Bevölkerungskörper hindurch neue Mechanismen inauguriere, welche es ihm erlauben, bestimmte Lebensformen als tötbar und politisch irrelevant auszuweisen: „Wenn es dem Souverän, insofern er über den Ausnahmezustand entscheidet, zu allen Zeiten zukommt, darüber zu entscheiden, welches Leben getötet werden kann, ohne dass ein Mord begangen wird, dann tendiert diese Macht im Zeitalter der Biopolitik dazu, sich vom Ausnahmezustand zu emanzipieren, um sich in die Macht über die Entscheidung zu transformieren, an welchem Punkt das Leben aufhört, politisch relevant zu sein. (...) In der modernen Biopolitik ist derjenige souverän, der über den Wert oder Unwert des Lebens als solches entscheidet.” (Agamben 2002:151)
85 Hervorzuheben ist insbesondere die Drogeriemarktkette „DM”, deren Chef (und Milliardär) Götz Werner u.a. auch ein Konzept zu einem libertären BGE vorgelegt hat (Werner 2007). Weitere interessante Untersuchungsobjekte könnten die Unternehmen „Weleda”, „Alnatura”, „Wala” und „tegut” sein (siehe Bilen 2008).
86 Werner weist auf die weit verbreitete „absurde Diskrepanz zwischen anthropologischem Optimismus gegenüber der eigenen Person und Pessimismus gegenüber den anderen” hin (Werner 2007:110). Gemäß dem Grundsatz „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist schlechter” erklärt er seine ungewöhnliche Unternehmensphilosophie, welche aus dem Erfordernis der Kundenorientierung die Schlussfolgerung zieht, ein erfolgreicher Unternehmer müsse heutzutage zuvorderst „lupenreiner Altruist” sein (ebd.:120-122). Allerdings scheint die Unternehmensphilosophie à la Werner darauf hinauszulaufen, tatsächlich eine „Kulturgesellschaft” im Kleinen zu schaffen, in der das „Streben jedes Einzelnen nach Vortrefflichkeit” (Foucault) zur Pflicht wird: „Der Mensch ist ein Kulturwesen” (Werner 2007:96), „Du bekommst ein Grundeinkommen und hast damit die Möglichkeit, ja die Bringschuld, deine Talente in der Gesellschaft wirksam werden zu lassen.” (ebd.:12), „Des Menschen höchste Sorgfalt sollte eigentlich der Verantwortung für und der Pflege des eigenen Körpers gelten.” (ebd.:113). Werners Erfolgsrezept scheint es zu sein, sich der Selbstführungstechniken noch intensiver als bei neoliberalem Regieren zu bedienen, was sich in seiner Argumentation und auch in seiner Wortwahl niederschlägt, welche an neoliberale Diskurse erinnert - z.B. bei der Bezugnahme auf den Menschen als „unternehmerischer Mensch” (ebd.:13), beim Thema Risikovorsorge (ebd.:113), beim „Grundgedanken(s) der Eigenverantwortung eines jeden Mitarbeiters” (ebd.:130), im Kapitel „Führung für Mündige”, welche „mittelbar, indirekt” erfolgen müsse (ebd.:139-141) u.a.m. Diese und andere Dinge müssten genauer untersucht werden.
1 Bestimmte Grund-/Mindestsicherungsmodelle können partiell dem Grundeinkommen nahe kommen.
Eine von mir erstellte Synopse über 12 verschiedene aktuelle Grundeinkommens- und Grund-/Mindestsicherungsmodelle in Deutschland wird in Bälde unter www.grundeinkommen.de zu finden sein.
2 Texte, Materialien, Finanzierungskonzepte zum Grundeinkommen und der Newsletter des Netzwerkes Grundeinkommen unter www.grundeinkommen.de; weiteres unter www.archiv-grundeinkommen.de, www.labournet.de/arbeit/existenz/index.html, www.freiheitstattvollbeschäftigung.de, www.existenzgeld.de, www.basicincome.org, www.attac.de/genug-fuer-alle/seiten/grund.php, www.attac.at/visionattac.html
- Arbeit zitieren
- Sascha Ackermann (Autor:in), 2009, Neoliberalismus und Grundeinkommen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149229