Das neue Verhältnis von Juden und Christen

Ein Beitrag zur Unterrichtseinheit im 5./6. Schuljahr


Wissenschaftliche Studie, 1983

43 Seiten, Note: 2,00


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Das Land – die Nachkommen
1. Jüdische Geschichte
2. Der Zionismus in der Neuzeit
3. Jerusalem

II Der Rassebegriff und die Juden

III Zum Selbstverständnis des Judentums gegenüber dem Christentum
1. Die gemeinsame Schrift
2. Der Bund Gottes

IV Jesus aus jüdischer und christlicher Sicht
IVa Der Kommende

V Der Antisemitismus

VI Massenmord an den Juden – Holocaust

VII Christen und Juden im Gespräch
1. Juden unter uns
2. Die historische Entwicklung während der letzten 30 Jahre
3. Das Verhältnis zwischen Juden und Christen
4. Der Dialog

VIII Mission der Juden!?

IX Gemeinsame Hoffnung der Juden und Christen

X Das Judentum im evangelischen Religionsunterricht
1. Schwierigkeiten bei der Darstellung des Judentums im heutigen Religionsunterricht
2. Zentrale Zielsetzungen für den Unterricht

Arbeitsblatt

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

I. Das Land und die Nachkommen

In seinem Buch „Die Juden und ihr Land” schreibt Friedrich Wilhelm Marquardt, wie eng die beiden Grundverheißungen - Land und Nachkommen - zusammengehören. Schon im Pentateuch ist zu lesen: „Da erschien der Herr dem Abraham und sprach zu ihm: Deinen Nachkommen will ich dies Land geben” (1. Morse 12,7). Land und Volk gehören im Judentum untrennbar zusammen.

1. Jüdische Geschichte

Zurzeit von König David errichten die Israeliten um das Jahr 1000 v. Chr. einen Staat mit der Hauptstadt Jerusalem. Es folgen die Teilung des Reiches in „Israel” und „Juda”, die Exilszeit, dann die Rückkehr nach Jerusalem (538-530v. Chr.). Unter Alexander dem Großen wird die völlige Hellenisierung durchgesetzt. Während der Makkabäerzeit (167-163 v. Chr.) entwickeln sich drei wichtige Strömungen des Judentums: a) Die Sadduzäer b) Die Essener c) Die Pharisäer.

Ab 63 v. Chr. erlebten die Juden römische Herrschaft und Unterdrückung.

Im 2. und 3. Jahrhundert lebten Juden verstreut über das gesamte Römische Reich. So in Spanien, in Frankreich und in Deutschland.

„In einem Brief des Kaisers Konstantin vom 11. Dezember 321 wird die jüdische Gemeinde in Köln erstmals urkundlich erwähnt, aber Ausgrabungen beweisen, dass sie mit Sicherheit sehr viel älter ist. Die Mainzer, Ulmer und Regensburger Juden lebten in der Überzeugung, sie seien sogar schon vor Christi Geburt in ihrer Stadt sesshaft gewesen, und die Wormser pflegten die Legende, ihre Vorfahren hätten mit einem Sendschreiben an Pontius Pilatus gegen die Hinrichtung Jesu Christi protestiert.”1

Die Idee eines modernen jüdischen Nationalismus bewirkte seit 1882 mehrere Einwanderungswellen in das Land. Seit dem Beginn der ersten Einwanderung hatte sich die jüdische Bevölkerung in Palästina von 24 000 auf etwa 90 000 im Jahre 1924 vermehrt; allein in den Jahren 1924 bis 1931 kamen etwa 82 000 jüdische Neueinwanderer ins Land, sodass der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung ständig größer wurde. Infolge des sprunghaften Anstiegs jüdischer Einwanderer besonders nach 1933 wuchs deren Zahl in der Bevölkerung schließlich bis 1948 auf 650 000 an.

Einen ersten Schritt im Blick auf die Staatsgründung von 1948 stellt die Balfour-Deklaration des britischen Außenministers Lord Balfour im Jahre 1917 dar. In ihr heißt es:

„Die Regierung Seiner Majestät betrachtet die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk mit Wohlwollen und wird die größten Anstrengungen machen, um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei es sich versteht, dass nichts anderes getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina oder die politische Stellung der Juden in irgendeinem anderen Lande beeinträchtigen könnte.” 2

Nach Abgabe des britischen Mandats an die Vereinten Nationen beschlossen diese noch im gleichen Jahr am 29. November 1947 die Teilung Palästinas. Danach wurde am 14. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel proklamiert.

Der Staat Israel versteht sich selbst als die nationale Heimstätte der Juden, zu dessen Bürgern nicht nur Juden, sondern auch christliche und muslimische Araber gehören, die seit Jahrhunderten dort ansässig sind. Von etwa 14 Millionen Juden leben ca. 3,5 Millionen innerhalb der Grenzen des Zwergstaats – der bei seiner Gründung ein Gebiet von etwa 20 000 Quadratkilometern umfasste, etwa die Fläche von Rheinland-Pfalz, und deshalb sind Staat und jüdisches Volk nicht identisch.

Im Alten Testament ist „Israel” der Name des Gottesvolkes. Nach der Reichsteilung s. o. und der Ausrottung des Nordreiches bürgerte sich im Südreich die Bezeichnung „Juden” anstelle von „Israeliten” ein. Nach der Zerstörung Jerusalems und seit ihrer Vertreibung leben Juden als völkische und religiöse Minderheit unter den Völkern. Sie bezeichnen sich „Juden” und sind unter diesem Namen bekannt. Nach wie vor verstehen sie sich als Angehörige des Gottesvolkes Israel und verwenden auch diesen Namen, besonders im religiösen Sprachgebrauch. Im Neuen Testament wird das jüdische Volk oft als „Israel” bezeichnet.

Im Neuen Testament wird der Name „Israel” auch von der an Christus glaubende Gemeinde übernommen. In neutestamentlicher Sicht ist Christus der Messias Israels und Retter der Welt, der sich sein Volk Israel aus Juden und Heiden sammelt.

Eine letzte Definitionsmöglichkeit des Wortes „Israel” umschreibt, die sich in einer Synagoge versammelte Gemeinde.

Dokument: Aus der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel

„Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig. Hier schuf es eine nationale und universelle Kultur und schenkte der Welt das ewige Buch der Bücher. Durch Gewalt vertrieben, blieb das jüdische Volk auch in der Verbannung seiner Heimat in Treue verbunden. Nie wich seine Hoffnung, nie verstummte sein Gebet um Heimkehr und Freiheit ... Die Katastrophe, die in unseren Tagen über das jüdische Volk hereinbrach und Millionen von Juden in Europa vernichtete, bewies unwiderleglich aufs Neue, dass das Problem der jüdischen Heimatlosigkeit durch die Wiederherstellung des jüdischen Staates im Lande Israel gelöst werden muss, eines Staates, dessen Pforten jedem Juden offen stehen und der dem jüdischen Volk den Rang einer gleichberechtigten Nation in der Völkerfamilie sichert ...

Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offen stehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied der Religion, der Rasse oder des Geschlechtes soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben ...

Wir bieten allen unseren Nachbarstaaten und ihren Völkern die Hand zum Frieden und zu guter Nachbarschaft und rufen sie zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe mit dem selbstständigen jüdischen Volke in seiner Heimat auf. Der Staat Israel ist bereit, seinen Beitrag bei gemeinsamen Bemühungen um den Fortschritt des gesamten Nahen Ostens zu leisten ...” 3

Dokument: Aus dem Gesetz der Rückkehr

Das am 5. Juli 1950 beschlossene Gesetz bestimmt unter anderem:

„1. Jeder Jude hat das Recht, in dieses Land einzuwandern.

3a) Ein Jude, der nach Israel kommt und sofort nach seiner Ankunft seinem Verlangen Ausdruck gibt, sich ständig in Israel niederzulassen, erhält die Staatsbürgerschaft.”

Die Knesset ergänzte 1970 u. a. das Gesetz durch Abschnitt 4b):

„4b) Für den Zweck dieses Gesetzes bedeutet “Jude” eine Person, die von einer jüdischen Mutter geboren oder zum Judentum übergetreten ist und nicht einer anderen Religion angehört.” 4

2. Der Zionismus in der Neuzeit

Judentum und Zionismus können nicht wirklich unterschieden werden. Es ist nicht möglich, die jüdische Religion und das jüdische Volk von der Bindung an „Erez Israel” zu lösen.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden vor allem in Russland an verschiedenen Stellen und unabhängig voneinander Bewegungen, die nach Lösungen für das Schicksal der Juden suchten. Dabei spielte einerseits der Gedanke eine wichtige Rolle, dass die Juden sich wieder verstärkt als ein Volk, eine Nation begreifen, d. h. sich selbst emanzipieren müssten.

Unmittelbar hing damit der zweite Gedanke zusammen: Dass die Juden ein eigenes Land haben müssten, um darin wie alle anderen Völker ihr eigenes nationales Leben ohne Zwang zur Anpassung an die Mehrheit und ohne Angst vor Unterdrückung führen zu können. Dies Land konnte aber, trotz einiger anderer Vorschläge, nur das Land der Väter sein, das so tief im Denken und Glauben der Juden verwurzelt war. Den Mittelpunkt dieses Landes bildete für jüdisches Bewusstsein immer Jerusalem mit dem Berg Zion. So entstand der Name dieser Bewegung: „Zionismus”.

Zum Begründer des modernen Zionismus wurde Theodor Herzl. Im Jahre 1896 erschien sein Buch „Der Judenstaat - Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage”, in dem viele der früher schon geäußerten Gedanken erneut ausgesprochen wurden.

Die zionistische Bewegung war die treibende Kraft, die schließlich zur Verwirklichung des Staates Israel geführt hat. Neben verschiedenen Richtungen des Zionismus gibt es auch außerhalb und innerhalb Israels einen Antizionismus. So fordern beispielsweise streng orthodoxe Kreise einen rein theokratischen Staat oder eine Bewegung will die völlige Integration Israels in den vorderasiatischen Raum. Unter dem Druck des wachsenden Antizionismus in der Welt treten innerjüdische Unterschiede und Gegensätze mehr und mehr in den Hintergrund.

Zu einer Verstärkung der zionistischen Tendenzen in Israel und zu einem Solidarisierungseffekt im Judentum führte eine Resolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 10. November 1975, in der es unter anderem heißt:

„Die Vollversammlung,

- in Erinnerung ferner daran, dass die Vollversammlung in ihrer Entscheidung 3151 g (XXVIII) vom 14. Dezember 1973 unter anderem die unheilige Allianz zwischen dem südafrikanischen Antirassismus und dem Zionismus verurteilt hat ...

stellt fest, dass Zionismus eine Form von Rassismus und rassistischer Diskriminierung ist.” 5

Der Antizionismus wurde latent und ist heute weltweit anzutreffen. Letzten Endes bedeutet der moderne Antizionismus einen Angriff auf die Juden überhaupt. “Antizionismus im Kleide des Antizionismus” ist “ehrbar” geworden (Jean Amery).

„Die Definition des Zionismus als eines angeblichen okkupatorischen Imperialismus und Kolonialismus greift immer weiter um sich. Der Begriff Antizionismus wurde moralisch rehabilitiert und politisch salonfähig, die begehrlichen Nachbarn konnten im Schatten üblich-moderner Begriffsverwirrung und -verkehrung skrupellos die heute ungewöhnliche Verbindung von Angst und Verteidigungswillen umdeuten in Aggressivität und Faschismus“. 6

Nicht unwidersprochen blieb die Resolution bei den christlichen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik, der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Ökumenische Rat der Kirchen die Resolution als historisch und sachlich falsch, unbewiesen und mahnten zur Rücknahme.

Auf dem18. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg sagte Professor Dr. Dr. Jakob J. Petuchowski, Cincinnati/USA in seinem Vortrag mit dem Thema: gemeinsame Hoffnung: - „Der Zionismus hat Großartiges geleistet. Aber man braucht bloß in die tägliche Zeitung zu blicken, um festzustellen, dass ihm die Selbsterlösung” des jüdischen Volkes nicht gelungen ist. Vielleicht ist sogar der Zionismus ein Paradebeispiel dafür, dass es – und nicht nur im Judentum - eine „Selbst-Erlösung” gar nicht gibt; ja, es in einer unerlösten Welt keine „erlösten Enklaven” geben kann. Und so begnügen sich heute auch die meisten religiösen Israelis damit, die Gründung ihres Staates „athhalta dige-ullah”, A N F A N G der Erlösung zu nennen - ohne die vollkommene Erfüllung der messianischen Hoffnung zu beanspruchen. Religionsgeschichtlich mag das zu Vergleichen mit der Parusie-Erwartung in der nach-apostolischen Kirche Anregung geben”.

3. Jerusalem

„Ich habe Jerusalem erwählt, dass mein Name daselbst wohne, und David habe ich erwählt, dass er über mein Volk herrsche” (1. Könige 8,16). Der 132. Psalm sieht es noch genauer. Nicht nur die Stadt als Ganze, vielmehr innerhalb der Stadt der Berg Zion, auf den die Lade hinaufgeführt wurde, ist jetzt erwählter Ort. “Der Herr hat Zion erwählt, als Wohnung für sich erkoren. Dies ist meine Ruhestatt für und für, hier will ich wohnen, denn ich habe sie erkorn” (Psalm 132, 13-14).

Die Ausrichtung auf Jerusalem und den Berg Zion blieb bis heute unverändert. Beim Abschluss des Passamahls heißt der Gruß: „Nächstes Jahr in Jerusalem”!

Jerusalem ist für Juden und Christen eine Stadt der Hoffnung: Es ist Sinnbild für die Einlösung der Verheißung Gottes. Der vierte Sonntag der Passionszeit “Laetare” steht unter dem Wort: “Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt” (Jesaja 66,10).

Die besondere Bedeutung, die Jerusalem für Judentum, Christentum und Islam hat, wird an drei markanten Bauwerken deutlich: dem Rest des Tempels, der Grabeskirche und dem Felsendom.

Weil Jerusalem eine konkrete Bedeutung für deren Glauben hat, müssen sie sich für das Wohlergehen der Stadt einsetzen.

Jedoch ist Jerusalem nicht gleich Jerusalem. Das himmlische, heilige, goldene, künftige, obere Jerusalem des Glaubens ist nicht identisch mit der irdischen Stadt Jerusalem und ihrer politischen Existenz - sei es als Teil des Staates Israel, sei es unter einem anderen völkerrechtlichen Status. „Es kommt die Zeit”, sagt Jesus zu der samaritischen Frau, „dass ihr weder auf diesem Berge noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten. Ihr betet an, was ihr nicht kennt; wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden ...

Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten” (Johannes 4, 21,22 und 24). Auch wenn sich insbesondere orientalische Christen mit der Stadt und ihren Heiligtümern stark verbunden fühlen, können doch Christen nie im selben Sinn „Zionisten” sein wie Juden.

In seinem Rundfunkvortrag am Palmsonntag 1982 zum Thema „Jerusalem zwischen Himmel und Erde” sagt Pinchas Lapide: „Es ist der Ort des Gerichts, der Auferstehung und des endzeitlichen Mahls. Erst wenn die untere Stadt von Menschenhand gebaut ist, kehrt die darüberschwebende zurück”.

„Die Denkordnung „unteres” „oberes” Jerusalem wurde nur aufgestellt, um eine geschichtliche Beziehung zwischen beiden herzustellen. Das obere Jerusalem nimmt am Schicksal des unteren Jerusalem teil, löst es nicht ab, vergleichgültigt es nicht, sondern vertieft nur die ewige Bedeutung de wirklichen, irdischen Jerusalem für Israel. Denn das obere Jerusalem ist, wie der ganze Himmel selbst, letztlich nichts als eine Umschreibung Gottes”. 11

Warum sollte Jerusalem, die „Heilige Stadt” der drei großen monotheistischen Offenbarungsreligionen, nicht zur gemeinsamen Stätte der Anbetung, der Versöhnung und des Friedens werden? Jerusalem, das nach den Worten des Staatsgründers Ben Gurion von drei Geboten symbolisiert:

„1. Glaube an den einzigen Gott!
2. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!
3. Es erhebe sich kein Volk gegen ein anderes Volk!”

Wann endlich werden Juden, Christen und Muslims auf dem Berg Zion gemeinsam anbeten und rufen:

„Oh, dass du doch denen entgegenkämest, die rechttun, die deiner Wege gedenken” (Jes. 64,4)!

II Der Rassebegriff und die Juden.

Der jüdisch-englische Staatsmann Disraeli prägte den Satz: „Die Rassenfrage ist der Schlüssel zur Weltgeschichte”. Dies gilt für alle Völker, besonders für die Juden.

Schon Martin Luther forderte die Vertreibung und Ausrottung der Juden, wie später erst wieder in einem Teil der Naziliteratur. Ganz richtig erkannten die Antisemiten des 19. Jahrhunderts, dass man die soziologischen und religiösen Gründe durch biologische untermauern und ersetzen musste. Der Nachweis, dass die Juden nicht durch Glaube oder Beruf, sondern von Natur aus verdorben waren, stärkte das ruhige Gewissen bei der Vernichtung. „Rasse” war das neue Schlagwort, mit dem man nun auch gegen getaufte Juden vorging.

Schon 1860 wurde für Deutsche Liberale ein besonderes Problem augenscheinlich, als plötzlich klar wurde, wie schwierig das Wort „jüdisch” in Wirklichkeit zu definieren ist. Für Jahrzehnte blieben die Liberalen der Ansicht des 18. Jahrhunderts verhaftet, nach der das Judentum eine reine religiöse Kategorie war. Alle anderen Besonderheiten - wie die der Sprache, der Kultur, der Wirtschaft oder der allgemeinen Herkunft - wurde als historisches Zusammentreffen und besonders als Ergebnis christlicher Unterdrückung erklärt. Judentum wurde als Bekenntnis bestimmt analog zum Katholizismus und Protestantismus, das sich auf das Gebiet religiöser Überzeugung beschränkt. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts glaubten jedoch viele, dass eine reine religiöse Deutung des Judentums zu eng sei und der Wirklichkeit des jüdischen Lebens nicht gerecht sei. Seit es unter den gegebenen Umständen unmöglich war, ältere Ausdrücke wie „das jüdische Volk” oder „die jüdische Nation” herbeizuführen, gebrauchten Leute den Ausdruck „Rasse”, um die Kompliziertheit jüdischer Existenz auszudrücken. Der Ausdruck “Rasse” hatte noch zu diesem Zeitpunkt eine ganz neutrale Nebenbedeutung; er war noch nicht biologisch erklärt und war so ganz unterschiedlich von späteren antisemitischen Vorstellungen. Gleichzeitig enthüllte sich ganz klar die Unzuverlässigkeit der Liberalen bei deren Hilflosigkeit angesichts des neuen Antisemitismus.

Während der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts emanzipierten sich die Juden in den meisten westeuropäischen Ländern und hatten dieselben Rechte wie andere Bürger. Im Alltagsleben gab es keinen erkennbaren Unterschied zwischen einem Juden und anderen Menschen dieses Landes. Religion hatte nur noch untergeordnete Bedeutung. Es war aber nicht möglich, die Juden davon abzuhalten, nationale Gefühle zu haben. Jedoch wurden die Grenzen, die mit dem Rassefaktor verbunden waren, als gültig und unverletzlich betrachtet. Dann war es eine natürliche Folge, dass der Rassebegriff das wichtigste Werkzeug der Verfolgung wurde. Plötzlich wurden die Juden als weder zu einer bestimmten Religion noch zu einer Nation gehörig betrachtet, sondern lediglich als eine Rasse. Es ist von keiner Bedeutung, wenn auch immer selbstverständlich, dass aus wissenschaftlicher Sicht das barer Unsinn ist. Wer kann sich beispielsweise in eine Rasse verwandeln? Aber man kann konvertieren und Jude werden. Die Wahrheit jedoch ist ganz unwichtig. Die Hauptsache ist, dass die Mehrheit andauernd eine Gruppe in ihrer Mitte hat, auf die sie alle schlechten Qualitäten projizieren kann - mit anderen Worten - eine Minderheit; und nun ist es eine rassische Minderheit.

Auch wenn sich die Nationalsozialisten sehr stark mit Rassefragen beschäftigten, so haben sie doch in die Rassenterminologie einige Verwirrung gebracht. Mit „nichtarischer” Rasse wurden pauschal alle Juden bezeichnet, obwohl es noch viele andere nichtarische Völker gab. Wohl wissend, dass Juden nicht einer einzigen Rasse zu subsumieren sind, sprach man doch schon von einer „jüdischen Rasse”.

Allein heute leben Juden aus über 100 verschiedenen Ländern in Israel.

Zum einen sind sie rassisch gemischt, zeigen aber in bestimmten europäischen Gegenden Unterschiede zur Umwelt.

Die Begriffe „arisch” und „nichtarisch” gehören etymologisch zum linguistischen Bereich und nicht zum rassischen. Die Sprachwissenschaft versteht unter „Arier” Menschen, die eine indoiranische oder auch arische oder indogermanische Sprache sprechen. Die Begriffsverwirrung der Nationalsozialisten basierte auf dem unbewiesenen Postulat, dass nur die Nordvölker die Schöpfer der arischen und indogermanischen Sprachen seien. Möglicherweise kann es sich dabei gerade umgekehrt verhalten, da man wenig darüber weiß. Wahrscheinlich haben sich diese Sprachen bei verschiedenen Rassen aus einer gemeinsamen Ursprache entwickelt.

Die Gleichsetzung der Begriffe „Jude” und „Nichtarier” ist falsch. Allenfalls dürfte man den Ausdruck „Nichtarier” auf sämtliche Völker anwenden, die eine andere als indogermanische Sprache haben.

Die Juden selbst erörtern noch heute, ob sie eine Rasse, eine Nation oder eine Religion sind. Eine der heftigsten, zeitgenössischen Streitfragen unter den Juden geht über die wirkliche Definition der Frage: „Wer ist Jude”? Juden bilden das einzige Volk, das einen gemeinsamen Glauben hat und diesen mit keiner anderen Nation teilt. Israel war nach biblischer Verheißung als „ein Volk, das alleine wohnt”, bestimmt.

III Zum Selbstverständnis des Judentums gegenüber dem Christentum.

Judentum und Christentum haben viele gemeinsame Wurzeln. Das Judentum muss als engster Nachbar des Christentums angesehen werden. Der Rabbiner Cuno Lehrmann spricht von den Tochterreligionen des Judentums und meint damit auch das Christentum. Beide Religionen sind sich in der Ablehnung des Götzentums einig. Mit den Psalmen Davids und deren Geist des Gottvertrauens, der Menschenliebe und Zukunftshoffnung haben Christentum und Judentum etwas Gemeinsames. Ein Christentum ohne Judentum wäre, wie Leo Baeck in einer seiner letzten Reden sagte, wurzellos; ein Judentum ohne Christentum würde den Verzicht auf seine gottbefohlene Botschaft an die Völker bedeuten. Im Judentum offenbarte sich Gottes Geist zuerst. „Juden und Christen bekennen im Gebet denselben Gott als Schöpfer, Herrn, Erhalter und Vollender der Welt. Lobpreis und Dank, Klage und Sündenbekenntnis, Bitte und Fürbitte können in gleichem oder ähnlichem Wortlaut von beiden vor Gott gebracht werden. Auch dass Juden das ganze Leben als Gebet sehen, entspricht neutestamentlichem Verständnis”. 7

Nach dem Sinai-Ereignis wurde Israel zum Träger des Gesetzes, der Tora. Israel wurde zum Träger, nicht zum alleinigen Inhaber des Gesetzes, das ja symbolischerweise in der Wüste, dem Niemandsland, offenbar worden ist.

Das Festhalten am Gesetz als Gottes unveränderlichem Wort wurde christlicherseits oftmals missdeutet und als geringere Stufe religiöser Reife bewertet angesichts der in den Evangelien verkündeten Heilslehre der Gnade. Dem Judentum zufolge aber ist das in der Tora niedergelegte, göttliche Gesetz der Inbegriff aller sittlichen Werte, ist gleichzeitig Zielsetzung und Wegweiser zur geistigen Vollendung des Menschengeschlechts.

Zum Ausräumen von Missverständnissen muss die jüdische Auffassung vom „Gesetz” verdeutlicht werden. Es darf nicht im Sinne pragmatischer Verordnungen eines Staates im Interesse der jeweiligen Machthaber verstanden werden, sondern bedeutet die Kodifizierung der absoluten, sozialen und individuellen Ethik, verankert in der kosmischen Weltordnung. Gott selbst, so lehren die Rabbinen, studierte die Tora, das Gesetz, ehe Er die Welt erschuf. D. h., Gott selber steht unter dem Gesetz, nach welchem Er den Kosmos und alles Lebendige lenkt. Einen Teil dieses Weltgesetzes, die Ethik, übergab er Moses und den Propheten, um zunächst die Geschicke des Volkes Israel zu leiten.

Der Kern des alttestamentlichen Gesetzes ist die Liebe. Sein Ziel ist die Erziehung des Menschen zu Güte und Hilfsbereitschaft. Zwar fordert es nicht: „Liebe deinen Feind”, aber es enthält ausdrückliche, genaue Vorschriften, den Feind nicht zu schädigen, sondern seine Feindseligkeit zu entwaffnen.

Carl F. von Weizsäcker spricht in diesem Zusammenhang von „intelligenter Feindesliebe”.

Wie sehr der Geist des jüdischen Gesetzes das in sich trägt, was das Christentum als die frohe Botschaft der Gnade verkündet, geht schon allein aus der Wortbedeutung von „Gerechtigkeit” in deren buchstäblicher Bedeutung. Die angewandte Bedeutung aber besteht in der Ausübung von Mildtätigkeit und Menschenliebe.

Am Fest der Gesetzesfreude wird in den Synagogen und bei Umzügen mit den Tora-Rollen getanzt. Obwohl das religiöse Gesetz auch Strafbestimmungen enthält, ist es eben mehr: Es ist die Offenbarung der göttlichen Weisheit an die Kinder Israels.

Wenn nun Judentum und Christentum so wesensverwandt miteinander sind, warum bezeichnen sich die Kinder Israels als das „auserwählte Volk”? Ist das nicht Ausdruck religiös-nationaler Überheblichkeit gegenüber allen anderen Religionen und Nationen?

Doch das ist ein Missverständnis des vom allgemeinen Menschheitsideals beseelten Judentums. Der jüdische Messianismus ist von der Hoffnung der Gottesherrschaft über alle Völker, von der Verbrüderung aller Menschen, getragen. Zur Verbrüderung, das Gottesreich auf Erden, ist nicht etwa die Bekehrung zum Judentum Voraussetzung, sondern, so verkündet der Prophet Jesaja, wenn dereinst alle Völker den heiligen Berg hinansteigen, so mag ein jegliches das im Namen seines Gottes tun. Heil und Segen verheißt das Judentum jedem Andersgläubigen, sofern er nur die Grundprinzipien der Ethik und des Gesetzes beachtet.

Diese Einstellung erlaubte es dem Judentum, auf jede Form des Proselytismus zu verzichten, ja den Übertritt Andersgläubiger zu erschweren, weil in biblischer Sicht dem jüdischen Volk eine historisch gewachsene Aufgabe besonderer Verantwortung zugemessen war. Für den Andersgläubigen bedarf es nicht des Weges über das Judentum, um zu Gott zu gelangen. Als der große Talmudlehrer Rabbi Akiba nach dem höchsten Prinzip der Bibel befragt wurde, zitierte er das Wort: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!” Er wurde aber von Ben Zoma dahin belehrt, wichtiger als dieses Postulat sei der Satz in 1. M. 5,1: „Dies ist die Geschichte der Menschheit, die Gott in seinem Ebenbilde erschuf”. 8

1. Die gemeinsame Schrift

Für Juden und Christen gibt es eingemeinsames Buch, das für beide die Schrift der Bibel ist. Für die Christen besteht die Bibel - die „Heilige Schrift” - aus dem „Alten” und dem „Neuen Testament”. Im Empfinden der Juden, und unbestreitbar auch nach Ansicht vieler Christen, bedeutet diese Kennzeichnung der gemeinsamen „Schrift” als „alt” eine Abwertung. Weil diese „Schrift” aber Bestandteil der christlichen Bibel ist, darf die Bezeichnung „Neues Testament” keine Abwertung eines „Alten Testaments” bedeuten, sondern kann allenfalls eine Beschreibung der zeitlichen Abfolge und des Zusammenhangs der beiden Sammlungen im Sinne von fortgehender Verheißung, Erfüllung und neuer Bekräftigung der Verheißung sein. Das Alte Testament ist das wichtigste Bindeglied zwischen Juden und Christen. Gott gibt sich in der “Schrift” Juden und Christen zu erkennen, und sie ist es, die von seinem Handeln in der Welt zeugt. Beide hören durch das Wort Gottes gegenwärtige, offenbarende Anrede.

Juden können sagen, dass der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs sich auch durch die christliche Verkündigung den Völkern bekannt gemacht hat. Christen bezeugen mit dem Neuen Testament, dass der Gott, der Jesus vom Tod auferweckt hat, der in der „Schrift” bezeugte Gott ist.

Wenn von Gesetz und Evangelium gesprochen wird, darf das nicht so verstanden werden, als sei das Gesetz mit der Hebräischen Bibel und das Evangelium mit dem Neuen Testament identisch.

Nach christlicher Sicht ist die Bibel eine untrennbare Einheit aus Altem und Neuen Testament, sie ist aus einem Guss.

„Das Neue Testament lässt sich nicht ohne das Alte verstehen. Es setzt dessen Aussagen über Gottes Wirken in der Schöpfung ständig voraus, die das Leben umgreifende Erfahrung des Segens, des Friedens und des Heils Gottes und die Anweisungen zum verantwortlichen Leben vor Gott”. 9

Allerdings lesen Juden und Christen die Schrift durch ihre eigene Brille. So ist für Christen Jesus von Nazareth der in der Schrift verheißene Messias, doch nicht so bei den Juden.

Eine der Thesen der Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden des Ausschusses „Christen und Juden” heißt: „Angesichts dieser Verschiedenheit im Verständnis der “Schrift” sind Juden und Christen herausgefordert, die „Schrift” g e m e i n s a m zu lesen. Da die Schrift ihren Ursprung in der Geschichte des jüdischen Volkes hat, in seinem Glauben, Denken und Tun, müssen die Christen neu lernen, auf die Stimme jüdischer Schriftauslegung zu hören. Sie tun gut daran auch im Interesse eines dringenderen Verständnisses des Neuen Testaments”.

2. Der Bund Gottes

Es ist bemerkenswert, dass erst nach der Erzählung der Sintflut im Alten Testament von dem Bund Gottes mit den Menschen die Rede ist. Der Regenbogen wird als Bundeszeichen zwischen Gott und der Erde gesetzt. Ein zweites Mal ist in Gen. 17,7 von dem Bund Gottes mit Abraham die Rede.

Wie wir sehen, ist hier schon mehr als nur ein Bund erwähnt.

Seit ihren Anfängen hat sich die christliche Gemeinde als die des „neuen” Bundes verstanden.

Mit dem „neuen Bund” beschlossen in Jesus Christus wurde der so genannte „alte” Bund überboten und abgelöst. Die Kirche sah in der Bundesgeschichte Israels lediglich die Vorbereitungszeit ihrer eigenen Existenz. Christlicher Ausschließlichkeitsanspruch wurde gegenüber dem Judentum geltend gemacht. Die christliche Kirche glaubte, an die Stelle des alttestamentlichen Israels getreten zu sein, für das kein Platz mehr blieb.

[...]

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Details

Titel
Das neue Verhältnis von Juden und Christen
Untertitel
Ein Beitrag zur Unterrichtseinheit im 5./6. Schuljahr
Hochschule
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Note
2,00
Autor
Jahr
1983
Seiten
43
Katalognummer
V149867
ISBN (eBook)
9783640614646
ISBN (Buch)
9783640615308
Dateigröße
589 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verhältnis, Juden, Christen, Beitrag, Unterrichtseinheit, Schuljahr
Arbeit zitieren
Konrad Hagendorn (Autor:in), 1983, Das neue Verhältnis von Juden und Christen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149867

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